Zertifikat

Abgesehen vom Fehlen der nötigen Hilfsinstitutionen für Sexworker findet hier auch alles Platz, was ihr an bestehenden Einrichtungen auszusetzen habt oder loben wollt
Rahelno
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Zertifikat

Beitrag von Rahelno »

Hallo zusammen,

nachdem ich mir viele Beiträge durchgelesen habe (nicht alle) und auch länger in den Weiten des Netzes und hier gesucht habe will ich hier einmal meine Idee vorstellen / Frage stellen. Ich habe mir unter anderem natürlich auch die Diplomarbeit von Birgit Deutsch durchgelesen.

Immer wieder werden Probleme mit unterschiedlichen Vermittlern, Arbeitsplätzen etc. genannt. Das scheint ein großes Problem zu sein. Auch wenn hier im Forum sicherlich die eine oder andere Warnung vor einer Agentur / Etablissement etc. ausgesprochen wird so ist das doch meiner Ansicht nach noch viel zu wenig.

Das hat mich auf die Idee gabracht mich zu fragen wie es denn wäre wenn man gerade für Vermittler (welcher Art auch immer) oder Etablissements eine Art Überprüfung einführen würde die sowohl die Arbeitsbedingungen als auch die finanziellen Modalitäten und anderes nach bestimmten Kriterien untersucht und im Erfolgsfall eine Art Zertifikat ausstellt nach dem sich Sexarbeiter richten können.

Mit solche einem Zertifikat sehe ich natürlich gewisse Faktoren verbunden die für seinen Erfolg entscheidend sind bzw. dabei berücksichtigt werden müssten:

Ein Zertifikat ist nur so gut wie die Prüfung dahinter
Die Prüfkriterien, die Häufigkeit und Genauigkeit der Prüfung etc. müssen natürlich im Detail ausgearbeitet werden und evtl. immer wieder neuen Entwicklungen angepasst werden. Denn nur dann wenn die Prüfungen alle wesentlichen Bereiche umfassen hat das Zertifikat auch eine Aussagekraft.

Ein Zertifikat ist nur so glaubwürdig wie die Stelle die es ausstellt
Wer auch immer dieses Zertifikat ausstellen würde (und natürlich prüfen würde) müsste entweder glaubhaft unabhängig und seriös sein oder den Sexarbeitern nahe stehen. Leider scheint es hier nach meinem Kenntnisstand keine Gewerkschaft oder ähnliches zu geben die solch eine Funktion übernehmen könnte. Vorstellbar wäre es natürlich auch einen existierenden Verein damit zu betrauen oder neu zu gründen. Auf jeden Fall müsste die ausstellende & prüfende Organisation grundsätzlich frei von jedweden finanziellen Absichten sein - nur eine Grundlage für eine objektive Durchführung der Bewertung.

Ein Zertifikat entfaltet nur dann wirkung wenn es weit verbreitet ist
Ein Zertifikat macht nur dann Sinn wenn es weit verbreitet oder am Besten ein Quasi-Standard ist. Denn wenn nur einer von 100 Betrieben es hat kann ich bei den anderen 99 nicht zwangsläufig davon ausgehen das sie die Kriterien nicht erfüllen würden.
Warum aber sollte sich ein Betreiber / Arbeitgeber zertifizieren lassen? Dazu die nächsten zwei Punkte.

Warum Zertifizieren: Sexarbeiter
Naiv wie ich bin behaupte ich einfach einmal das sich die Sexarbeit in einigen Punkten nicht allzusehr von anderen Bereichen unterscheiden dürfte. Es gibt eben gute und weniger gute Mitarbeiter bzw. Mieter usw. Wer also als Betreiber / Arbeitgeber gute Partner / Mitarbeiter haben will der würde von einem solchen Zertifikat profitieren da er zeigt das er ein fairer und guter Partner ist und es daher erleichtert wird gute Mitarbeiter zu finden - die natürlich als erste auf ein solches Zertifikat achten.

Warum Zertifizieren: Kunden
An dieser Stelle kann man die Kunden nicht ausser Acht lassen denn sie können, wenn ein Bewusstsein dafür besteht, einen enormen Druck auf Betreiber / Arbeitgeber ausüben. Um diesen Punkt zu erklären nehme ich einmal mich selbst als Beispiel, auch wenn ich mir sicher bin das es vielen anderen gleich geht. Meine Egomanie ist nicht groß genug das es mir egal wäre durch die Inanspruchnahme der Dienstleistung eines SW unterdrückung, Ausbeutung oder auch nur ein unfaires System zu fördern. Konkret ist das sogar einer von mehreren Punkten die mich bisher meist davon abhalten. Ich denke gerade in diesem Gewerbe spielt es eine sehr große Rolle. Gäbe es also ein Zertifikat auf das ich mich auch als Kunde verlassen könnte würde die Entscheidung wohl eher für ein zertifiziertes als ein unzertifiziertes Haus (Appartment, Bordell .. .was auch immer) fallen.

Stellung in der Gesellschaft
Über die Jahre habe ich die Entwicklung der Sexarbeit immer wieder mit großem Interesse wahrgenommen. Vor allem alle Maßnahmen / Bestrebungen diese aus dem Graubereich herauszuholen und die Bedingungen für die SWs weiter zu verbessern. Dazu gehört neben der Anerkennung als "normalem" Beruf mit Krankenkasse, Rentenversicherung, Sozialleistungen, Gesundheitsversorgung etc. auch die steuerliche und gewerbliche Seite. Hier hat sich einiges getan. Aber ich denke das eine solche Zertifizierung auch hier einen sehr großen Beitrag leisten könnte um dem (teilweise wohl sehr berechtigten) schlechten Ruf entgegenzutreten und damit in der Folge auch die in dem Bereich beschäftigten Frauen und Männer gesellschaftlich eher die Anerkennung erhalten würden die sie verdienen.



Mir würde noch viel mehr dazu einfallen aber jetzt lasse ich es erst einmal gut sein und warte darauf was man mir dazu sagt. Vielleicht habe ich ja auch einiges übersehen / falsch gesehen und werde gleich gesteinigt :-)

Rahelno

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RE: Zertifikat

Beitrag von Aoife »

Hallo Rahelno,

schau mal hier: viewtopic.php?p=19296#19296

Liebe Grüße, Aoife
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Re: Zertifikat

Beitrag von fraences »

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Rahelno hat geschrieben:Hallo zusammen,

Ein Zertifikat ist nur so gut wie die Prüfung dahinter
Die Prüfkriterien, die Häufigkeit und Genauigkeit der Prüfung etc. müssen natürlich im Detail ausgearbeitet werden und evtl. immer wieder neuen Entwicklungen angepasst werden. Denn nur dann wenn die Prüfungen alle wesentlichen Bereiche umfassen hat das Zertifikat auch eine Aussagekraft.
Es ist nicht so einfach ein Katalog der Prüfkriterien die von allen drei Gruppen (Sexworker-Betreiber-Kunden) übereinstimmend angenommen werden.

Hier die Aufstellung , die ich erfasst habe:
1. Sexuelle Selbstbestimmung (Gesetzlich vorgeschrieben in der Praxis oft von Betreiber misachtet)
2. Gesundheitsaufklärung und Hygienstandards
(statt Kondomplicht Aushang in über Verantwortungsbewusste Sexarbeit)
3. Arbeitsbedingungen (Arbeitszeit, Verhaltensregeln; Recht ein Gast abzulehnen etc.)
4. Faires Management
5. Einhaltung behördliche Auflagen
6. Räumlichkeiten (sowie das Gaststättengenehmigungsverfahren; Aufenthaltsraum, Übernachtungszimmer für Terminfrauen, separates Bad für Gäste und SW etc.)
7. Transparentes Abrechnungssystem (Miete, Nebenkosten, Fahrgeld, prozentuales Abrechnen, Rechnungen, Quittungen, Kostenbeteiligung Fotos, Werbung, Putzgeld etc.)
8. Aufklärung steuerliche Handhabung (Gewerbeanmeldung, Düsseldorfer Verfahren, Quittung einbehaltene Steuer und Nachweis der Weiterleitung ans FA, Vergnügungssteuer etc.)
9. Sicherheit (Alarm, Covering, Videoüberwachung (Ausgangsbereich, Tür), Notfallplan etc.)
10. Mitspracherecht (Werbung (Text, Foto, Wo geworben wird) etc.)
11. Einführungsgespräch für Neueinsteigerinnen (Casting, Schulung, Tipps etc.)
Hierbei hab ich noch lange nicht alles detailliert erfasst.


Warum Zertifizieren: Sexarbeiter
Naiv wie ich bin behaupte ich einfach einmal, dass sich die Sexarbeit in einigen Punkten nicht allzu sehr von anderen Bereichen unterscheiden dürfte.
Wir kämpfen schon Jahrzehnte für die rechtliche Gleichstellung, doch glaube ich, dass Sexarbeit nicht gleichzusetzen ist mit normaler gesellschaftlich anerkannten Arbeit.
Allein dass man in anderen Berufen eine Ausbildung bekommt und dann eine Prüfung ablegt.
Angebote dass Sexworker die neueinsteigen geschult werden gibt es nicht. Das müssen wir uns selbst hart erarbeiten.
Glück hat man, wenn ein erfahrene Kollegin oder Chefin einen bei der Hand nimmt und einen in der Anfangszeit begleitert.
Wie sollte eine praktische Prüfung für Sexworker aussehen?

Dass Du Dir hierüber Gedanken machst finde ich übrigens sehr lobenswert.
Seit Jahren wird über ein Gütesiegel diskutiert, nur ist bisher noch kein Konsens gefunden und wg. anderen wichtigen Angelegenheit in ein Hintertreffen geraten.
Momentan kämpfen wir gegen die zunehmende Reglementierung, Kasernierung und
Genehmigungspflicht für Bordelle und vieles mehr.

Der Weg wäre erstmal eine Selbstverpflichtungserklärung von Betreibern anzuerkennen für Kriterien, die für Sexworker ein menschenwürdige Arbeitsklima schaffen.

Das ist nur ein kurze Anmerkung zu diesem sehr weit gefächerten Thema.

Gruss
Fraences
Wer glaubt ein Christ zu sein, weil er die Kirche besucht, irrt sich.Man wird ja auch kein Auto, wenn man in eine Garage geht. (Albert Schweitzer)

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