Ich muss das Thema noch einmal kurz hochholen. Ich beschäftige mich ja schon seit längerem mit virtueller "Vergemeinschaftung" und Forenkommunikation.
In diesem Zusammenhang habe ich ein interessantes Interview zwischen Falk Richter und Eva Illouz gefunden, daß die Dramaturgie von Internet-Dating m.E. generell kennzeichnet. Vertrauen, Misstrauen.........
langer Text, aber mit viel nachdenkenswertem Inhalt, wie ich finde, der über "Freier-Foren" weit hinausgeht, aber seine Strukturen lesbar macht.
"Falk Richter, Autor von UNTER EIS, TRUST und PROTECT ME spricht mit der israelischen Soziologin Eva Illouz über Identitäten und Beziehungen in Online Foren, Wut und Wutmanagement und Widerstand: " Die Technik, über seine Gefühle zu sprechen, ohne dabei diese Gefühle zu empfinden, wird in den Therapien trainiert. Man löst sich also von seinen Gefühlen, man bearbeitet sie. Und das Ideal einer reifen Psyche, das sich überall durchgesetzt hat, kennt eben keine Wut, sondern kennt nur den Menschen, der seine Wut zu jeder Zeit vollständig unter Kontrolle hat. Die Kontrolle über seine Gefühle zu verlieren, wird als unreifes, kindliches Verhalten angesehen und hat dazu geführt, dass Wut in unserer Gesellschaft als völlig unangemessen gilt."
MISSTRAUEN UND WUT
Ein Gespräch zwischen Falk Richter und Eva Illouz
Falk Richter: Ich würde mit Ihnen gerne über Vertrauen in modernen Beziehungen sprechen. Beziehungen, die über Internetportale vermittelt werden. Zunächst einmal werden die Leute ja aufgefordert, sich dort selbst sehr detailliert und formalisiert zu beschreiben, man muss sich selbst, seinen Körper, seine Persönlichkeit, aber auch seine Wünsche, sein Begehren in Einzelteile zerlegen und genau kategorisieren. Man muss sich also erst einmal von außen betrachten, bewerten, beschreiben mit Hilfe formalisierter Bewertungsbögen. Man wird angehalten, sich möglichst so vorteilhaft zu präsentieren, dass man auch schnell Interessenten findet. Dabei tritt man in Konkurrenz mit sehr vielen anderen Nutzern. Gleichzeitig werden einem aber auch unermesslich viele mögliche Partner angeboten. Um erfolgreich zu sein, muss man sich nun gut verkaufen auf einem recht aggressiven Markt und man muss überhaupt erst einmal in der Flut der Optionen eine Entscheidung treffen können, wen man eigentlich live treffen will. Leute, die sich in Internetdatingforen begeben, manipulieren oftmals ihre Profile. Sie nutzen dieselben Techniken, die auch in der Werbung genutzt werden, um ein Produkt anzupreisen. Haben denn diese Leute eigentlich Vertrauen in die Echtheit der anderen Profile, die ihnen da im virtuellen Raum begegnen?
Eva Illouz: Nein, überhaupt nicht. Die Grundannahme eines jeden Nutzers ist, dass man den Profilen nicht vertrauen kann. Die meisten Nutzer machen falsche Angaben zu ihrem Alter, ihrem Einkommen, und sie stellen manipulierte oder komplett falsche Fotos von sich ins Profil. Das heißt, man kann davon ausgehen, dass niemand sich beim Online Dating vertraut. Einige Sites versuchen bereits, auf dieses Misstrauen zu reagieren und fordern die Nutzer auf, keine Angaben zu ihrem Alter zu machen. Man gibt dann dort nur noch seinen Geburtstag, aber nicht mehr das Geburtsjahr an. Es gibt also dieses Grundmisstrauen und wenn sich die Leute dann live treffen, wird es komplizierter. Internetdating hat einen grundlegenden Wandel in der Art hervorgerufen, wie heute Dates ablaufen. Die Treffen ähneln einem Businessmeeting, bei dem jede Seite davon ausgeht, dass der andere lügt oder etwas verschweigt. Beide Seiten versuchen herauszubekommen, ob das Produkt, das der andere zu verkaufen versucht, nicht doch irgendwelche Fehler oder Schwächen hat, die er verschweigt. Beide sind hauptsächlich damit beschäftigt, den anderen der Lüge zu überführen. Die Treffen sind also von einem grundlegenden Misstrauen geprägt, und trotzdem will man etwas von dem anderen: eine romantische Beziehung. Und die erfordert wiederum Vertrauen. Man will sich fallen lassen können. Es gibt also ein ständiges Hin und Her zwischen diesen beiden gegensätzlichen Haltungen von Misstrauen und Vertrauen.
Hat das die Leute davon abgehalten, sich live zu treffen? Verbringen sie stattdessen ihre Zeit lieber mit Chatten und machen nicht mehr den Schritt vom virtuellen Raum in den realen, weil sie zu wenig Vertrauen haben, dass derjenige, den sie da treffen, irgendetwas mit dem zu tun hat, was er in seinem Profil angegeben hat?
Online Dating ist trotz dieses großen Misstrauens enorm populär, vor allem in den USA. Das Misstrauen hält die Leute also nicht davon ab, sich live zu treffen. Viele wollen einfach nicht allein sein und suchen eine Beziehung und glauben weiterhin, dass sie diese Beziehung über Datingseiten finden können.
Die Datingseiten haben ja auch ein enormes Angebot an Profilen, das einem immer suggeriert, dass man irgendwann schon jemanden finden wird.
Gerade die Portale, die enorm viele und sehr ausdifferenzierte Fragenkataloge entwerfen, werden mehr und mehr genutzt.
Die erhöhte Komplexität schafft dann also wieder Vertrauen. Muss man sich diese Dates als eine sehr paranoide Veranstaltung vorstellen, wenn keiner der Beteiligten dem anderen vertraut?
Es gibt diesen Film Mr. und Mrs. Smith. Die Struktur der in dem Film beschriebenen Beziehung entspricht ziemlich genau der Struktur moderner Internetdates. Mr. und Mrs. Smith arbeiten beide als Undercover-Agenten, wissen aber jeweils nichts von der geheimen Aktivität des Partners. Sie spielen sich also unentwegt etwas vor und versuchen gleichzeitig herauszufinden, wie der andere wirklich ist. Ihre Beziehung und das, was sie voneinander wissen und allmählich übereinander in Erfahrung bringen, verschiebt sich dauernd, sie müssen ihr Verhältnis zueinander immer wieder neu austarieren und stets prüfen, ob sie neue Informationen über den anderen bekommen, die ihnen mehr Gewissheit über das wahre Leben, das wahre Selbst des anderen geben könnten. Sie sind ein Liebespaar, sie sind Geschäftspartner, sie sind auch Agenten und sie müssen Informationen über die wahre Identität des anderen herausfinden. Dies scheint mir eine der fundamentalen Veränderungen in Beziehungen zu sein: Man versucht unentwegt herauszufinden, wie der andere wirklich ist. Ist er wirklich so, wie er sich gibt, stimmt es wirklich, was er sagt, fühlt er wirklich das, was er vorgibt zu fühlen? Und der fundamentale Unterschied zu früheren Jahrhunderten liegt darin, dass dieses Misstrauen nie endet. Das Misstrauensverhältnis bleibt bestehen. Im 17. Jahrhundert zum Beispiel gab es bestimmte Techniken, die Angaben und Aussagen eines potentiellen Partners zu überprüfen. Man holte Informationen über den anderen ein und überprüfte, ob seine Angaben zu seinem Beruf, seinem Einkommen, seiner Herkunft korrekt waren. Hatte er nicht gelogen, so beruhigte sich die Lage und man begab sich in eine Beziehung grundsätzlichen Vertrauens. Man fragte nicht mehr weiter. Heute ist das anders. Wir haben ein grundsätzliches Misstrauen in den anderen. Und wir haben ein grundsätzliches Misstrauen in unsere Möglichkeiten, den anderen wirklich zu überprüfen. Wenn also Angaben zu Einkommen und Hochschulabschluss überprüft sind, fragen wir weiter: Ist der andere wirklich so, wie er vorgibt zu sein? Meint er wirklich alles, was er sagt? Fühlt er wirklich so, wie er vorgibt zu fühlen? Mr. und Mrs. Smith können ihr gegenseitiges Misstrauen nicht mehr beruhigen, es bleibt bestehen. Sie sind ständig dabei, sich gegenseitig zu verhören, sie sind Agenten, die einander ausspionieren und versuchen, am Verhalten des anderen abzulesen, ob irgendetwas an ihm nicht stimmt. Diese Beziehungen sind ähnlich wie in der Wirtschaft, wo man davon ausgeht, dass der andere sich nicht an einen Vertrag hält oder den Vertrag jederzeit aufkündigt. Es kommt also nie Ruhe in die Beziehung, da man immer davon ausgeht, dass der andere ohne Vorankündigung die Beziehung aufkündigt, ein neues Projekt beginnt. Man hegt also unentwegt einen Verdacht gegen den anderen. Und man ist immer damit beschäftigt, den anderen zu überprüfen. Wir sind also wie Polizisten, die einander überwachen und verhören.
Eine sehr paranoide Beziehungsstruktur.
Ich habe eine Freundin, die immer dann, wenn ihr Mann auf eine Konferenz in eine andere Stadt eingeladen ist, im Internet prüft, ob diese Konferenz wirklich stattfindet, oder ob irgendwelche Exfreundinnen von ihm an dieser Konferenz teilnehmen. Sie bleibt also ständig in dieser Bewegung, die sich von Vertrauen zu Misstrauen hin und her bewegt. Sie muss jeden Tag ihr Misstrauen beruhigen, indem sie Fakten sammelt, die ihr die Sicherheit darüber geben, dass ihr Partner wirklich das tut, was er vorgibt zu tun. Im 17. Jahrhundert gab es nicht dieses Konzept, dass man unentwegt herausfinden will, wie der andere wirklich tief in seinem Inneren ist und denkt und fühlt. Wie bist du WIRKLICH? Da hat sich diese Erfahrung, die Menschen mit Internetprofilen gemacht haben – nämlich die, dass eine enorme Diskrepanz zwischen Selbstdarstellung und dem realen Erscheinungsbild liegt – in die realen Beziehungen übertragen. Bist du wirklich immer treu? Liebst du mich wirklich unbedingt? Bist du wirklich der Mann oder die Frau, der ich für immer vertrauen kann? Wir stellen diese Fragen, haben aber keine Mechanismen der Überprüfung.
Es gibt also diesen Wunsch nach exzessiver Romantik. Ich will, dass du mich immer liebst. Ich will, dass du genau so bist, wie du wirklich bist. Ich will genau wissen, wer du wirklich bist. Gleichzeitig können viele Menschen nicht genau sagen, wer sie eigentlich wirklich sind, und versuchen dies mit Hilfe vom Coaches und Psychotherapeuten herauszufinden. Die Coaches müssen ihnen in aufwändigen Prozessen dabei helfen herauszufinden, was sie denn da eigentlich von sich als Produkt verkaufen sollen, wer sie denn nun eigentlich wirklich sind. Und vielleicht lässt sich das gar nicht beantworten. Wer bin ich wirklich? Ich bin immer anders, und zwar in Abhängigkeit davon, mit wem ich gerade zusammen bin. Ich habe mit Richard Sennett an anderer Stelle über dieses nicht zu beruhigende Misstrauen gesprochen: Ich weiß, dass Consultants in einer ganz bestimmten Sprache und Verhaltensweise geschult werden, sie erlernen die Technik, mein Vertrauen zu wecken, mich zum Sprechen zu bringen, mir etwas zu verkaufen. Gerade dann, wenn es so scheint, dass ich ihnen vertrauen kann, da sie mir so perfekt diesen Eindruck vermitteln, werde ich enorm misstrauisch. Ich muss also Mechanismen entwickeln, dahinterzukommen, wie ich die Zeichen, die diese Menschen aussenden, absuchen kann nach Anhaltspunkten für Vertrauenswürdigkeit.
Im realen Leben können sie sich dabei auf ihre Intuition verlassen.
Wie ist das beim Internetdating? Wenn ich dem anderen nicht real begegne?
Da wird es kompliziert. Grundsätzlich gehen Menschen, wenn sie sich real begegnen, einfach von einer Anziehung aus, die besteht oder nicht. Sie verlassen sich auf ihre Intuition. Die Stimme eines anderen Menschen kann sehr wichtig sein. Wie er sich bewegt, seine Gesten, sein Blick, wie er mich anschaut, wie er lacht. Ich erlebe ihn und ich reagiere auf ihn und wir treten in Interaktion und entwickeln unsere gemeinsame Beziehung. Beim Internetdating habe ich zunächst einmal enorm viele Informationen zur Verfügung, die ich aber alle nicht sofort überprüfen kann. Und ich habe als einzigen Anhaltspunkt nur das Bild. An die Stelle von Intuition tritt dann also das Aussehen, die Schönheit als Kategorie, die mich durch die Partnersuche lenkt. Und hier kann ich mich eben immer täuschen, da das Bild eventuell bearbeitet wurde. Ich habe also kein Vertrauen in das, was ich sehe und als Bild begehre. Vielleicht existiert es nicht.
Man entwickelt dann vielleicht Mechanismen, wie man Bilder genau überprüft. Wurde bei diesen Bildern Photoshop angewendet? Sind es überhaupt aktuelle Bilder? Man sucht das Bild nach Anzeichen ab, die einem sagen können, ob man dem Profil vertrauen kann oder nicht.
Ganz genau. Alles konzentriert sich auf das Bild. Nicht mehr auf die unmittelbare Begegnung, sondern auf die Auswertung von Bildern. Das Bild muss mich ansprechen und gegen das Bild hege ich auch einen Verdacht.
Und gegen das Profil hege ich den gleichen Verdacht wie gegen die Werbung für ein Produkt oder gegen ein Fondsderivat, bei dem ich nicht weiß, woraus es eigentlich wirklich besteht. Das Profil ist ein Versprechen auf eine Beziehung, so wie das Fondsderivat ein Versprechen auf einen hohen Gewinn ist, und bei beiden weiß ich nicht, ob sie sich jemals einlösen werden oder ob beide einfach Fantasmen sind, gegen nichts in der Realität einzutauschen.
Vertrauen wird immer wieder täglich neu in Frage gestellt und immer wieder neu erarbeitet und ausgehandelt. Das Misstrauen kehrt immer wieder zurück in die Beziehung und muss dann beruhigt werden.
Das ist natürlich sehr anstrengend. Ich kann dir niemals vertrauen, selbst, wenn ich schon Jahre mit dir zusammen bin. Hinzu kommt eine andere Rastlosigkeit, die Sie in ihrem Buch Gefühle in Zeiten des Kapitalismus beschreiben. Beim Internetdating trete ich in einen Raum der unermesslich vielen potentiellen Partner. Wenn ich einen Partner auswähle und treffe, habe ich immer im Hinterkopf, dass eventuell einer der 20 000 anderen, die der Computer auf Grundlage meiner Profilsuche für mich als potentiellen Partner errechnet hat, viel besser zu mir passt als derjenige, der mir gerade gegenübersitzt. Es gibt so viele Möglichkeiten, es wird schwer, mich zu entscheiden. Wenn ich ein Date habe, denke ich unentwegt an die anderen Optionen, die noch offen sind, die vielleicht besser sind. Internetdating verspricht ja, dass es die Partnersuche enorm vereinfacht, aber ich denke, tatsächlich macht es die Partnerwahl enorm kompliziert und unsicher.
Hinzu kommt, dass man den Leuten immer unterstellt, sie wüssten genau, wonach sie suchen. Die Menschen wissen aber nicht genau, was sie wollen, das zeigen alle Studien. Und je mehr Auswahl sie haben, desto verwirrter sind sie in Bezug auf ihre Wünsche. Sie begreifen die anderen Nutzer als Ware, und preisen sich selbst ebenfalls als Ware an, aber sie wissen nicht genau, wie sie sich orientieren sollen, sie wissen nicht genau, welches der vielen Profile sie wirklich begehren.
Die Leute haben also nicht unbedingt das Vertrauen, dass das, was sie da in ihrer Suche angeben, auch das ist, was sie wirklich wollen, und somit hegen sie auch den Verdacht, dass die Profile, die der Computer für sie heraussucht, nicht wirklich ihr Begehren widerspiegeln. Und dann treffen sie auf diese Menschen, von denen sie nicht wissen, ob sie die überhaupt wollen und von denen sie a priori glauben, dass sie nicht ihrem Profil entsprechen. Die Treffen sind von großem Misstrauen begleitet, das die Beziehung, wenn sie tatsächlich zustande kommen sollte, immer begleiten wird. Wir haben bei den Proben zu Trust viel mit dieser Art Grundmisstrauen, das sich durch alle Beziehungen zieht, gearbeitet. Es gab die Improvisationsaufgabe für die Tänzer: „Ihr habt kein Vertrauen zueinander, aber ihr wollt Nähe zueinander aufbauen.“ Mich hat diese Frage in meiner Arbeit sehr beschäftigt, wie lässt sich in Misstrauensverhältnissen Nähe herstellen, ist das überhaupt möglich?
Ich habe noch eine andere Frage, die sich auf Ihr Buch Die Errettung der modernen Seele bezieht. Es geht um Wut. Es scheint für Westeuropäer unglaublich schwer geworden zu sein, ihre Wut zum Ausdruck zu bringen. Es scheint so, als würden Menschen, die Wut empfinden, diesem Gefühl nicht vertrauen, und es für einen Defekt halten. Sie vertrauen nicht darauf, dass ihre Wut angesichts einer politischen oder sozialen Situation berechtigt ist. Sie gehen eher davon aus, dass ihre Wut ein Gefühl aus der Kindheit ist und auf ungelöste Konflikte mit den Eltern zurückgeht. Wut wird als ein Gefühl angesehen, dass man nicht äußern soll, sie wird komplett diskreditiert und zurückgehalten.
Ja, das sehe ich genauso.
Können Sie mir erklären, wieso es so schwierig für Menschen in Westeuropa und Amerika ist, ihrer Wut Ausdruck zu verleihen?
Beziehungen sind immer über Machtverhältnisse definiert. Und Macht und Wut gehören historisch gesehen zusammen. Derjenige, der Macht hat, darf seine Wut zum Ausdruck bringen. Derjenige, der keine Macht hat, darf seine Wut nicht zeigen. Wir leben heute in demokratischen Gesellschaften und dort gilt es als illegitim, seine Macht zu demonstrieren bzw. offen auszuleben. Wut ist immer eine Manifestation von Macht. Und offenes Zurschaustellen von Macht und Wut bricht mit der stillschweigenden Vereinbarung, dass alle Menschen in unserer Gesellschaft gleich sind, gleiche Rechte haben, dass wir in einer demokratischen und nicht in einer hierarchischen Gesellschaft leben. Deshalb wurde Wut weitgehend aus unserer Gesellschaft verbannt. Dies ist ein sehr spezifisches Merkmal des zwanzigsten Jahrhunderts. Hier kam zum ersten Mal die Idee auf, dass ein guter Boss seine Gefühle komplett kontrolliert und seine Wut nicht zeigt. Wenn also ein Angestellter einen Fehler gemacht hat, dann war es vormals Standard, dass ein guter Boss seine Wut darüber zum Ausdruck brachte. Das ist heute anders. Wut gehört zu den Gefühlen, die man nicht in den Arbeitsalltag einbringt, da sie die Teamarbeit, das Denken in flachen Hierarchien beeinträchtigt. Im Gegenzug ist es so, dass derjenige, der Wut empfindet, damit anzeigt, dass er verletzbar ist, dass er durch eine Äußerung oder eine Handlung eines Kollegen oder seines Chefs getroffen und emotional beeinträchtigt wurde und dass er nicht in der Lage ist, Abstand von seinen eigenen Gefühlen zu nehmen und diese zu kontrollieren. Ein Angestellter zeigt also seine Wut gegenüber seinem Chef auch nicht offen, weil er damit seine Schwäche, seine Verletzbarkeit eingestehen würde. Er würde zugeben, dass der Chef die Macht hat, ihn wütend zu machen und würde sich damit als unterlegen zeigen und das wäre ihm unangenehm.
Die Fähigkeit, Distanz zu seinen eigenen Gefühlen zu entwickeln, sie zu analysieren, kontrolliert einzusetzen, wird heute als wichtiges Ziel formuliert.
Es geht um Autonomie und das Gefühl, selbstbestimmt zu handeln. Es gibt sehr viele Workshops, in denen man lernen kann, eine Grenze zu ziehen zwischen sich und seinen eigenen Gefühlen, die Gefühle von sich abzulösen, in den Griff zu bekommen und kontrolliert einzusetzen. Hier lernt man, sich von seiner Wut zu distanzieren, Wutgefühle nach psychoanalytischen Gesichtspunkten genau unter die Lupe zu nehmen und man lernt, sich seiner Wut zu entledigen. Man verleiht seiner Wut nicht mehr Ausdruck, man kontrolliert sie. Und das wird als Zeichen von Selbstbestimmtheit, von Macht und Autonomie gesehen: Niemand kann mir etwas anhaben, niemand erreicht mich so sehr, dass ich Wut empfinde, ich bin unverletzbar. Es gibt heute einen Gefühlszustand, der sehr propagiert wird: Ich nehme alles sehr gelassen hin, nichts kann mich aus der Bahn werfen, ich stehe über meinen Gefühlen, ich werde nicht wütend.
Kann man dies als ein Gefühl der Machtlosen bezeichnen? Die Machtlosen lernen unentwegt ihre Wut zu kontrollieren, um ihre Ohnmacht nicht zur Schau tragen zu müssen und bezeichnen das als Gelassenheit, als ein Stadium, in dem sie nichts mehr erreichen kann, das sie verletzen könnte.
Ganz genau.
Noch einmal zum Anfang: Wut auszudrücken ist also ein Privileg der Mächtigen. Insofern wirkt es logisch, dass Menschen ohne Macht darin trainiert werden, ihre Wut nicht zu äußern. Sie beschreiben in Ihrem Buch Die Errettung der modernen Seele, dass auch Menschen in Führungspositionen lernen, ihre Wut nicht zu äußern.
Wut wird als unlauteres Gefühl angesehen, denn Machtverhältnisse sollen heute nicht mehr offengelegt werden. Man zeigt seine Macht nicht, wenn man sie hat.
Da es die gesellschaftliche Verabredung gibt, dass alle Entscheidungen in unserer Gesellschaft nicht aufgrund von Machtverhältnissen, sondern aufgrund von demokratischen Mehrheitsbeschlüssen oder Sachzwängen getroffen werden.
Genau. Machtverhältnisse bleiben verdeckt. Auch in der Arbeitswelt versucht man, die Machtverhältnisse nicht offen auszuleben. Das Projekt, die Arbeit stehen im Vordergrund, nicht die Hierarchie. Man spricht vom Team, das zusammen die Aufgabe erledigt.
Die Tatsache, dass Machtstrukturen verdeckt gehalten und mit Sachzwängen umschrieben werden, macht es wiederum schwer, seine Wut gegen irgendetwas zu richten. Man kann keinen Täter mehr ausfindig machen. Man weiß nicht, gegen wen man eigentlich seine Wut richten soll. Gleichzeitig ist Wut ein Gefühl, das völlig diskreditiert wurde. Wut wird als grundsätzlich unangemessen, als ein persönliches Problem desjenigen, der sie empfindet, angesehen, Wut gilt als peinlich, unschicklich, und es zeigt an, dass derjenige, der Wut zeigt, noch auf einem sehr primitiven Level des Selbstmanagements steht.
Die Psychoanalyse hat dazu sehr viel beigetragen, dass man Gefühle kategorisiert in reife und unreife Gefühle. Wut wird als unreifes, niederes Gefühl angesehen. Gelassenheit wird als ein sehr reifes Gefühl auf der Werteskala eingestuft. Die Psychoanalyse fordert von uns, dass wir unserer Frustration ohne Wut Ausdruck verleihen können. Die Technik, über seine Gefühle zu sprechen, ohne dabei diese Gefühle zu empfinden, wird in den Therapien trainiert. Man löst sich also von seinen Gefühlen, man bearbeitet sie. Und das Ideal einer reifen Psyche, das sich überall durchgesetzt hat, kennt eben keine Wut, sondern kennt nur den Menschen, der seine Wut zu jeder Zeit vollständig unter Kontrolle hat. Die Kontrolle über seine Gefühle zu verlieren, wird als unreifes, kindliches Verhalten angesehen und hat dazu geführt, dass Wut in unserer Gesellschaft als völlig unangemessen gilt. Wer Wut zeigt, ist unreif, zeigt seine Schwäche, steht auf einer psychologisch gesehen primitiven Stufe."
© FALK RICHTER
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