„Langbeinige Wesen flanieren an Zäunen“
„Sündenbabel“ Gießen: In der Nachkriegszeit zumindest galt die Stadt als „Shanghai an der Lahn“.
„ANDERSSEIN“ Chantal Glatthaar erforscht „Prostitution in der Nachkriegszeit in Gießen“ / Als Hessensiegerin ausgezeichnet
GIESSEN - (hh). Die Beschreibung war wenig schmeichelhaft. Denn mit „Shanghai an der Lahn“ wurde keinesfalls auf bauliche oder kulturelle Besonderheiten der Stadt Gießen verwiesen. Vielmehr galt die mittelhessische Metropole in den Nachkriegsjahren als „Sündenbabel“, als Hochburg von Schwarzhandel, Kleinkriminaliät und Amüsiermeile. Vor allem die zunehmende Prostitution nahm die Illustrierte „Quick“ im September 1950 in dem reißerisch betitelten Artikel ins Visier. Doch warum wurde gerade Gießen zu einer Hochburg der „leichten Mädchen“ und wie gerieten so viele Frauen in die Rolle der „Anderen“? Diesen Fragen ist Chantal Glatthaar vom Landgraf-Ludwigs-Gymnasium (LLG) nachgegangen – und zwar in ihrer Arbeit „,Sie wissen, daß man sie verachtet, daß ein neues Leben für sie in den meisten Fällen unmöglich sein wird.‘ Die Prostitution in der Nachkriegszeit in Gießen“. Und damit zählt die Neuntklässlerin zu den Hessensiegern im „Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten“.
Die Folgen des Zweiten Weltkrieges waren für Gießen dramatisch. Schließlich lagen etwa 67 Prozent der gesamten Stadtfläche in Trümmern. Die Innenstadt war nach den Bombenangriffen der Alliierten sogar zu 97 Prozent zerstört. Die Lebensbedingungen der Menschen waren nach Kriegsende also denkbar schwierig. Es fehlte an Wohnraum und Lebensmitteln. Die Arbeitslosigkeit war hoch und vor allem rund um den Bahnhof hatte sich ein florierender Schwarzmarkt etabliert. Während zahlreiche Amerikaner als Besatzer in der Stadt lebten, kamen auch immer mehr Flüchtlinge aus dem Osten an die Lahn. Es lässt sich also festhalten, „dass die Bewohner von Gießen mit einigen Erschwernissen zu kämpfen hatten, es ihnen meist nicht sonderlich gut ging und es kein Kinderspiel war, sich ein auch nur weitgehend ,normales‘ Leben aufzubauen“, schreibt Chantal Glatthaar in ihrer Arbeit. Und dieser mühsame Überlebenskampf sei auch einer der Hauptgründe gewesen, „warum sich meist junge Frauen für Geld hingaben“. Denn durch die Prostitution sei es für sie und ihre ganzen Familien einfacher geworden. „Die Existenz war gesichert. Sie wurden mit Naturalien, Zigaretten und/oder Luxusartikeln bezahlt. Diese Sachen konnten die Frauen dann auf dem Schwarzmarkt umtauschen oder zu Geld machen.“
Die Schülerin hat herausgefunden, dass das Geschäft mit der Prostitution in Gießen international gewesen ist. Die Frauen kamen aus ganz verschiedenen Ländern. Aber rund 14 Prozent von ihnen waren auch Gießenerinnen. Allesamt haben die Damen damals offenkundig sehr viel Wert darauf gelegt, dass ihre Profession nicht sofort erkannt wird: „Sie laufen nicht eindeutig aufgeputzt umher, sondern kleiden sich dezent. Sie besitzen Dutzende von Kleidern, die neuesten Schuhmodelle und einen Pelzmantel“, heißt es in einem zeitgenössischen Zeitungsartikel. Einige von ihnen behielten ihre Tätigkeiten als Fabrikarbeiterinnen oder Hausangestellte bei. „Sie versuchten also den Rest der ,Normalität‘ ihres früheren Lebens festzuhalten, während sie in ihrem laufenden Leben in das ,Anderssein‘ gedrängt wurden.“
Denn entweder drängte ihre schwierige Lebenssituation die Frauen in die Prostitution oder sie kannten gar keine „Normalität“, weil ihnen käufliche Sexangebote von klein auf bekannt waren, da sich ihre Mütter als Dirnen verdingten. Viele Frauen aber wurden auch von ihren Männern in die Prostitution gezwungen: „Seine neue Gattin spannte er für seine Zwecke ein: Sie musste auf der Straße Amerikaner ansprechen und ,abschleppen.‘“ Denn schließlich bestimmten auch die Männer über die weibliche Sexualität, ein selbstbestimmtes Liebesleben gab es für Frauen nicht. Als „sittlich anständige“ Person hatte sie sich völlig auf ihre Rolle als Hausfrau und Mutter zu konzentrieren. Vorehelicher Geschlechtsverkehr galt bei Männern als „Kavaliersdelikt“. Bei Frauen ging damit ein „Ehrverlust“ und der Ausstoß aus der Gesellschaft einher.
Als entscheidenden Grund für das rasante Ansteigen der Prostitution sieht die LLG-Schülerin „die riesigen Besatzungstruppen der Amerikaner“. Während nämlich die Stadtbevölkerung Abstand zu den Besatzern gehalten habe, ließen sich die „leichten Mädchen“ auch mit afroamerikanischen Militärangehörigen ein. „Wenn die Soldaten abends ihren Dienst beenden, flanieren bereits langbeinige Wesen vor den Zäunen“, heißt es in einem Zeitungsbericht aus dem Jahr 1954. Überhaupt trug auch die Presse dazu bei, „dass die Dirnen ,anders‘ wurden“. Denn die Frauen wurden mit abwertenden Begriffen belegt und dadurch die gesellschaftliche Meinung beeinflusst.
Das geschah vor allem auch im Zusammenhang mit grassierenden Geschlechtskrankheiten. In Hessen hatten sich damals rund zehn Prozent der Bevölkerung angesteckt. Daraufhin untersucht aber wurde nur der weibliche Teil. „Im Monat März 1950 wurden 150 Frauen und Mädchen zwangsweise in die Hautklinik Gießen oder in das Hospital Hadamar eingewiesen“, schreibt die Schülerin.
Zwangsuntersuchungen
Wegen dieser Zwangsmaßnahmen kam es sogar zu Auseinandersetzungen mit den Militärangehörigen. „Immer wieder versuchten auch Soldaten, ,ihre‘ Mädchen aus dem ,Geschlechtskrankenhaus’ zu befreien. Nicht selten kam es dann vor, dass es Schwierigkeiten, wie Schlägereien mit Ärzten, gab.“ Neben diesen bisweilen erniedrigenden Untersuchungen standen auch Razzien in den beliebten Treffpunkten der Prostituierten auf der Tagesordnung. Bestraft aber wurden nur die Frauen und allenfalls die „Kuppler“. Für Männer blieb der außereheliche Sex fast immer ohne juristische Folgen.
http://www.giessener-anzeiger.de/lokale ... 983870.htm
Prostitution in der Nachkriegszeit Giessen
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Prostitution in der Nachkriegszeit Giessen
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Fakten und Infos über Prostitution
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RE: Prostitution in der Nachkriegszeit Giessen
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Geschichte und Gegenwart begreifen
Auch von mir Respekt! Ich bin gespannt auf die Vollversion der Arbeit. Frau Glatthaar scheint sich mit etwas befasst zu haben was auch in der aktuellen Berichterstattung meist fehlt: Die gesellschaftlichen Verhältnisse. Ohne Betrachtung der gerade herrschenden Abhängigkeiten von Kultur und materiellen Besitzverhältnissen bleiben Geschichte und Gegenwart unverständlich.
Welches Problem auch immer in der Gesellschaft besteht-
der Staat weiss eine völlig irre Problemlösung die niemandem nützt, aber Arbeitsplätze im Beamtenapparat schafft. H.S.
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