"Make Love - ein Aufklärungsbuch"

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friederike
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"Make Love - ein Aufklärungsbuch"

Beitrag von friederike »

"Make Love - ein Aufklärungsbuch" von Ann-Marlene Henning, Tina Bremer-Olszewksi und Heji Shin
Verlag Rogner & Bernhard, Berlin 2012, 256 Seiten mit vielen Fotos

Das ist schon eine kleine Sensation: ein Aufklärungsbuch gewinnt den renommierten Jugendliteraturpreis 2013, der auf der Leipziger Buchmesse überreicht wird. Und dieses Buch hat es wirklich in sich. Mit diesem Literaturpreis wird eine Schneise geschlagen in die Festungsmauern der sexualfeindlichen "Moralität" - Bravo und Applaus für die Juroren!

Dieses Aufklärungsbuch verzichtet vollkommen auf das klebrige Gesulze vom "verantwortungsbewussten Umgang mit der Sexualität", "Sexualität als höchsten Ausdruck der Partnerschaft" und so weiter, das die Vorgänger dieses Buches immer wieder so belehrend und unangenehm zu lesen gemacht hat. Hier geht es geradeheraus und offen um das, was die jungen Menschen einzig und wirklich interessiert: Sex - wie geht das denn nun wirklich?

Gleich die ersten Seiten erledigen ein altes Tabu. Das Buch erklärt, wie man sich selbst befriedigt. Als Mädchen und als Junge. Dann geht es weiter und es werden viele Ratschläge und Fakten dargeboten, dass sogar noch erfahrene Profis davon profitieren können. Die Autorinnen wissen, dass Jugendliche heute sich in Pornos informieren, und geben sich Mühe, die vielen Falschheiten und Irrglauben richtigzustellen, die man aus solchen Machwerken mitnimmt. Sachkundig wird erklärt, wie man bläst, wie man leckt, wie man fickt - und alles das in einer schönen, zarten, niemals anstössigen Sprache. Die männlichen und weiblichen Körper werden erklärt, an keiner Stelle verschämt und verschwurbelt wie man es bisher immer wieder gefunden hat, sondern klar, immer verständlich und immer offen.

Anstelle der üblichen dämlichen Federzeichnungen findet man Fotos: die Fotografin Heji Shin hat auf der Strasse junge Paare zwischen achtzehn und Anfang zwanzig angesprochen und erstaunlich viele haben sich bereiterklärt, sich bei echtem Sex fotografieren zu lassen. Diese Fotos sind traumhaft schön geworden, natürlich, zart, anziehend. Die Akteure sind normale Jugendliche, keine Supermodels,doch ihre erotische Schönheit kommt vollkommen zum Ausdruck. Die Fotos zeigen, was die Jugendlichen sehen möchten: Schwänze, Muschis, Ständer, Penetration. Auch ein (männliches) homosexuelles Paar wird gezeigt (und das sieht durchaus schön und erotisch aus). In der Presse haben sich trotz der Beauté dieser Bilder gleich wieder Bedenkenträger gemeldet, ob es sich denn hier etwa um Pornografie handelt: pfui diesen Schmutzfinken, wie pervers darf man denn sein?!

Besonders hilfreich für die Jugendlichen sind sicherlich die Kapitel, in denen mit den vielen Vorurteilen aufgeräumt wird, mit denen die jungen Menschen unter (Leistungs-)Druck gesetzt werden. Schwanzlängen, Orgasmusperformance, und all dergleichen mehr. Das Buch versucht, den Einstieg in das neue Reich so angenehm und unproblematisch wie irgendmöglich zu machen. So ein Buch hätte man sich schon früher gewünscht.

Die Bühnenautorin Johanna Adorján hat es in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung im Literaturteil kürzlich besprochen, natürlich lobend. Sie fand es erotisierend - und das finde ich auch.

Zwei kleine Kritikpunkte gleichwohl: auf die Wichtigkeit der Kondome wird schon hingewiesen - etwas verschämt im Text. Aber alle Fotografien sind "ohne", kein Schwanz wird gummiert gezeigt, und auch das Aufziehen des Gummis wird nur mit Text beschrieben. Das ist eigentlich nicht mehr angemessen.

Prostitution kommt nur ganz kurz auf Seite 242 vor. Gewiss kann man in einem solchen Buch, wenn es nicht gleich im Shitstorm der Moralischen und Gerechten untergehen will, keine Empfehlung zugunsten der Prostitution auf welcher Seite auch immer erwarten. Aber hier wird ausnahmsweise einmal herumgeschwurbelt, das widerliche schwedische Modell zitiert - aber immerhin auch auf selbstbestimmte Prostituierte hingewiesen, die ihren Beruf gerne ausüben, um dann mit so etwas Verbogenem zu enden "... bleibt es ein schwieriges Thema". Das freilich hätte das Vorgängerwerk in der Adenauerzeit auch schon fertiggebracht.

Insgesamt also: ein wirklich erfreuliches und erfrischendes Buchereignis, das hoffentlich dazu beiträgt, dass die jungen Menschen einen guten Einstieg in eine freie und offene Sexualität finden. Bei den Autorinnen möchte man sich sehr herzlich bedanken und zum Literaturpreis gratulieren - man möchte sich fragen, ob ein solches Buch nicht auch einmal über die Prostitution geschrieben werden könnte.

Liebe Grüsse,
Friederike

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RE: "Make Love - ein Aufklärungsbuch"

Beitrag von ehemaliger_User »

Ann-Marlene und Tina Bremer-Olszewki im Interview:

[youtube][/youtube]

Auch "fluter", das Magazin der Bundeszentrale für politische Bildung, hatte letztes Jahr ausführlich über das Werk berichtet.

9. Auflage
Euro 22, 95
ISBN 978-3-95403-002-6
Rogner und Bernhard
Spiegel Online

Übrigens: Laut "Weltbild"-Verlag ist das Buch nichts für anständige Katholiken...
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lust4fun
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RE: "Make Love - ein Aufklärungsbuch"

Beitrag von lust4fun »

Herzlichen Dank, friederike, für diese Buchvorstellung! Deine Anmerkungen und deine Gesichtspunkte sind spannend!

Was es auch interessant macht, ist die Frage, für wen das Buch geschrieben ist - und was das über unsere Gesellschaft sagt:

"Unser Buch ist für Jugendliche geschrieben, die anfangen Sex zu haben."

"Wer ist nun der Adressat dieses 'Retro-Aufklärungsbuches'? Jugendliche nicht! Der Weltbild-Verlag hat schon darauf geantwortet: Anständige Katholiken auch nicht."

"Make Love ist ein Buch, das sowohl im Schlafzimmer als auch in der Schule seinen Platz finden kann. Ein Buch, das zwar für Jugendliche konzipiert ist, aber von dem auch Erwachsene noch jede Menge lernen können."

"Aufklärungswerke versprühen normalerweise den Charme von Wartezimmern und muffigen Klassenräumen. Make Love dagegen ist sexy. Es redet nicht über Euch, sondern mit Euch. So, als würdet Ihr Euch bei der großen Schwester oder dem erfahreneren Kumpel Tipps holen."

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Re: RE: "Make Love - ein Aufklärungsbuch"

Beitrag von friederike »

@lust4fun,

danke - woher stammen Deine Zitate? Vor allem dieses hier:         
Bild
lust4fun hat geschrieben:"Wer ist nun der Adressat dieses 'Retro-Aufklärungsbuches'? Jugendliche nicht!"
Die Aussage verstehe ich einfach nicht. Wer empfindet ein solches Buch als "retro"? Und natürlich wendet es sich an Jugendliche, wieso nicht?
lust4fun hat geschrieben:"Make Love dagegen ist sexy. Es redet nicht über Euch, sondern mit Euch. So, als würdet Ihr Euch bei der großen Schwester oder dem erfahreneren Kumpel Tipps holen."
Eine so kenntnisreiche und erfahrene "große Schwester" gibt es gar nicht!

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Beitrag von lust4fun »


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friederike
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RE: "Make Love - ein Aufklärungsbuch"

Beitrag von friederike »

Vielen Dank für diesen Link!

Absolut aufschlussreich! Die Rezensentin der Süddeutschen Zeitung heisst Roswitha Budeus-Budde - und sie ist offensichtlich eine dieser Feminismus-Produkte der 80er und 90er Jahre, für die eine freie und offene Sexualität ganz einfach "Retro" ist. Dergleichen erinnert sie an die "Kommune 1" - hinter diese Zeiten möchte sie gerne zurück, zurück zur Adenauer-Ära!

Freilich hat sie offenbar ein anderes Buch gelesen, oder vielleicht auch eine andere Ausgabe. Einen "Gummibaum" habe ich in dem Buch nicht abgebildet gefunden, nur auf einem Foto ist im Hintergrund auf einem Regal ein kleines Gewächs zu sehen. Keines der Fotos ist mit einem Weichzeichner gemacht. Es werden auch keine künstlich-jugendlichen Dialoge eingestreut, genauer: es werden überhaupt keine Dialoge eingeschoben, sondern das ganze ist ein durchgängiger Text. Man ist zunächst erstaunt, aber dann: von diesen tantenhaften VertreterInnen des Prä- und Post-Sexualitätszeitalters sind wir es nicht anders gewohnt, als dass man über Bücher schreibt, die man nicht gelesen hat, und über Statistiken referiert, die man sich von Gleichgesinnten hat fälschen lassen.

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Beitrag von ehemaliger_User »

Das Buch gehört als Lehrbuch in den Sexualkundeunterricht.

Es erschreckt mich immer wieder, wenn ich Gespräche Jugendlicher mitkriege, die meinen, Sex müsste so wie in Pornos ablaufen.
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Beitrag von Snickerman »

Das Buch sollte man wirklich in den Schulen verteilen.
Aber ich höre dann schon die Interessenvertreter der großen Kirchen zusammen mit den orthodoxen Feministinnen aufheulen.

Das einzige "Manko"- ein Buch, das sich an Heranwachsende richtet, darf diese nicht abbilden, sondern muss -junge- Erwachsene nehmen,
da dank der Strafverschärfungen sofort der Staatsanwalt auf der Türschwelle stehen würde...
Ich höre das Gras schon wachsen,
in das wir beißen werden!