Craig Thompsons Graphic Novel "Habibi"

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Craig Thompsons Graphic Novel "Habibi"

Beitrag von ehemaliger_User »

Craig Thompson
Ein Märchen vom harschen Alltag Arabiens

Craig Thompsons Graphic Novel "Habibi" wirkt wie aus Tausendundeiner Nacht. Doch hinter den orientalischen Mustern verbirgt sich eine schonungslose Erzählung.

Während der siebenjährigen Arbeitszeit, die Craig Thompson in sein neues Werk investierte, florierte das Geschäft mit Graphic Novels. Comics eroberten neben der Literatur ihren Platz in den Regalen der Buchhandlungen. Ein Erfolg, zu dem nicht zuletzt Blankets, Thompsons preisgekröntes Coming-of-Age-Comic, beigetragen hatte. Mit seiner neuen Graphic Novel ist ihm eine kleine Sensation gelungen: Habibi wird am 20. September 2011 zeitgleich auf Englisch, Französisch und auch auf Deutsch erscheinen. Thompsons grafische Reise geht diesmal nicht in die eigene, christlich geprägte Vergangenheit, sondern in die arabische Gegenwart, in die Welt des Islam.

Golden umranken die Verzierungen des opulenten Covers die beiden Helden der Geschichte, die Waisenkinder Dodola und Zam. Die Liebesgeschichte der beiden entspringt aus zwei kleinen Quellen. Thompson führt ihre Abenteuer zu einem Strom zusammen, dem ständig die Gefahr droht, zu versickern. Doch immer wenn eine Episode endet, beginnt der Fluss der Erzählung an anderer Stelle von Neuem. Gleich den Geschichten aus Tausendundeiner Nacht verbindet Thompson so die einzelnen Episoden rhapsodisch miteinander, zu einer grafischen Odyssee durch den Orient.

Gleich zu Beginn wird die neunjährige Dodola von ihrem wesentlich älteren Ehemann in die Kunst der arabischen Schriftzeichen eingeführt. Jeder Strich, jede einzelne Bewegung des Pinsels gewinnt an Bedeutung, die sich mit ihrer eigenen gestalterischen Form verbindet: Beginnend mit der Eröffnungsformel jeder Sure, der Basmala, fängt auch Dodolas Zeichenlehre an. Aus dem halbkreisförmigen Strich mit einem Punkt darunter wird ein Kreis, wird das Haus Gottes, wird ein Vogel, wird die Geschichte selbst. Thompson verliert sich aber nicht in der Kalligraphie, sondern lässt die Basmala zu einem Teil der Geschichte werden, indem er sie durch Dodola später als Schutzformel an Zam weitergeben lässt.

Steht die junge Dodola einmal nicht im Zentrum der Handlung, so ist sie es, die die nächste Geschichte anstimmt. Ihrem Duktus passt Thompson das Layout an: Wenn Dodola auf einem Bild Arabesken auskotzt, so umrahmen die Muster alle nachfolgenden Bilder ihrer Anekdote. Stimmung evoziert Thompson durch ein Wechselspiel aus schwungvollen Pinselstrichen, dynamischen Schraffuren und der großzügigen Seitengestaltung. Während er den Orient durch Palmen, Dünen und den Harem einfängt, greift Thompson für die Darstellung des urbanen Lebens auf die Arbeit eines Großmeister zurück: Will Eisners Einflüsse sind sowohl in den Wolkenkratzern wie auch im Alltagsleben der Slums deutlich erkennbar.

Wie die feinen Linien der Arabesken überschneiden sich auch die Lebenswege von Dodola und dem neun Jahre jüngeren Zam, den sie aus der Sklaverei rettet. Neun Jahre lang leben die beiden gemeinsam auf einem verlassenen Boot mitten in der Wüste. Ihre Leben verlaufen eng verschlungen nebeneinander her. So eng, dass die Bezeichnung "Habibi" - Arabisch für "mein Geliebter" - beide Geschlechter ein- und Sexualität nicht ausschließt. Die körperliche Vertrautheit wird auf die Probe gestellt, als die beiden zu Mann und Frau heranwachsen. Thompson breitet seine Geschichte zwar auf über 650 Seiten aus, gesteht seinen Protagonisten aber nur zehn Seiten zu, um erwachsen zu werden. Doch bevor sie ihre Gefühle für den anderen auch physisch ergründen können, wird Dodola entführt und in einen Harem geschafft. Erst aus dieser Trennung, der Sehnsucht und dem Wiederaufeinandertreffen der Linien, von Zam und Dodola, zieht die Geschichte ihre Spannung.

Der Comic hat viel mit Tausendundeiner Nacht gemeinsam

Während Thompson die Arabeske in Blankets nur nutzte, um die Gefühle der beiden Liebenden zu symbolisieren, führen ihre Windungen in Habibi unweigerlich zur harschen Realität des Alltags. Zam und der Leser erfahren, dass das Überleben auf dem Boot nur möglich war, weil Dodola neun Jahre lang ihren Körper gegen die Nahrungsmittel an vorbeiziehende Karawanen verkauft hat. In einem Interview berichtete Thompson bereits vor sieben Jahren, dass er sich für sein neuestes Werk mit "kontroversen Themen wie Vergewaltigung, Inzest und Kastration" beschäftigen werde. Schonungslos porträtiert er eine Welt, die sich nicht um die Gefühle der Menschen kümmert. Trost spendet in Habibi nur das Erzählen von Geschichten, die zumeist dem Koran oder der Bibel entliehen sind.

Material für Habibi sammelte Thompsons bereits in Form eines Skizzenbuches, Tagebuch einer Reise. Auf seinen Reisen wollte der christlich erzogene Thompson mehr über den Islam erfahren. Wer nun aber den fremden Glauben für die aufkommende Brutalität in der Handlung verantwortlich machen möchte, irrt: Thompson stellt den Islam gleichberechtigt neben das Christentum und zeigt, dass beide Religionen gleichermaßen Hoffnung spenden: Wie Dodola und Zam, stellt Thompson Ismael (Sure 37.102) und Isaak (Genesis 22.7) gemeinsam dar. Stellvertretend für die beiden Religionen pilgern sie von unterschiedlichen Ecken der Comicseite einer Opferstätte entgegen, an der ein einzelner Abraham darauf wartet, einen der Söhne zu opfern. Immer wieder verzweigen sich Prophezeiungen, biblische Erzählungen und Handlung, ergänzen sich und sorgen dafür, dass die Geschichte nicht endet. Die Frage nach dem Opfer, der Entscheidung für eine der beiden Religionen, wird am Ende belanglos.

Habibi hat viel mehr mit den Geschichten aus Tausendundeiner Nacht gemein hat als auf den ersten Blick vermuten lässt. Sowohl die mächtigen Djinnis als auch die bezaubernden Haremsdamen finden wir in beiden wieder. Das alles mag zwar sehr romantisch anmuten, doch kämpft auch Scheherazade beim Erzählen jeder neuen Geschichte, wie Dodola, um ihr blankes Überleben. Am Ende der arabischen Nächte hat Scheherazade ihrem König drei Kinder geboren und ihr Leben gerettet. Auch Habibi endet nicht einfach nach 656 Seiten, sondern schließt den Kreis und beginnt wieder von Neuem. Oder wie Dodola sagt: "Habibi. Du bist so viel mehr als eine Geschichte."
Zeit online 20.09.2011

Craig Thompson: Habibi

Aus dem Amerikanischen von Stefan Prehn
Reprodukt, Berlin 2011; 672 S., 39 €
ISBN 978-3-941099-50-0
http://www.reprodukt.com/product_info.p ... cts_id=418

http://videos.arte.tv/de/videos/_habibi ... 29732.html

http://www.tagesspiegel.de/kultur/comic ... 23088.html

Weitere Eindrücke (mit viel Bildern)
http://www.crackajack.de/2011/09/20/cra ... 93-review/
Auf Wunsch des Users umgenannter Account