Tatort auf ARD

Berichte, Dokus, Artikel und ja: auch Talkshows zum Thema Sexarbeit werden hier diskutiert
Klaus Fricke
Nicht mehr aktiv
Beiträge: 1121
Registriert: 05.11.2010, 16:16
Wohnort: Bremen / Sougia - Kreta
Ich bin: Keine Angabe

RE: Tatort auf ARD

Beitrag von Klaus Fricke »

Diskursverschiebung?

Partielle Versachlichung
Interessant an dem FAZ.Net Artikel finde ich die Aussagen der Münchener Polizei zur Zahl der SW in München, insbesondere derer aus RO. Sie sind sachlich wahrscheinlich zutreffend und widersprechen den Fantasiezahlen, die abolitionistisch motiviert zwecks Skandalisierung in die Welt gesetzt werden. Es scheint, und das gilt, woran z.B. die Veröffentlichung unserer Haus9 Studie zu RO-SW in Bremen ( http://www.sexworker.at/phpBB2/viewtopic.php?t=11799 ) oder die Dekonstruktion des 40.000 Ideologems (siehe z.B. http://www.sexworker.at/phpBB2/viewtopic.php?t=388 ) einen Anteil gehabt haben könnte, z.B. für Bremen bereits seit Mitte 2014 (www.weser-kurier.de/startseite_artikel, ... 32276.html). Die Zeiten der wenigstens unseriösen, eventuell wüsten, lügnerischen Spekulationen öffentlicher Stellen zum Umfang der SW, insbesondere zum Umfang von kommerzialisierter Vergewaltigung (Begriff den der Deutsche Juristinnenbundes für alle Formen der Ausbeutung von SW anstelle des Begriffes der Zwangsprostitution verwendet. Marc of Frankfurt hatte zuvor den Begriff des gewerblichen sexuellen Missbrauchs geprägt und beschreibt dies weiter mit den Begrifffen Falle Prostitution oder strukturelle Zwangsprostitution, wobei er auf M. Frommel bezug nimmt: http://www.sexworker.at/phpBB2/viewtopi ... 0961#70961) sind wenigstens zum Teil Vergangenheit

Bedingungszusammenhang der "Versachlichung" / Tat - Sache
Wozu auch weiter skandalisieren, da mit dem ProstSchG ein Zwangsregime über SW errichtet wird, dass vorgeblich präventiv der Abwehr imaginierter, zur Panik verdichteter Gefahren dienen soll und damit den im Feld der SW Aktiven eine Position zuweist, die dem Feindstrafrecht ( https://de.wikipedia.org/wiki/Feindstrafrecht ) nahe ist. Gefahrenabwehr, bemäntelt als Prävention, liefert die Begründung von Exklusion und erweist sich (auch hier) als reaktionäres Konzept, das gezielt die gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen am Gemeinwesen und an Ressourcen durch verrechtlichte Zwangsmaßnahmen - rechtsförmigen Terror - unterbinden soll. Die "Versachlichung" des Diskurses gegen die SW, so sollte klar sein, beruht auf der Tat des ProstSchG, das - zusammen mit dem Novellierungsbemühungen zum Strafrecht des Menschenhandels - in seiner Tendenz zum Feindstrafrecht, die im Feld der SW-Aktiven Aktiven (siehe: https://www.bmjv.de/SharedDocs/Gesetzge ... onFile&v=1 , Kriminalisierung der Kundschaft von SW, die deren allgemeine soziale Ächtung rechtlich vertieft ), zur Sache der Sondergesetzgebung, zur Entgleichung dieser Menschen gemacht hat.

Die Erzählung vom Zuhälter
»Im Endeffekt sind das einfach die Zuhälter der jeweiligen Damen, das ist der Polizeijargon dazu. . . . Natürlich sprechen die Damen selbst nicht unbedingt von einem Zuhälter, sondern sie sprechen von einem Freund oder ihrem Mann, oder sagen eben gar nichts dazu.« (Hvhbg. K.F.)

Eine "Besonderheit" migrierter SW scheint es zu sein, dass sie vielfach mit Personen in D zusammenleben, die sie in ihrer Heimat kennengelernt haben und die an ihrer Entscheidung der SW nachzugehen, beteiligt waren. Die weit überwiegende Zahl der aus der EU stammenden SW, die nach Einführung der (Arbeits- bzw. Dienstleistungs-) Freizügigkeit für EU-Bürger_innen aus Südosteuropa nach D kamen, kommt, so meine Kenntnis, in Begleitung nach D, um hier der SW nachzugehen.

Zu Zeiten der Restriktion von Zuwanderung aus den heutigen EU Staaten, wurde, sofern in die SW nach D migriert wurde, was mit erheblichen Schwierigkeiten und Kriminalisierung verbunden war, diese Möglichkeit nur selten wahrgenommen. Den riskanten Weg der eher illegalisierten Einreise gingen SW zu dieser Zeit eher alleine. Mit der EU Freizügigkeitsregel ist diese Restriktion gefallen. So betrachtet, ist es keine Besonderheit der aus Südosteuropa zureisenden SW, dass sie in Begleitung nach D kommen. Die "Besonderheit" liegt vielmehr im Freizügigkeitversprechen der EU, das eine Öffnung des vorherigen Zwangsregimes der Grenzsicherung darstellt, welches für SW vormals durchaus tötlich (z.B: Tot einer SW bei Flucht vor polizeilichem Zugriff in Bremen: http://www.sexworker.at/phpBB2/viewtopi ... 894#142894 ) sein konnte (wie heute die "Lenkung der Flüchtlingsströme").

Die über die Besonderheit der Auflösung repressiver Grenzregimes (ab 2009 - Dienstleistungsfreiheit) nach D zureisenden Begleitungen von z.b. aus Südosteuropa stammenden SW erfahren mit der gegen den ausdrücklichen Willen und gegen die unmissverständliche Bewertung (Freunde / Ehemännnner) seitens der SW erfolgenden Zuschreibung Zuhälter(_in?), den Status der Gewohnheitsverbrecher, der die Rede vom kriminogenen Feld der SW und damit die Maßnahmen der Gefahrenabwehr und die Sichtweisen des Feindstrafrechtes dispositiv rechtfertigt.

Der Glaube an die Allgegenwart der Zuhälterei, der in dem abolitionistischen 40.000er Ideologem (s.o.) oder auch dem abolitionistischem Fantasma der Gewaltverhältnisse: »"Die Frauen wissen zum großen Teil nicht, dass sie für Zwangsprostitution nach Deutschland kommen", sagte Hauffe. Sie gingen davon aus, dass sie hier Geld für eine bessere Zukunft verdienen könnten. "Tatsächlich befinden sie sich aber in einem Gewaltverhältnis zwischen Schleppern und Zuhältern, die mit der Angst der Frauen spielen."« ( Weser Kurier vom 26.11.2013, S.11, http://www.weser-kurier.de/bremen/polit ... 19410.html ) konserviert und nach wie vor diskursleitend ist, wiederholt sich reaktivierend im Polizeijargon, und im damit offenbarten institutionellem Rassismus ( Dunkelhäutig, männlich, verdächtig - Das Problem ethnischer Diskriminierung bei der Polizeiarbeit, dradio.de, http://www.dradio.de/dlf/sendungen/hint ... k/2068280/ ) der (nur Münchener?) Polizei.

Die Zuhältererzählung ist, so befürchte ich, bis weit in das Denken der im Feld der SW Aktiven hinein wirkmächtig. Insbesondere der Referenzrahmen innerhalb dessen wir als politisch Pro-SW-Sprechende uns, was Geschlechterverhältnisse angeht, verorten - unser notwendiges Bestehen darauf, dass die Gleichbehandlung der Geschlechter unumgänglich, dass es, sofern die Kritik an der Gesellschaftsformation, in der die Ungleichbehandlung sich ereignet, nicht mitgedacht wird, jedoch zu kurz und lediglich affirmativ ist, dass es dann zur Gleich_ENT_rechtigung aller Geschlechter im Zeichen des Verwertungsprimats des Kapitals führt - macht uns anfällig für kolonialistisches Denken, für Missionierung, die die Lebensentscheidung migrierter SW betrifft, zu denen ihr Wille gehört mit ihren Freunden oder Ehemännern zu reisen. Anfällig also für ein Denken, das geeignet ist diese Lebensentscheidungen zu entwerten. Wodurch wir uns in einer Allianz mit den implizit Feindstraffrechtswilligen wie Kriminalhauptkommissar Werner Kraus (Pressestelle des Münchner Polzieipräsidiums) wiederfinden würden, mit der wir der Zuschreibung Kriminogenität für das Feld der SW und damit dem Zwangsregime des ProstSchG und Vielem repressiv-patriarchalem mehr, unseren Segen erteilen würden.

Es ist so, dass es uns Pro-SW-Sprechenden fremd sein mag, was wir vom Binnenverhältnis zwischen migrierten SW und ihren Partnerschaften erfahren. Und bereits diese Kategorisierung als fremd ist rassistisch, ist Kolonisierung anderer Lebenswelten, wenn auch in maternalistischer, Gleichbehandlung beabsichtigender, aber nur Inversion des Patriarchats darstellender Absicht. Es ist verständlich, wenn wir den Impuls haben, die SW aus RO, die ihrem Freund den BMW kauft, aber selbst kein Bankkonto hat, schütteln wollen. Aber diese SW, die mit ihrem Freund nach RO zurückfährt und das Elternhaus des Freundes renoviert, um dort mit ihm, eventuell seiner Mutter und dem eigenen Kind zu leben, empfindet ihre Entscheidungen wohlmöglich als die Realisierung der erträumten Befreiung vom materiellen Elend (siehe: https://www.theguardian.com/global-deve ... thel-video - Analyse dazu eventuell später hier auf sexworker.at ), die sie erst - und daran denkt sie kaum in dieser Situation - da materiell mit der weißen, mitteleuropäischen Akademikerin durch eigene Einkünfte gleichgestellt, den Horizont erahnen lässt, hinter dem Emanzipation Realität werden könnte.

Ihr angesichts dieser für sie Realität gewordenen Befreiung mit der Etikettierung ihrer Beziehung als zuhälterische - denkend oder gar öffentlich zuschreibend - zu begegnen, mag analytisch dann zulässig sein, wenn alle Partnerschaften, in denen die Majorität des Einkommens von einer Person stammt, strafrechtlich als zuhälterische verfolgt werden. Wer profitierend und privilegiert im relativ komfortablen Glashaus des globalen Verwertungsprimates sitzt und dessen Protagonisten in den Ämtern der Macht noch nicht die Rote Karte gezeigt hat, sollte sich mit den Steinwürfen kolonialer bzw. ethnischer Arroganz zurückhalten.

Diskursverschiebung ins Sachliche?
Das Narrativ der Zuhälterei ist wirksam. Es ist an der Zeit es im Sinne der SW, im Sinne der Solidarität mit den Lebensentscheidungen migrierter SW, auch wenn sie anders aussehen, als unsere Entscheidungen, zu dekonstruieren. Der Diskurs gegen die SW, so würde ich dies eher begreifen, hat die SW zur exkludierten Sache sui generis gemacht, und damit dessen Unterwerfung unter das Zwangsregime des ProstSchG, des Straf- (Menschenhandel etc.) und sonstigen Sonderrechtes öffentlich wirksam gerechtfertigt. Es kann zur repressiven Tagesordnung, zur Sache, zu der SW diskursiv wurden, übergegangen werden. »Die Zahl ist der Wahnsinn.« (KHK Krauss).

Der ideologischen Wahnsinn wurde für mannstransfraus diskursive Determinierung benutzt. Er kann temporär zu den Akten, jedoch in Zeiten der gewollten Hysterisierung von BKA oder Anderen aus den Ämtern der Macht reaktiviert werden.
Gesperrter User