Ach die Treue

Berichte, Dokus, Artikel und ja: auch Talkshows zum Thema Sexarbeit werden hier diskutiert
Benutzeravatar
fraences
Admina
Admina
Beiträge: 7446
Registriert: 07.09.2009, 04:52
Wohnort: Frankfurt a. Main Hessen
Ich bin: Keine Angabe

Ach die Treue

Beitrag von fraences »

TV-Kritik: Ach, die Treue


Kann der Mensch monogam leben? Der «Club» packte gestern einen Evergreen an, konnte das Dilemma zwischen dem Bedürfnis nach Geborgenheit und Abenteuer freilich auch nicht lösen.

Bei Diplozoon paradoxum, einem Fischparasiten, treffen sich Männchen und Weibchen früh im Entwicklungsstadium, dann wachsen ihre Körper zusammen. Die Lebensform gilt als die einzig monogam lebende Tierart der Welt – weil sie nicht auseinander kann. Eine andere Lebensform versteht sich gerne als monogames Wesen, ist es aber nicht: der Homo sapiens (jeder zweite Mensch geht in einer Beziehung mal fremd).

Wie wir trotzdem den Hang oder zumindest den Wunsch zur Monogamie entwickeln konnten, ist ein Rätsel, über das Evolutionsbiologen, Paarpsychologen und andere Experten sich immer wieder mal den Kopf zerbrechen. So auch gestern im «Club»: Können Menschen ein Leben lang monogam sein? Welchen Preis bezahlen sie für die Treue, welchen für die Untreue? Und wo liegt die Toleranzgrenze?

Wie Francine Jordi

So viel ist klar: Die Scheidungsraten explodieren, immer mehr Paare trennen sich, seit es keine moralischen oder ökonomischen Zwänge mehr gibt, durch Eltern, Kirche, Wirtschaft oder Gesellschaft. Im Gegenteil, propagiert Letztere doch Werte wie Individualismus und Freiheit.

Zentral in der Diskussion gestern waren die Begriffe Treue und Ehrlichkeit. Sexualtherapeutin Doris Christinger und Erotikladenbesitzerin Alexandra Haas waren sich hier einig: Im Idealfall trifft ein Paar eine Abmachung und spricht über die eigenen Vorstellungen von Treue und Vertrauen. Doch was bedeutet das: keinen Seitensprung? Oder liegt mal einer drin? Einmal pro Jahr ein Kuss? Und wird ein Seitensprung gebeichtet? Darf man wie Francine Jordi bei Seitensprungverdacht die SMS des Partners lesen?

Abmachungen und Transparenz, da war sich die Runde einig, sind immer gut. Schauspieler Andrej Togni hat sie gar zum Prinzip erhoben: Er lebt offene Beziehungen. Ein interessantes Thema. Was, wenn sich zwei daran versuchen, Lust und Liebe bewusst zu trennen und ihren Bedürfnissen ehrlich und in gemeinsamer Absprache zu begegnen? Und was, wenn Eifersucht einsetzt, weil ein Partner mehr Sex abkriegt als der andere? Wenn sich einer verliebt gar?

Der grösste Liebestöter

Anders gefragt: Kann man nicht monogam sein, wenn man verliebt ist? «Man entscheidet sich, sich zu verlieben», sagt Andrej Togni. Eine Kopfentscheidung also – und hier liegt wohl auch das Problem bei offenen Beziehungen. Es ist ein theoretisches Konstrukt, das nur für wenige Menschen lebbar ist, die Eifersucht und Verliebtheit intellektuell an- und ausschalten können. Oder sind solche Gefühle wiederum Produkte von Jahrtausende alten zivilisatorischen Geboten? (wie es zum Beispiel das höchst lesenswerte Buch «Sex at Dawn» nahelegt).

Ja, es war die Runde der unbefriedigenden Antworten, was paradoxerweise den Reiz des Themas ausmacht. So auch jene Antwort der eingeladenen Prostituierten auf die Frage, weshalb sie trotz täglich vorgelebten Seitensprüngen immer noch an die Monogamie glaube: «Die Männer kommen halt, weil sie bei mir ihre Fantasien ausleben können.» Dieser Meinung war zwar auch die Erotikladenbesitzerin («Die Zeit und Energie, die einem ein Seitensprung raubt, würde ich eher in den Sex in der eigenen Beziehung investieren»). Dabei, so wollte man den Frauen zurufen, ist doch nicht fehlende Zärtlichkeit das Problem. Ein Paar Handschellen dürften auf die Dauer nicht ausreichen. Denn genau die Zeit ist ja der grösste Liebestöter. Über die Zeit schleicht sich die Langeweile in Beziehungen ein. Und die Zeit wiederum ist es, die die Lust den Liebestod sterben lässt.

Selbstbetrug oder Masturbation

Liebe will Geborgenheit (und etwaige Kinder eines Paares erst recht) – die Lust aber braucht Aufregung und Fremdheit. Psychoanalytiker Hans Peter Bernet war dies auch klar: «Ein Seitensprung ist aufregend, beunruhigend und riskant. Und das ist gut so.» Jawohl, wollte man schon frohlocken. Endlich jemand, der die Lust ins Lotterbett zurückbringt. Ein weiser alter Mann, der den Widerspruch zwischen dauerhafter Beziehung und nie erlahmender Sexualität auflöst. Eine konkrete Lösung hatte er dann aber auch nicht in petto, ausser: «Ob man die sexuellen Reizungen auslebt, ist eine andere Frage.»

Der «Club» uferte da und dort aus, man sprach über Sex bei Jungfamilien, Polyamorie, Betrug, Prostitution und Safer Sex. Vielleicht hätte man sich besser auf ein einzelnes Thema fokussiert und die Gästeauswahl entsprechend gestaltet. Deshalb als Fazit zurück zur Ausgangsfrage: Ist es nur Diplozoon paradoxum möglich, monogam zu leben? Es scheint so. Während es einigen Menschen gelingt, ihre Lust auf Fremdes zu unterdrücken (Selbstbetrug oder Masturbation) oder andersartig zu umschiffen (Betrug des Partners), führt der hohe Stellenwert, den Sex in unserer Gesellschaft hat, in vielen anderen Fällen zum Scheitern von ansonsten gut funktionierenden Partnerschaften. Vielleicht liegt hier ein erster Lösungsansatz: dass man Sexualität nicht überbewertet und ihr nicht komplett das Leben unterordnet, Stichwort Verzicht. Ob das nun über weniger Sex – oder weniger Eifersucht – zu bewerkstelligen ist, muss jeder für sich beantworten.

http://www.tagesanzeiger.ch/kultur/fern ... y/27553425
Wer glaubt ein Christ zu sein, weil er die Kirche besucht, irrt sich.Man wird ja auch kein Auto, wenn man in eine Garage geht. (Albert Schweitzer)

*****
Fakten und Infos über Prostitution

Benutzeravatar
nicole6
ModeratorIn
ModeratorIn
Beiträge: 2333
Registriert: 11.09.2009, 13:01
Wohnort: München
Ich bin: ehemalige SexarbeiterIn

Beitrag von nicole6 »

Heute findet man auch in der Tageszeitung Repubblica einen
ganzseitigen Artikel über die Treue. Die Autorin weist auf die
Unterschiede im Wortgebrauch beim Begriff "Liebe" hin.
Dieser Begriff sei meist mit Selbstbetrug verhaftet. Da gebe es
die Liebe die gar nicht existiert, die eingebildete Liebe, die nicht
erwiederte, die erfundene, die heimliche.
Der Mangel an ausgeübtem Sex sei in den meisten Fällen der
Auslöser, dass Personen fremd gehen. Einige Interviews werden
zitiert, um typisches Verhalten zu beleuchten. Eine Frau erzählt,
dass ihr Mann seit 5 Jahren keinen Sex mehr mit ihr hatte, und
sie habe sich damit abgefunden, bis sie herausfand, dass er
eine andere Freundin hatte.
Männer gehen fremd, da sie damit ihr Ego stärken wollen.
Frauen gehen fremd, weil sie von den Ehemännern keine
Zärtlichkeiten und liebevolle Berührungen mehr bekommen.
Ein Zitat: " wir lieben uns nicht mehr, wir ertragen uns noch,
wir vermeiden uns, wir versuchen so wenig wie möglich zu
streiten, damit die Kinder nicht belastet werden".
Und dann gibt es noch die Wortpervertierung, wenn grenzenloser
Hass auf die Frau mit dem Wort "Liebe" tituliert wird, wenn
Männer ihren "Besitz" ermorden, und das als "Liebesbeweis"
hinstellen. Und wenn Frauen diesen Mordversuchen entkommen,
und der Mann sich dann selbst umbringt, weil er psychisch so
schwach ist und unselbstständig, dann sehen dies manche Frauen
als "Beweis" dass er sie wirklich "geliebt" haben soll, anstatt
froh zu sein einem Mörder entkommen zu sein.

Auch wenn der Artikel über "Treue" schreibt, so geht er nicht
wirklich in die Tiefe. Die Autorin unterscheidet auch nicht
Treue zu sich selbst, zu seinen Gefühlen und Bedürfnissen,
und auf der anderen Seite die Abhängigkeit von Sozialzwängen,
Autoritätsabhängigkeit, und ideologischem Glauben an Gesetze,
alles unter dem Begriff "Treue" versteckt.

ciao!
Nicole