How Societies Change

Buchtips für Sexworker oder von Sexworkern
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nicole6
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How Societies Change

Beitrag von nicole6 »

How Societies Change,
Von Daniel Chirot, Pine Forge press, New York, 1994, 138 Seiten.

Dieses Buch ist auch so ein Fall, wo ich mir überlegte, ob ich es hier im Forum
vorstellen soll. Ich bin gerade damit fertig. Während ich es las, kam in den
Diskussionen hier im Forum in unterschiedlichen Themenbereichen die Frage auf,
wie es geschehen kann, dass die heutige Gesellschaft sich so ändert,
dass Sexarbeit ein "normaler" Beruf wird, wie die anderen auch, und dass
der schizophrene Sonderstatus, nicht ganz legal, aber auch nicht illegal,
aufgehoben wird (Sexarbeit = nicht sittenwidrig, aber auch kein Gewerbe).

Modelle für Änderungen in Gesellschaften gibt es einige, auch mathematische,
die sehr gute Vorhersagen erlauben, wie z.B. die Katastrophentheorie von René Thom.
( http://de.wikipedia.org/wiki/Ren%C3%A9_Thom ).
http://de.wikipedia.org/wiki/Katastroph ... athematik)
Das Buch von Steven Pinker über die Geschichte der Gewalt stellte ich hier schon vor.
Auch er zeigte auf Indikatoren die zu positiven Ergebnissen führen können.

Daniel Chirot ist Professor an der University of Washington.
Sein Buch ist an Studenten der Soziologie und Politikwissenschaften
gerichtet. Das macht es auch für "normale Leser" lesenswert, falls sie sich für das
Thema interessieren, und mit Englisch kein Problem haben. Die Aussagen sind
ausgiebig recherchiert, und mit vielen Quellenangabe versehen.

Chirot beginnt bei seiner Analyse mit dem Beginn des Patriarchats, also vor etwa 5000 Jahren.
Er behandelt nicht nur die Geschichte der westlichen Welt, wie es oft geschieht,
sondern schließt gleichwertig die Geschichte Asiens, Afrikas, und Südamerikas mit ein.

Kurz zusammen gefasst ist sein Modell folgendes:
Alles ändert sich dauernd, die Natur, wie auch die Menschen, und mit ihnen die Gesellschaft.
Die Ergebnisse der Änderungen sind prinzipiell unvorhersagbar, ansonsten wäre es ja
kein neuer Zustand! Um auf den neuen Zustand reagieren zu können, braucht es
Lösungsansätze, welche bis zu dem Zeitpunkt nicht verwendet wurden.
Die Wahrscheinlichkeit, dass man eine Lösung für das neu entstandene Problem findet,
steigt damit, wenn es viele Lösungsangebote dazu gibt.

Nimmt man als Modellbeispiel zwei Gesellschaften, A und B.
A erlaubt z.B. 10 Variationen des Soziallebens, B erlaubt 100 Variationen.
Somit hat die Gesellschaft B eine höhere Wahrscheinlichkeit aus der Problemsituation
herauszukommen, als A, denn B kann aus einem größeren Fundus an Handlungsinitiativen
auswählen.

Die Geschichte gibt dazu zahlreiche Beweise her. Repressive Gesellschaften
zerfallen immer bei Naturkatastrophen, oder durch den vom Machblock erzeugten
Mangelzustand der ausgebeuteten Massen. In solchen Gesellschaften unterbindet
der Machtblock (Kirche, Militär, Industriebosse, Diktatoren) die Varianz an
Lebensentwürfen, und an freier Phantasieentfaltung, denn diese Ausdrucksformen
würden die Basis ihres Machtmissbrauches erodieren.

Es lässt sich leicht an historischen Beispielen nachweisen, dass in Krisensituationen
die Lösungsansätze IMMER von Randgruppen kamen, welche schon Erfahrungen
in dem Gebiet hatten, wo der Lösungsansatz zu finden ist.
Chirot nennt dazu einige Dutzend Beispiele aus der Geschichte.

Es kommt nicht bei allen Gesellschaften zu einem Zusammenbruch in Krisensituationen.
Diese Kulturen zeichnen sich gerade dadurch aus, dass sie die wesentlich offener
und toleranter zu Variationen im Sozialleben sind, Phantasie fördern und auch belohnen,
und somit durch ein größeres Angebot an Lösungsmöglichkeiten eine höhere
Wahrscheinlichkeit haben, darunter ein Modell zu finden, das funktioniert.
Chirot nimmt dazu häufig als Beispiel den Vergleich von China und Europa, da sich
hier seine Aussagen leicht nachvollziehen können.

Auch heute ist es noch so, dass die Bevölkerung in China wesentlich größer ist
als die Europas, doch kommen neue Ideen nicht von China, die sind nur gut im kopieren!

(eigene Bemerkung: Das liegt am dortigen Schulsystem. Bei meinen China-Aufenthalten
konnte ich sehr offen mit Jugendlichen reden. Sie beklagten sich, dass sie in
der Schule nur auswendig lernen müssen, eigene Initiativen und Ideen werden bestraft!
So haben sie es dann später schwer, sich für Studien im Ausland zu bewerben, wo
selbstständiges Handeln gefragt ist! Eine 22-jährige Kunststudentin, die mir bei der
Herstellung von Bronze-Skulpturen half, was sehr erstaunt, als ich ihr einen Winkelschleifer
in die Hand gab, mit der Aufgabe, das Urmodell zu schleifen. In der Akademie war ihr das
verboten worden. Zum einen, weil sie eine Frau war, zum anderen, weil das für Studenten sowieso zu gefährlich sei)

Ilya Prigoine bekam 1977 den Nobelpreis in Chemie für ein Modell aus der Chaostheorie,
in der er das Verhalten von instabilen nichtlinearen Systemen beschreibt.
Chirot nennt in seinem Buch nie dieses Modell, aber seine Schlußfolgerungen
sind mit dem Modell von Prigogine identisch:
in Krisensituationen (Bifurkationspunkt) kann eine sehr kleine Gruppe darüber entscheiden,
in welche Richtung das gesamte System geht. Das kann sich positiv auswirken,
oder auch negativ. Wenn diese kleine Gruppe die Wahlmöglichkeiten dabei
einschränkt, so gibt es sehr bald danach wieder ein Katastrophe, und dann wird
sie größer als die vorhergehende.

Beispiel: die Unterdrückung der 1848er-Revolutuion, und der nachfolgende 1. Weltkrieg.
Ein anderes Beispiel erleben wir jetzt in Ägypten,
da versuchte die Gruppe der radikalen Muslime die Wahlmöglichkeiten der Bevölkerung
drastisch einzuschränken. Wie das ausgeht, ist noch offen.
Ein anderes Beispiel ist die Kolonialpolitik Israels gegenüber den Palästinensern.

Für uns SexarbeiterInnen besagt das, dass wir uns bewusst sein sollten, dass
wir eine gültige und wertvolle Funktion in der Gesellschaft leben, und für zukünftige
Sozialmodelle ein Beispiel werden. Die Aufhebung der Sittenwidrigkeit der Sexarbeit
deckt sich mit der wirtschaftlichen Machtposition, welches Deutschland heute
nicht nur in Europa, sondern auch in der Welt hat. Die erlaubte Erweiterung an
Lebensmodellen und die Förderung der Kultur und Phantasie, bringt auch mehr
Lösungen für technische und wirtschaftliche Probleme hervor!
Durch das Buch von Daniel Chirot ist mir der Zusammenhang viel klarer geworden.

Nicole

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RE: How Societies Change

Beitrag von friederike »

Sehr interessantes Buch!

Die Katastrophentheorie (ich verstehe nicht allzu viel davon) müsste ja geeignet sein, den Umsturz von politischen Systemen zu beschreiben. Es sind ja "Katastrophen" im Sinne der mathematischen Definition.

Eine sehr gute literarische Betrachtung zu diesem Thema ist das Buch "Das Fest des Ziegenbocks" von Mario Vargas Llosa (Nobelpreisträger). Vargas Llosa, der Peruaner ist, beschreibt das lateinamerikanische Phänomen der Diktatur am Beispiel der Diktatur von Rafael Trujillo in der Dominikanischen Republik. Er geht der Ursache der erstaunlichen Stabilität solcher Systeme nach - die Diktatur Trujillo ist nicht einmal nach dem Attentat auf den Generalissimus zusammengebrochen!

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nicole6
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Beitrag von nicole6 »

cara Friederike,
"....Die Katastrophentheorie (ich verstehe nicht allzu viel davon)
müsste ja geeignet sein, den Umsturz von politischen Systemen
zu beschreiben. Es sind ja "Katastrophen" im Sinne der
mathematischen Definition...."
Stimmt genau!
Und dazu wird sie ja auch verwendet!
Es ist eine der sehr wenigen Theorien aus der Mathematik
welche für Sozialwissenschaften verwendbar ist.
Man muss die mathematischen Beweisführung nicht verstehen,
um das Modell zu verstehen!

Wenn es dich interessiert, eine gute Einführung in die Materie gibt das folgende Buch:
Peter Timothy Saunders: Katastrophentheorie. Eine Einführung für Naturwissenschaftler.
Vieweg Verlag, 1986, 201 Seiten.
Aber das Buch ist nur für "wissenschaftlich Vorbelastete" geeignet.

Für Nicht-Wissenschaftler rate ich eher das Buch von Michael Thompson:
Die Theorie des Abfalls, Klett, Cotta, 1981, 322 Seiten.
Der Titel erscheint etwas seltsam, es ist aber ein sehr humorvoll
geschriebenes Buch, das einen sonst ignorierten Teil
gesellschaftlicher Zyklen beschreibt und erklärt.

Aber wenn es hier jemanden interessiert, kann ich kurz
die Theorie und ihre Funktion erklären.

Nicole

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Beitrag von friederike »

Vielen Dank für die Hinweise!

Die Theorie würde mich natürlich schon interessieren, und Du kannst ja gut erklären ...

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Beitrag von ehemaliger_User »

Nicole, ich bin gespannt auf Deine Erklärung!
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Beitrag von nicole6 »

ich bin die folgenden Tage bei einem Granit-Symposium.
Abends habe ich Zeit die Erklärung zusammen zu basteln.
Ich habe die Theorie schon öfters bei wissenschaftlichen
Konferenzen benutzt, und wenn es die Wissenschaftler
verstanden haben, dann werdet ihr es erst recht !
(Das meine ich ernst!)
Ich hoffe nur, dass es dort ein Internetcafé geben wird!

Nicole