"Östlich von mir", ein Film von Bojena Horackova

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friederike
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"Östlich von mir", ein Film von Bojena Horackova

Beitrag von friederike »

2008 erschien in Frankreich der Film "À l'est de moi" ("Östlich von mir") der Filmkünstlerin Bojena Horackova und löste eine Debatte aus. Der Film ist auf DVD erhältlich, aber eine Synchronisation des (sparsamen) französischen Texts ist leider nicht verfügbar. Die nichtfranzösischen Texte sind mit wiederum französischen Untertiteln unterlegt.

Das Thema des Films ist eine Reise, die die etwa 45jährige Bojena Horackova in der Jetzt-Zeit mit Eisenbahn und Auto von Paris nach Moskau führt. Sie trifft auf die Menschen in Polen, den baltischen Staaten, in Rußland, im Zugabteil, auf den Bahnhöfen, auf den Straßen und öffentlichen Plätzen, zuhause, und führt Gespräche. Dem Reisebericht in einzelnen Abschnitten eingeschoben sehen wir das Leben der 17jährigen Marta, die 1980 eine abenteuerliche Flucht aus dem kommunistischen Prag unternimmt und sich nach Paris durchschlägt mit dem Ziel einer Karriere als Fotomodell.

Man sieht das weite Land, die öden Städte, die Bojena auf ihrer Reise am Anfang des 21. Jahrhunderts durchquert. Bojena selbst tritt ganz zurück hinter ihre Gesprächspartner, man sieht sie meist gar nicht, wenn sie aus dem Off spricht, oder von hinten, nur ein- oder zweimal kann man ihr Gesicht erkennen. Sie ist eine schöne Frau mit einem klugen Gesicht, die junge Marta sieht ihr sehr ähnlich.Die Menschen schildern die deprimierende Wirklichkeit in Osteuropa: das Leben ist trist, farblos, freudlos und öde, die elementare Lebenshaltung, beispielsweise ein Arztbesuch, ist mit Müh und Not erschwinglich. Das schlimmste ist: die jungen Leute, gerade die tüchtigen, und gerade die Mädchen, ziehen fort nach Westen. Und doch ist dieses Land ihre Heimat, hier lebt die Familie, die Eltern, hier sind sie zuhause. Die jungen Leute, die fortziehen, weil sie dort nicht leben können und wollen, reissen eine fürchterliche Lücke, und verlieren selbst den Halt ihrer Umgebung. Aber in der Tristesse dieses Osteuropas zu leben ist unerträglich. Das ist das Thema dieses melancholischen Films.

Dazwischen immer wieder der Sprung zurück zu Marta. In einem lächerlich-altmodischen roten Mantel mit sozialistischem chic kommt sie im modernen, pulsierenden Paris an und landet zunächst in einem Wohnheim, wo sich lauter ähnliche Fälle einen grossen Schlafsaal teilen. Ein erster Job ist, in der Académie des Beaux-Arts, der Kunsthochschule, als Nacktmodell für Malerstudenten zu posieren. Sie versucht, Engagements als Fotomodell zu finden. Ein russisches Mädchen verrät ihr, dass sie sich lieber von Männern bezahlen lässt und sich prostituiert, als sich stundenlangen Castings für Fotoaufnahmen zu unterziehen. Die Männer seien in Ordnung und oft sei es sexuell befriedigend. Sie vermittelt Marta an eine Escort-Agentur. Die Schilderung von Martas Einstieg und ihrem ersten Kundenkontakt ist so zart und erotisch, wie eine solche Darstellung nur sein kann, und kommt dabei ohne Sexszene aus (die einzige Nacktaufnahme ist tatsächlich die Positur in der Kunstakademie). Wir sehen Martas Leben zwischen Bordell, Striptease-Bar, Disko (der damals berühmte "Palace"), Rauschgifterfahrungen, Freundschaften, aber sie kämpft sich auch durch die Schule und wird zur renommierten Kunstakademie IDHEC zugelassen.

Die Szenen mit Marta erscheinen zunächst seltsam emotionslos, still, unwirklich, bis man bemerkt: was wir sehen ist eine zärtliche Erinnerung an eine lange zurückliegende Zeit. Marta ist Bojena, und Bojena erzählt ihre eigene Geschichte. Sie erzählt sie als das schmerzvolle Dilemma zwischen dem wilden Leben in Paris, das Marta gefällt, und dem Trennungsschmerz von der Heimat. Die Menschen im Osten wissen es und sagen es mit trauriger Resignation: wenn die 17jährige Tochter sich auf den Weg macht, ist es eine Trennung für eine lange, lange Zeit, wenn nicht für immer. Sie wissen auch, was "Fotomodell" bedeutet, und die Mädchen wissen es auch, die Menschen sind nicht so naiv, das nicht zu wissen, aber sie nehmen es hin. Bojena schildert Marta, wie sie in dem luxuriösen Bordell einen seltenen Anruf ihrer Mutter aus Prag erhält (damals sehr schwer anzustellen). Die bangen Fragen der Mutter: wie geht es Dir? was machst Du? gehst Du zur Schule? verdienst Du Geld? hast Du eine Wohnung? beantwortet die Tochter brav und knapp und verlogen, aber man spürt, die Mutter weiss genau, wo ihre Tochter gerade ist. Ein Kunde kommt, Marta muss nun auflegen.

Marta wird herausragend gespielt von Patricia Chraskova, einer damals 19jährigen Studentin des Bauingenieurwesens, als Laienschauspielerin. Bojena Horackova wurde in Prag geboren, wohl 1962 oder 1963, und gelangte 1980 nach Paris, um Martas Geschichte zu erleben. Ihre freundliche und positive Darstellung ihrer Prostitution brachte ihr prompt den Vorwurf der Verharmlosung des Gewerbes ein: die Ideologen lassen sich von dem Bericht einer Frau, die dies alles selbst erlebt hat, nicht beeindrucken.

Das Dilemma, die Kluft, das grosse Unglück Osteuropas ist geblieben und besteht auch zwanzig Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs noch. Die authentische Darstellung in dem Film hat mich tief berührt. Bojena Horackova ist eine eindrucksvolle Frau mit einem bewundernswerten Werdegang. Die Idee zu ihrem Film ist grossartig wie auch die Realisierung. Schade, dass das Fehlen der Synchronisation den internationalen Zugang erschwert.

Friederike

rainman
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Beitrag von rainman »

Eigentlich wollte ich zu dem hier vorgestellten Film - vielen Dank, Friederike, das hast Du toll gemacht - nicht Stellung nehmen, da ich ihn (noch) nicht kenne. Die Ausstrahlung des Fernsehfilms "Schuld und Sühne" am vergangenen Sonntagabend im Ersten (mit Hannes Jaenicke und Götz George) lässt aber, wenn schon nicht einen Vergleich, so doch eine Bezugnahme zu, und deshalb möchte ich es doch einmal versuchen:

Das Spannungsverhältnis zwischen der Tristesse der sozialistischen Wirklichkeit im Osteuropa der 80er Jahre und der glamourösen Glitzerwelt der Seinemetropole ist ungemein reizvoll und es erscheint folgerichtig, dass dabei auch die ansonsten so verschwiegene Welt der Prostitution nicht fehlen kann, zumal, da der Berufswunsch "Fotomodell" der Protagonistin fast zwangsläufig in die Nähe dieser Welt führt. Der Vorwurf, die Filmemacherin hätte die Prostitution allzu positiv dargestellt, kann natürlich nicht akzeptiert werden, denn der Streifen ist, auch wenn er auf autobiographische Fakten zurückgeht, ein Kunstwerk und kein Dokumentarfilm.

Wer aber den o.g. Fernsehfilm - ebenfalls kein Dokumentarfilm - gesehen hat (hier geht es um Korruption im Geflecht von Polizei, Drogenhandel und Prostitution; es gibt da keine Sexarbeiterin, die nicht vor irgendetwas Angst hat), der setzt sich wie ich verstört in eine Ecke und denkt: Ach, wie gut haben es doch die bei "sexworker.at" schreibenden Frauen. Ihr einziger wirklicher Feind ist anscheinend das ... Finanzamt.

Liebe Grüße

rainman

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friederike
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RE: "Östlich von mir", ein Film von Bojena Horacko

Beitrag von friederike »

Das ist der Punkt: Prostitution ist unübersehbar in hohem Mass den Gefährdungen von Zuhälterei, Menschenhandel, Drogenhandel ausgesetzt, aber Prostitution ist nicht gleich Zuhälterei, Menschenhandel und Drogendealerei.

Der Beitrag des Films "À l'est de moi" ist aber auch, den Blick auf die Alternative zu richten. Die jungen Menschen in Osteuropa können und wollen nicht warten, bis sich die Lebensverhältnisse dort verbessern. Das würde bedeuten, dass sie ihr Leben in der Tristesse und Unfreiheit zubringen. Ihr Entschluss, nach Westen zu gehen, birgt Gefahren bringt schmerzhafte Trennung. Das ist eine schreckliche Wahl. Für die Mädchen führt der Weg wahrscheinlich in die Prostitution in einer Form.

Mit anderen Worten: was man so oft von "Gutmenschen" im bequemen westlichen Wohnzimmer hört, dass man dafür sorgen müsse, dass diese Menschen und vor allem die Mädchen dort bleiben, wo sie sind, bedeutet für die Betroffenen ein hartes Urteil und Unfreiheit.