Die Stadt Neapel bietet sich dem Betrachter dar wie eine Theaterbühne. In der Schlussphase des Zweiten Weltkriegs kam es in dieser Stadt zu einer surrealen Szenerie, die - noch viel eindringlicher als jede Bühnendarbietung und jeder Roman - die Abgründe und Höhepunkte menschlichen Lebens und menschlichen Wesens vorführte. Der Literat Curzio Malaparte hat als Augenzeuge nach dem Krieg darüber ein Skandalbuch "Die Haut" veröffentlicht. In den englischen Buchhandlungen liegt jetzt das Tagebuch eines britischen Geheimdienstoffiziers Norman Lewis aus jener Zeit, als der Autor als Mitglied der Aufklärungstruppe in Neapel Dienst tat. Lewis bestätigt die Schilderungen Malapartes, die nach dem Krieg vielen als schockierend und unglaubwürdig erschienen.
Was war geschehen? Schon in Friedenszeiten ist Neapel eine verrückte Stadt mit einer lebenshungrigen, alten und blutjungen Bevölkerung. Nun war die Front des Weltkriegs über die Stadt hinweggezogen. Am 9. September 1943 waren die Alliierten Truppen im nahegelegenen Salerno gelandet und waren zügig über Neapel hinaus nach Norden vorgedrungen, wo sich der Vormarsch in den Abruzzen brach. Am 1. Oktober 1943 waren britische Truppen zuerst in Neapel einmarschiert. Italien hatte das Lager gewechselt und die Italiener waren dabei, sich von Faschisten zu Demokraten zu wandeln. Neapel war nun der Sitz einer Alliierten Militärregierung und die Militärbasis für die äußerst verlustreichen und schweren Kämpfe von Januar bis Mai 1944 um den Monte Cassino etwa 50 km nördlich der Stadt.
Vor allem war die Millionenstadt Neapel nun auch von einer Soldateska von mehreren hunderttausend Soldaten aus vieler Herren Länder überschwemmt. Diese Männer waren erleichtert, dass sie noch lebten, aber wussten, dass ihr Leben in jedem Augenblick sich ändern konnte. Sie standen in jeder Hinsicht unter höchstem seelischen und körperlichen Druck. Die Bevölkerung war ebenfalls froh, dass die Front über sie hinweggezogen war, aber alle Institutionen und alle Einrichtungen waren funktionsunfähig - zum Teil durch Kriegsschäden, zum Teil als Folge der allgemeinen Unordnung. Die Wirtschaft war zum Erliegen gekommen und die Menschen waren in groteskem Ausmaß unterversorgt und litten Hunger. Lebenslust, Triebstau auf der einen Seite und der Kampf gegen den Hunger und die Untervorsorgung um das tägliche Überleben auf der anderen Seite hatten alle Welt und jede soziale Ordnung aus den Angeln gehoben. Die Militärregierung ruderte im Chaos. Camorra, 'nDrangheta und Mafia fanden traumhaften Nährboden. Diebstahl von Militärgütern, Schwarzhandel, Korruption und ganz besonders die Prostitution blühten. In 1944 schätzte der britische Militärnachrichtendienst offiziell, dass es 42.000 Prostituierte in Neapel gab, bei einer weiblichen Population im geschlechtsaktivem Alter von etwa 150.000. Die puritanisch-prüden amerikanischen und britischen Offiziere gaben sich schockiert.
Zu alledem brach am 18. März 1944 auch noch der Vesuv aus. Der Ausbruch verursachte große Schäden in den Dörfern und Städtchen des Umlands. Nachschublager der Armeen wurden zerstört.
Beispielhaft schildert der Tagebucheintrag von Normal Lewis vom 10. November 1943 die surreale Szene:
"Die sexuellen Einstellungen der Neapolitaner lassen einen nie im Stich, wenn es um neue Überraschungen geht. Heute suchte uns Fürst A., bestens bekannt mit uns allen und ein begeisterter Informant von unseren ersten Tagen an der Riviera di Chiaia [Anmerkung: Prachtstraße in Neapel, in einem beschlagnahmten Palast Sitz der Aufklärungsabteilung], zusammen mit seiner Schwester auf, der wir zum ersten Mal begegneten. Der Fürst ist Herr ausgedehnter Ländereien irgendwo im Süden, auf denen er selten weilt, und er bewohnt einen mit Familienporträts und chinesischen Antiquitäten vollgestopften Palast hier in der Nachbarschaft. Er ist das Oberhaupt einer Familie, die als die zweite oder dritte im Rang in ganz Süditalien angesehen wird. Der Fürst ist etwa dreißig Jahre alt, und seine Schwester könnte vierundzwanzig Jahre zählen. Beide sind sich in ihrer Erscheinung bemerkenswert ähnlich: sehr schlank, mit außerordentlich bleicher Haut und kalten, patrizierhaften fast schon streng wirkenden Ausdruck. Der Zweck des Besuchs war, sich zu erkundigen, ob und wie wir die Schwester in einem Armeebordell unterbringen könnten. Wir erklärten, dass es solche Einrichtungen in der Britischen Armee nicht gibt. "Bedauerlich," sagte der Fürst. Beide sprechen ein ausgezeichnetes Englisch, erlernt von einer englischen Gouvernante.
"Nun gut, Luisa, ich denke, wenn es nicht geht, dann geht es nicht." Sie bedankten sich mit höflicher Gemessenheit und verabschiedeten sich.
Letzte Woche wurde ein anderes Mitglied unserer Geheimdienstabteilung von einer weiblichen Kontaktperson eingeladen, am nächsten Sonntagnachmittag mit ihr den Zentralfriedhof von Neapel zu besichtigen. Kontakte zu Informanten müssen wo immer möglich mit kleinen Freundlichkeiten gepflegt werden, und der Kollege war durchaus geneigt, der Einladung Folge zu leisten im Glauben, seine Bekannte zu einem Besuch am Familiengrab zu begleiten und vielleicht zuvor einen Chrysanthemenstrauß am Blumenstand am Friedhofseingang zu erstehen. Aber kaum dass sie das Tor hinter sich gelassen hatten, zog ihn die Dame hinter einen Grabstein, legte sich - ungeachtet des kalten Wtters - auf den Boden und zog den Rock hoch. Er bemerkte dass der Friedhof zahlreiche andere Paare in wilder Aktivität am hellichten Tag beherbergte. "Da waren mehr Leute über der Erde als unter der Erde," sagte er. Es stellte sich heraus dass der Friedhof die Mondscheinwiese von Neapel ist, und die Regel ist, dass man mit dem Passieren des Eingangstors unsichtbar wird. Wenn ein Besucher auf jemanden trifft, den er kennt, wird keinerlei Zeichen des Erkennens oder Blick getauscht, und man erkennt auch keinen Bekannten im Bus der Linie 133, die zum Friedhof hinausgeht. Ich habe zur Kenntnis genommen, dass einer Dame einen Sonntagnachmittagsausflug auf dem 133er Bus vorzuschlagen einem unmoralischen Angebot gleichkommt."
Neapel, 1944
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