Buchrezension: Nicolaus Sombart, Journal Intime 1982/1983#

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friederike
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Buchrezension: Nicolaus Sombart, Journal Intime 1982/1983#

Beitrag von friederike »

Dies ist ein merkwürdiges Buch, und ein merkwürdiger Autor.

Nicolaus Sombart (1923 - 2008) war der Sohn von Werner Sombart (1863 . 1941) und einer rumänischen Mutter. Der Vater war Jurist und Erbe eines gewaltigen industriellen Vermögens. Er lebte in Berlin-Grunewald in einer schloßartigen Villa mit seiner Familie und sechsköpfigem Hauspersonal und betrieb wirtschaftshistorische Studien, für die er berühmt wurde. Er war Privatgelehrter, das heißt, er hatte auf die Bewerbung um einen Lehrstuhl an der Universität verzichtet, um unabhängig auf eigene Rechnung zu forschen und zu schreiben; ein Gehalt brauchte er dank seinem Reichtum nicht. Er gilt als bedeutender Pionier der wirtschaftshistorischen und soziologischen Forschung, auch heute noch, obwohl seine Neigungen zu Antisemitismus und zum Nationalsozialismus heute nicht mehr übersehen werden.

In Grunewald wohnten die Vermögenden und Bedeutenden in Berlin, ein Nachbar war Walther Rathenau, der Großaktionär und Generaldirektor des bedeutenden Elektrounternehmens AEG, Bestsellerautor und späterer Außenminister, der in den 1920er Jahren von rechtsextremen antisemitischen Terroristen umgebracht wurde, vor seinem Haus im Grunewald. In der Villa Sombart verkehrten bedeutende Leute, Politiker, Künstler, Gelehrte, und Sombart senior besaß eine prachtvolle Bibliothek. Die Mutter unterhielt einen Salon, das heißt, sie gab Abendgesellschaften. Der junge Sombart hat dieer Umgebung offenbar entnommen, dass er etwas Besonderes sei, herausragend talentiert, und das wohlwollende Schulterklopfen der berühmten Gäste seines Vaters für ein Teugnis seiner Begabung gehalten. Er war sicher, ein ebenfalls bedeutender Literat und Wissenschaftler zu werden.

Diese Welt ist mit dem 2. Weltkrieg untergegangen. Die Eltern: gestorben, die Villa: zerbombt und abgerissen, die väterlichen Aktienpakete: wertlos. Nicolaus verfügte noch über die Mittel zu studieren, Philosophie und Staatswissenschaften in Heidelberg, Neapel und Paris, und zu promovieren. Mit einer literarischen Karriere und wissenschaftlichen Laufbahn wurde es nichts, trotz Kontakten zu einflussreichen Personen, und familiäre Beziehungen scheiterten ebenfalls. Er wurde schließlich Beamter beim Europarat und bei der Europäischen Kommission, Leiter einer Kulturabteilung in Straßburg. Diese Posten sind heute noch und waren schon damals hochbezahlt und mit fetten Pensionen ausgestattet. Damit schied Nicolaus S. im Alter von 59 aus und kehrte 1982 als Pensionär mit erfreulichem Cash Flow ins heimische Berlin zurück. Er bezog eine Wohnung in der Hagenstraße 26 in Wilmersdorf. Zu seiner großen Freude wurde er in das "Wissenschaftskolleg zu Berlin" eingeladen, immerhin, das ist eine Einrichtung, in der ungefähr zwei Dutzend Gelehrte und kulturelle Persönlichkeiten ein Jahr in einem Palais in der Wallotstraße zusammenkommen, eine Art Gehalt beziehen, in Ruhe forschen und schreiben, sowie sich täglich zum Mittagessen und wöchentlich zu Vorträgen und Kolloquien treffen - also schon eine Auszeichnung, und auch interessant.

Über das dann folgende Leben schrieb er ein Tagebuch, ein "Journal Intime". Er war, ohne es sich zugeben zu wollen, eine eigentlich gescheiterte Existenz, denn er hatte sich selbst etwas viel Größeres vorgestellt als das, was er schließlich erreichte. Aber dieses Wissenschaftskolleg sagt ihm schon sehr zu, er fühlt sich anerkannt (obwohl seine Meriten eigentlich nicht zur Spitze unter den anderen Gästen zählen), er behauptet, an einem Buch über Kaiser Wilhelm II. zu schreiben, das tatsächlich auch viel später erscheint, ohne große Beachtung zu finden. Er war ein unerträglich eitler, im Grunde frustrierter Schaumschläger (so ein Kritiker später).

Erstaunlich ist (und das ist der Grund, weswegen ich dieses Buch gelesen habe und hier bespreche) seine Bedenkenlosigkeit, seinen Konsum an Sexdienstleistungen offen und ungeschminkt zu schildern. Man denkt an die im Niveau gehobenen Berichte in guten Freierforen. Mindestens einmal pro Woche geht er in ein Bordell oder lässt ein Escortmädchen kommen. Praktischerweise findet sich unweit seiner Wohnung das "Le Petit Château", eines der typischen eleganten und gehobenen Wohnungsbordells in der Hagenstraße 5 (ich kannte das nicht, ich weiß nicht, ob es das heute noch gibt). Dort war er ein regelmäßiger Kunde und offenbar hochzufrieden. Verblüffend sind die Beträge, die er ausgibt. 1.000 DM für einen Escortbesuch, das war damals eine Menge Holz. Die Adressen, soweit nicht die bekannten, entnahm er den Zeitungsanzeigen, was damals wohl gerade ein Durchbruch zu freier Sexarbeit war.

Zu seinem 60. Geburtstag arrangiert er eine gigantische Feier, die so teuer ist, dass er einen befreundeten Zeitungsverleger um eine Geldspritze bitten muss. Er läd eine große Runde von Personen der Society und der Kulturszene ein. Höhepunkt ist eine szenische und musikalische Darbietung, in der sechs nackte Prostituierte auftreten. Auch für das Servieren von Speisen und Getränken heuert er Prostituierte an. Die Gäste sind offenbar mehr verblüfft als beeindruckt, jedenfalls erreicht das Fest auch nicht die ganz, ganz große Wirkung, die sich der Jubilar erwartet hat.

An sich finde ich es ja gut, wenn man in dieser Weise so offen mit Sex und Erotik umgehen kann, wie im alten Rom.

Eine wirkliche literarische Verarbeitung des Themas Prostitution findet man allerdings nicht. Die Frauen kommen und gehen, es bleibt nichts bei der Leserin zurück, und auch die Atmosphäre im Petit Château wird nicht lebendig. Man versteht, dass der Autor nicht den Literaturnobelpreis erhalten hat, von dem er geträumt hat.

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Kasharius
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Re: Buchrezension: Nicolaus Sombart, Journal Intime 1982/1983#

Beitrag von Kasharius »

@friederike

Also deine Rezensionen sind immer ein Hochgenuss :041 . Vielen Dank dafür

Kasharius grüßt

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lust4fun
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Re: Buchrezension: Nicolaus Sombart, Journal Intime 1982/1983#

Beitrag von lust4fun »

Finde deine Besprechung auch klasse.
Danke für die Mühe, es hier zu formulieren, wobei es bei dir ganz mühelos erscheint…

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friederike
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Re: Buchrezension: Nicolaus Sombart, Journal Intime 1982/1983#

Beitrag von friederike »

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