Wir sind einsame Mädchen

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translena
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Wir sind einsame Mädchen

Beitrag von translena »

Die Welt 20.02.15
"Wir sind einsame Mädchen"

Geschlechtsumwandlungen sind im Iran legal. Doch mit der gesellschaftlichen Akzeptanz von Transsexuellen ist es nicht weit her Von Fritz Schaap

Sie weiß nicht mehr, wie oft sie versucht hat, sich umzubringen. Nur das erste Mal hat sie noch klar vor Augen. Taraneh* war 15, und das Leben in dem kleinen Dorf am Kaspischen Meer im Norden Irans war nicht mehr zu ertragen. Kinder, die mit Steinen auf sie warfen, ein Mann, der versuchte, sie ins Autos zu zerren und zu vergewaltigen; alles wegen ein bisschen Make-up im Gesicht, damals, als sie noch ein Junge war. Sie trug einen Hocker ins Bad, stellte ihn vor den Medikamentenschrank der Eltern, suchte und fand einen Streifen Tabletten. Der Name sagte ihr nichts, aber er war lang, klang chemisch und gefährlich. Sie nahm alle. Sie lacht heute, in Irans Hauptstadt Teheran, 23 Jahre später – kein fröhliches Lachen, ein resigniertes Lachen. "Es waren Abführtabletten."

Sie sitzt heute im Wartezimmer der kleinen Klinik des Arztes Bahram Mir-Djalali im zweiten Stock eines zwischen Bürohäuser gequetschten, kleinen Hauses. Vor der Tür dröhnt der Verkehr auf dem Mirdamad Boulevard in das Zentrum Teherans, die am Fuß der schneebedeckten Berge unter einer Smogglocke liegt. Taraneh trägt ein schwarzes Kopftuch, schwarze Hosen und einen schwarzen, weiten Rock darüber. Unauffälligkeit im Alltag ist das einzige Schutzschild, das sie hat. Eine Patientin ist sie nicht – zumindest nicht heute. Heute begleitet sie einen jungen Mann, der sich von Mir-Djalali behandeln lassen wird – so wie Taraneh es selbst vor zehn Jahren gemacht hatte. Der Eingriff soll aus Shirin, die ihren Jungennamen nicht nennen will, eine Frau machen. Mir-Djalali ist der bekannteste iranische Chirurg für Geschlechtsumwandlungen.

Shirin kommt aus demselben Dorf wie Taraneh. Beide kennen sich, seit sie Kinder waren. Noch immer lebt Shirin dort bei ihren Eltern. Seit fünf Jahren möchte sie sich operieren lassen, endlich eine Frau werden, aus dem Körper entkommen, der für sie nur Qual bedeutet. Der Weg dahin im Iran ist schwierig, obwohl es zunächst nicht so scheint: Ayatollah Ruhollah Chomeini hatte bereits 1963 eine Fatwa veröffentlicht, die besagte, dass die sexuelle Identität eines jeden auf der Wahrnehmung von sich selbst beruhe. Geschlechtsumwandlungen sind im Iran legal; die Regierung unterstützt sogar Männer und Frauen finanziell mit der Übernahme von bis zur Hälfte der Operationskosten. Doch mit der gesellschaftlichen Akzeptanz von Transgendern ist es nicht weit her.

Im Iran werden nach Thailand die meisten Geschlechtsumwandlungen weltweit durchgeführt. Aber das Leben der Transsexuellen ist oft ein niemals endender Spießrutenlauf, der nicht selten in Drogen, Prostitution und Selbstmord endet. Ein Drittel seiner Patienten, so schätzt der Arzt Mir-Djalali, wählt früher oder später den Suizid.

Für Shirin soll die Operation das Ende ihrer Leiden und der Anfang eines neuen Lebens sein. So stellt sie sich das vor. So lange sie zurückdenken kann, fühlt sie sich als Frau. Schon als kleiner Junge holte sie lieber die Kleider der Schwester aus der kleinen Box am Fußende des Bettes. Als sie sechs wurde, fingen die Eltern an, es ihr zu verbieten.

Der Iran ist eine Welt, in der es strikte Regeln und Verbote gibt, geprägt von den von den Vorstellungen der Theologen und Revolutionsgardisten – aber auch immer Wege, sie zu umgehen: In wenigen Ländern ist die Kluft zwischen öffentlichem und privatem Leben so groß. Aber Geschlechtliches, Transsexualität und Homosexualität sind Tabus, selbst in gebildeten Familien.

Der Umgang mit Sexualität zeigt, wie der Iran zwischen diesen Welten oszilliert. Händchenhalten in der Öffentlichkeit ist verboten, das Austauschen von Zärtlichkeit selbstverständlich auch. Hinter verschlossen Türen allerdings werden ausschweifende Sexpartys gefeiert. Der schiitische Glaube und somit auch der Iran erlauben Zeitehen, genannt Sigeh. Man kann sich für Stunden oder Tage verheiraten; Sex ist in dieser Zeit erlaubt. Ziyarat wa Ziyahat – Pilgern und sich Vergnügen gehören zusammen, sagt ein persisches Sprichwort.

Dass der Iran nach Thailand die höchste Geschlechtsumwandlungsrate hat, ist teils auch dieser Widersprüchlichkeit geschuldet. Doch mag sie auf den ersten Blick wie Toleranz wirken, so ist sie auf den zweiten auch ein Mittel, die Homosexuellen von der Straße zu bekommen, fern der Blicke der Gesellschaft. Während man Transsexualität schlicht als etwas durch eine Operation Heilbares betrachtet, als ein zu behebendes Übel, gilt Homosexualität als ebenso verwerflich, aber eben nicht zu "beheben". Schwul sein – im Iran ein Übel, das verfolgt wird. So diskriminiert der Staat Homosexuelle, lässt aber seine Wohlfahrtsorganisation ein Viertel bis zuweilen die Hälfte der Operationskosten von 4000 bis 8000 Euro bei Geschlechtsumwandlungen zahlen.

Über solche Operationen steht im Koran nichts; insofern sind sie auch nicht verboten, erklärt der Kleriker Karaminia, die wichtigste Autorität im Lande für Fragen zur Geschlechtsumwandlung, in Qom. Man kann Getreide nehmen und es in Brot umwandeln, einen Baum in einen Tisch oder Stuhl. All die Umwandlungen, die in der Natur vorkommen. Also könne man auch aus Männern Frauen machen, so die Argumentation des Theologen. Homosexualität allerdings, so Karaminia, sei dagegen vollkommen unnatürlich und mit der Religion nicht zu vereinbaren.

Therapeuten, so erzählen es viele Homosexuelle, raten nicht selten dazu, sich operieren zu lassen oder das Land zu verlassen. Hinter vorgehalten Hand schätzen nicht wenige Therapeuten, die vor jeder Operation besucht werden müssen: 40 bis 50 Prozent aller Transsexuellen im Iran seien eigentlich Schwule, die sich in die Operation getrieben fühlen, um endlich mit Männern zusammen sein zu können.

Nicht so Shirin – sie will und wollte immer eine Frau sein. Auch wenn der Vater versuchte, ihr das auszutreiben, sie schon als Zehnjährige anschrie: "Du hast deine Kindheit hinter dir. Verhalte Dich wie ein Mann." Als sie 15 wurde, hatte der Vater genug. Die Schule hatte sie abgebrochen, die Quälereien durch die Mitschüler waren zu schlimm geworden, und der Vater beschloss, dass in der familieneigenen Autowerkstatt ein Mann aus Shirin werden sollte. "Er ließ mich extra hart arbeiten, um einen Mann aus mir zu machen", erzählt sie mit einer Stimme, die sie aus Protest um mindestens eine Oktave nach oben getrieben hat. "Ich musste schuften wie ein Ochse." Der Vater dachte, man könne die Frau in ihr sozusagen mit dem Schraubschlüssel austreiben. Shirin versuchte, gegen ihr Wesen anzukämpfen, sich anzupassen – aber gegen das Gefühl, im falschen Körper gefangen zu sein, kann man nicht gewinnen.

Als sie 19 war, vor fünf Jahren, begannen die Eltern, ihren Widerstand aufzugeben. Als der Nachbar eines Onkels sich einer Operation zur Geschlechtsumwandlung unterzogen hatte, schien die Schande für die Eltern nicht mehr ganz so erdrückend zu sein. Es gab also noch andere, dachten sie. Die Schläge endeten, und sie veranlassten das Ende der Hormontherapie, zu der sie Shirin gezwungen hatten. Keine weiblichen Hormone, wie Shirin sie gern genommen hätte, nein: Testosteron hatten die Eltern Shirin geben lassen.

Im Wartezimmer überspielt Shirin heute ihre Nervosität, ihre ständige Angst mit gekünsteltem Kichern. Was ihr heute bevorsteht, ist nur eine von drei Operationen. Die Hoden sollen entfernt werden. Alles mit einer OP zu erledigen, dafür fehlt ihr das Geld. In einer zweiten Operation wird Mir-Djilali einen vaginalen Eingang formen, und dann, nach einem weiteren Jahr Hormontherapie, sollen die Brustimplantate einoperiert werden.

Mir-Djalali sitzt in dem kleinen Behandlungszimmer hinter einer geschlossenen weißen Holztür. Ein grauhaariger Mann im Arztkittel, weiche Augen, ein Lächeln auf den Lippen. Seit 20 Jahren ein Vorkämpfer für die Rechte der Trans-, aber auch der Homosexuellen. Er ist sich der Widersprüchlichkeit der Gesetzeslage bewusst. Dass Transsexualität religiös abgesegnet ist und Homosexualität unter Strafe steht, ist ein Zustand, gegen den er seit Jahren ankämpft. Wenigstens die Todesstrafe wird nicht mehr angewandt. Viele Offizielle stimmen ihm hinter vorgehaltener Hand zu, dass die Verfolgung von Homosexuellen ein schlimmer Anachronismus ist. "Aber der Gesellschaft klar zu machen, dass sie keine Kranken sind, das ist eine sehr schwere Aufgabe", sagt Mir-Djalali. Mehr als 1000 Geschlechtsumwandlungen hat der Mediziner bis heute durchgeführt. Neun von zehn Operationen im Iran sind Mann-zu-Frau-Operationen, da es für Männer im falschen Körper gesellschaftlich deutlich härter ist als für Frauen. Offiziell haben ungefähr 20.000 Transsexuelle neue Pässe bekommen; was die richtigen Zahlen sind, weiß indes niemand. Bis zu 150.000 könnten es sein, grobe Schätzungen deuten auf 450 Operationen jedes Jahr hin. In Deutschland sind es schätzungsweise 300.

Shirin sitzt unterdessen im Wartezimmer und bereitet sich darauf vor, in den kleinen Operationssaal im Keller zu gehen. Sie plant, in ein paar Wochen zu ihrer Familie am Kaspischen Meer zurückzukehren. "Sie haben mein Schicksal akzeptiert", sagt sie. Viele tun das nicht; Väter, die mit Messern in der Praxis auftauchen, sind nichts Ungewöhnliches. Andere Ärzte berichten gar von Morden in ihren Wartezimmern. Es ist in den Familien oft vor allem die Angst vor Stigmatisierung, vor dem Hohn der Nachbarn, die sie die Kinder verstoßen lässt. Die Stimmen, die sagen, "mit denen kann etwas nicht stimmen, wenn Gott sie mit so einem Kind straft".

Mir-Djalali kommt ins Wartezimmer und geht mit Shirin zusammen die Treppe hinunter. Shirin geht hinter dem Arzt, den Stolz eines siegreichen Kämpfers im Gang, im Gesicht kämpft die Mimik gegen die Angst. Wenig später liegt Shirin unter einem blauen Laken, nur die Füße und das Gesicht schauen heraus. Ein Arm bewegt sich, schon schwach von der Narkose, über das Gesicht. Ein letztes Foto. Ein letztes Selfie als Mann.

Am nächsten Morgen liegt Shirin, in eine Wolldecke mit Blumenmuster gehüllt, auf einem Sofa in Taranehs Wohnung im armen Süden Teherans. Taraneh steht in roter kurzer Hose und rotem Top in der offenen Küche, Rasierer liegen herum und eine Tüte Pillen für Shirin. Den Herd hat sie nie angeschlossen. Er steht dort wie die Manifestation des gescheiterten Versuchs, vor den Augen der Gesellschaft eine Frau zu sein. Das Zimmer ist karg, wirkt aber nicht ärmlich. Mehr wie ein Ort, an dem gearbeitet, nicht gewohnt wird.

Auf dem Sofa wacht Shirin langsam auf, sichtlich benommen von den Schmerzmitteln. "Ich fühle mich unglaublich befreit", strahlt sie. Sie kann nun mit der richtigen Hormontherapie beginnen. "Und wenn ich dann endlich das Geld für die anderen Operationen zusammen habe, werde ich einen Ausweis erhalten. Einen Ausweis, in dem nichts über meine Vergangenheit zu erkennen ist. Ich fühle mich wie neu geboren." Ab heute darf sie sich offiziell wie eine Frau kleiden, darf auf die Straße gehen, die Locken unter einem Kopftuch, das Make-up im Gesicht nicht mehr als Zeichen der Rebellion, sondern als Zeichen ihrer neuen Weiblichkeit. Sie hat das schwarz auf weiß in Form eines Briefes des Arztes. Es ist das erste Mal, dass sich Körper und Seele zumindest ansatzweise im Einklang befinden. Die stechenden Schmerzen im Unterleib nimmt sie gern in Kauf. Shirin träumt von einem Mann, einem eigenen Schönheitssalon. Sie will den Leuten zeigen, dass man nicht automatisch eine Prostituierte ist, wenn man transsexuell ist. Sie will beweisen, dass man ein normales Leben führen kann.

Taraneh sitzt daneben und hört ihr traurig zu. Zwei Ehen hat sie hinter sich. Sie weiß, wie es meistens läuft: Hören die Schwiegereltern von ihrer Vergangenheit, folgt kurz danach die Scheidung. Aber sie schweigt, sie will Shirin die Hoffnung nicht nehmen. Still denkt sie daran, wie ihre Familie reagierte, an die Worte ihres Vaters: "Wir haben dich geschaffen, wir können dich auch wieder vernichten." Sie denkt an die unzähligen Verhaftungen. Versuche der Polizei, die Transsexuellen einzuschüchtern, um sie von den Augen der Gesellschaft fernzuhalten. Sie schaut auf Shirin, die wieder eingeschlafen ist. Hoffnung, Mitleid, aber auch Stolz liegen in den dunklen Augen.

Am Abend, Shirins Schmerzen haben sich etwas gelegt, beschließen die beiden Frauen, in den Park beim Stadttheater zu gehen. Es ist ein bekannter Treffpunkt für Homo- und Transsexuelle. Sie sind unter Gleichgesinnten. Und doch: "Wir sind einsame Mädchen", sagt Taraneh, während der Park langsam in die Nacht eintaucht. "Wir werden einsam geboren, wir leben einsam, und wir sterben einsam."
*Namen der Personen geändert
http://www.welt.de/print/die_welt/polit ... dchen.html

Doris67
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Beitrag von Doris67 »

Womit wieder einmal belegt wäre, daß Geschlechtsumwandlungen Transphobie nicht bekämpfen sondern erhalten oder sogar fördern.
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translena
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Beitrag von translena »

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Doris67 hat geschrieben:Womit wieder einmal belegt wäre, daß Geschlechtsumwandlungen Transphobie nicht bekämpfen sondern erhalten oder sogar fördern.
So ein Gedanke ist mir noch nie begegnet deswegen bin ich jetzt echt neugierig geworden woraus du das schliesst.

Doris67
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Beitrag von Doris67 »

translena:

Das liegt auf der Hand: Staatlich unter Androhung gesellschaftlichen Ausschlusses "erlaubte" (d.h. de facto erzwungene) Geschlechtsumwandlung bedeutet erzwungene Anpassung an ein transphobes Gesellschaftsmodell, wo alles, was nicht genitalbinär definierbar und eingrenzbar ist (mit allen Konsequenzen für gelebte gesellschaftliche Rollen) nicht existieren darf und, mindestens, unsichtbar gemacht wird. D.h. nichts darf außerhalb des genitalbinären Gendermodells existieren, weil dadurch die hetero(cis)patriarchalische Machtstruktur gefährdet würde.

Der iranische Staat setzt diese Politik der Unsichtbarmachung konsequent und offen sichtbar durch, aber er ist bei weitem nicht der einzige: de facto herrscht dieselbe transphobe Ideologie und Politik m.W. in allen Staaten, meist mehr oder weniger pseudowissenschaftlich verbrämt und/oder gerechtfertigt.

Oben gesagtes sauge ich mir übrigens nicht aus den Fingern, sondern das ist seit mindestens zehn Jahren akzeptiertes Allgemeinwissen im internationalen Trans*aktivismus. Sogar Institutionen wie der Europarat haben das mittlerweile integriert (z.B. in Thomas Hammarbergs Empfehlungen an die Mitgliedsstaaten von 2009).
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