Don Giovanni in Milano

Alles, was sonst nirgendwo reinpaßt - hier paßt es garantiert rein...
rainman
verifizierte UserIn
verifizierte UserIn
Beiträge: 377
Registriert: 07.04.2009, 18:00
Wohnort: NRW
Ich bin: Keine Angabe

Don Giovanni in Milano

Beitrag von rainman »

Wer am vergangenen Mittwoch "arte" gesehen hat, konnte Zeuge einer denkwürdigen Neuinszenierung der bekannten Oper "Don Giovanni" von W.A.Mozart an der Mailänder Scala werden. Was hat das mit Sexwork zu tun? Abwarten!

Zunächst: Über die künstlerische Qualität braucht man sich keine Sorgen zu machen; die ist bei der Mailänder Scala quasi vorprogrammiert: Barenboim am Pult, die Netrebko als Donna Anna usw... Interessant war die Inszenierung: Dass da mal ein splitternacktes Bauernmädchen über die Bühne hüpfte - geschenkt. Aber dass es dem Regisseur gelungen ist, die Handlung quasi um 180 Grad zu drehen, ohne dabei einen Buchstaben oder eine Note zu verändern, das erscheint schon bemerkenswert.

Da taucht ganz am Schluss der bereits erstochene Titelheld wieder als Geist aus dem Jenseits auf der Bühne auf und beobachtet, genüsslich ein Zigarettchen rauchend, wie seine Racheengel allesamt zur Hölle fahren - frei nach dem Motto: Was habe ich denn Böses getan? Ich habe Frauen beglückt. Das kann doch keine Untat sein!

Wer sich ein wenig mit dem Leben Mozarts auskennt, wird verblüfft feststellen müssen, dass dieser Erotofix die Handlung seiner o.g. Oper tatsächlich auch so gedeutet haben könnte. In unserer Zeit der Gleichberechtigung von Mann und Frau könnte man jetzt aber auch die Frage stellen: Was hat denn beispielsweise eine SexarbeiterIn Böses getan? Sie hat Männer beglückt (und manchmal auch Frauen). Das kann doch ebenfalls keine Untat sein! Allen Abolitionisten sollte man dies ins Stammbuch schreiben.

LG rainman

Benutzeravatar
Aoife
Senior Admin
Senior Admin
Beiträge: 7067
Registriert: 20.09.2008, 21:37
Wohnort: Ludwigshafen am Rhein
Ich bin: Keine Angabe

Re: Don Giovanni in Milano

Beitrag von Aoife »

Vielen Dank für den tollen Beitrag, lieber rainman!

Und wenn wir einmal die formallogische Möglichkeit, dass alle Entscheidungsträger im Staat geistig minderbemittelt wären, als unwahrscheinlich außer Acht lassen, so bleibt hierfür:

          Bild
rainman hat geschrieben:... könnte man jetzt aber auch die Frage stellen: Was hat denn beispielsweise eine SexarbeiterIn Böses getan? Sie hat Männer beglückt (und manchmal auch Frauen). Das kann doch ebenfalls keine Untat sein!
nur eine Erklärung: Es geht überhaupt nicht um Gut und Böse.

Die implizite Suggestion dass Prostitution "Böses" an sich hätte ist genau die gleiche Irreführung, mit der dem nichts Böses ahnenden Bürger die "Notwendigkeit" eines Gesetzgebers verkauft wird: Die (IMHO vorsätzliche) Verwechslung von Recht mit Gerechtigkeit stiftet eine Gefühlsverwirrung, in der der Einzelne dann nur allzuleicht glauben kann dass etwas "böse" wäre, nur weil ein Souverän (gleichgültig ob Einzelperson oder Gremium) ein sogenanntes Gesetz dagegen erlassen hat.

Kleiner Exkurs: Die islamische (Shia) Zeitehe erklärt sich aus der Tatsache, dass im Islam sowohl Scheidung als auch Eheverträge zulässig sind. Somit ist es nur logisch auch Ehen zu erlauben, die im Ehevertrag neben dem Brautgeld auch gleich die Scheidung nach beispielsweise einer Stunde festschreiben.

Das mag dem christlichen Kulturkreis ungewöhnlich erscheinen, *wenn* jedoch in einem modernen westlichen Staat Scheidung und Eheverträge zulässig sind, dann ist nicht nur das Verbot von Prostitution, sowohl allgemein als auch beispielsweise nur in Wohngebieten oder Sperrbezirken, als auch die Absicht Prostitutionsgewinne zu besteuern, ein schwerer Verrat an den Prinzipien, auf die dieser Staat sich beruft.

Warum genau ein Staat auf diese Weise seine eigenen Prinzipien entwertet und den Kunstgriff der Verwirrung durch Verwechslung von Recht und Gerechtigkeit anwendet um die Menschen darüber hinwegzutäschen bleibt letztlich natürlich Spekulation. Und ist IMHO auch nicht wirklich wichtig zu wissen, es genügt wohl zu erkennen, dass jede hierfür in Frage kommende Möglichkeit ausreicht um zu beweisen, dass der Staat andere, geredezu gegensätzliche, Absichten hat als Gerechtigkeit zu fördern.

Lieber rainman, ich habe absolut verstanden, dass du das den Abolutionisten ins Stammbuch schreiben willst. Nur - ohne einen Staat, der diese Abolutionisten zu seinen eigenen Zwecken einzuspannen bereit ist, wären diese bedeutungslos.

Liebe Grüße, Aoife
It's not those who inflict the most, but those who endure the most, who will conquer. MP.Vol.Bobby Sands
'I know kung fu, karate, and 37 other dangerous words'
Misspellings are *very special effects* of me keyboard

ehemaliger_User
verifizierte UserIn
verifizierte UserIn
Beiträge: 2968
Registriert: 27.04.2008, 15:25
Ich bin: Keine Angabe

Beitrag von ehemaliger_User »

Nur: wer ist dieser obskure Staat? Ein vom Himmel gefallenes Wesen? Oder eher ein paar Machthungrige, die ihr eigenes Ego als Mass aller Dinge sehen?

Dass es nicht um Gut oder Böse geht da gibt es genug Beispiele. Atomausstieg. Terrorismusbekämpfung. Verfassungsschutz (welch zynischer Begriff)...
Auf Wunsch des Users umgenannter Account

Benutzeravatar
Aoife
Senior Admin
Senior Admin
Beiträge: 7067
Registriert: 20.09.2008, 21:37
Wohnort: Ludwigshafen am Rhein
Ich bin: Keine Angabe

Beitrag von Aoife »

          Bild
ehemaliger_User hat geschrieben:Nur: wer ist dieser obskure Staat? Ein vom Himmel gefallenes Wesen? Oder eher ein paar Machthungrige, die ihr eigenes Ego als Mass aller Dinge sehen?
Eine wirklich gute Frage, lieber ehemaliger_User!

Von ihrer Beantwortung hängt ja auch ab welche prinzipiellen Möglichkeiten und welchen Grad der Verbesserung wir für realistisch halten, und was wir für eine (schöne?) Utopie halten. Ich bin mir absolut bewußt, dass ein dem historischen Materialismus anhängender Marxist das völlig anders sehen wird als ich.

Wenn ich also jetzt meine Antwort gebe, dann bitte ich zu beachten, dass das meine Sicht der Dinge ist, ich beabsichtige keinesfalls eine weitere Ideologie mit quasireligiösem Wahrheitsanspruch zu verbreiten - allerdings bitte ich auch darum das einfach einmal auf sich wirken zu lassen und zu überprüfen in wie weit das zur eigenen Lebenserfahrung passt. Immerhin habe ich diese Gedanken von zwei völlig unterschiedlichen Richtungen herkommend entwickelt: Geschichtskenntnis wie "der moderne Staat" sich bei uns eingenistet hat führt zum gleichen Ergebnis wie die von der Kenntnis der menschlichen Psychostruktur ausgehende Überlegung unter welchen psychosozialen Bedingungen der Mensch denn "artgerecht" leben würde.

Dann also meine Antwort:

Der Staat ist ein kollektiver Wahn, der nur darum existiert weil die überwiegende Mehrheit derzeit so fest an ihn glaubt dass er "Realität" wird. So wie im Märchen von "des Kaisers neue Kleider" :002

Historisch entstanden ist dieser Staat im modernen westlichen Verständnis aus dem Versuch die Unerträglichkeiten der relativ neu eingeführten absolutistischen Monarchie wieder loszuwerden. Psychologisch absolut verständlich, aber leider sachlich höchst nachteilhaft war die Verblendung Vieler durch den Haß auf einen ungerechten König, die hieraus folgende Bewußtseinseinengung hat dazu geführt dass sich der Freiheitswille auf die Person des Königs als Feindbild konzentriert hat, anstatt *für* Gerechtigkeit, und somit ein gerechtigkeitsförderndes System, zu kämpfen. Wenn aber aus einer absolutistischen Monarchie nur der Monarch entfernt wird, so bleiben die absolutistischen Unterdrückungsstrukturen erhalten, und auch der Glaube dass das so sein müsste, gottgegeben wäre. Nicht das Gottesgnadentum an sich wurde bezweifelt, sondern nur die Person, die sich anmaßte dass ausgerechnet sie von ihrer Geburt her ein Recht hätte den Spitzenplatz im Gottesgnadentum innezuhaben.

Im modernen westlichen Staat sehen wir also eine absolutistische Monarchie vor uns, die von ganz erheblichen Bevölkerungsteilen als gottgegeben und unanzweifelbar geglaubt wird - allerdings mit der Lücke dass praktisch niemand an das Erbrecht einer bestimmten Person auf die Funktion des Monarchen mehr glaubt.

Auch wenn das ganze "nur" ein Glaubens(Wahn?)system darstellt, eine solche Lücke ist wie ein physikalisches Vakuum, entwickelt einen massiven Sog. Viele werden angezogen und würden sie gerne ausfüllen und nur die in diesem krankhaften System relativ geeignetsten schaffen es. So entsteht der Eindruck ein paar machthungrige Wahnsinnige seien tatsächlich so mächtig, dass es ihnen gelingt den Staat zu kidnappen. Ich sehe das umgekehrt: Der allgemeine Glaube an die Notwendigkeit eines Staats erzwingt das Auftreten einiger schwerstgestörter Narzissten um die vakante Funktion auszufüllen.

Diese Staatsform wurde durch das British Empire zur weltweiten Norm was ein Staat darzustellen hat - sowohl durch gewaltsame staatsterroristische Verbreitung des Systems als auch durch seine Vorbildfunktion hinsichtlich der "Entwicklungs"möglichkeiten für andere europäische Monarchien.

Andere "Staatsformen" wie beispielsweise afrikanische Stammesmonarchien möchte ich von dieser Kritik ausdrücklich ausnehmen - sie mögen die gleichen oder andere Fehler haben, ich aber will mich nur zu dem äußern was ich auch kenne.

Liebe Grüße, Aoife
It's not those who inflict the most, but those who endure the most, who will conquer. MP.Vol.Bobby Sands
'I know kung fu, karate, and 37 other dangerous words'
Misspellings are *very special effects* of me keyboard

Benutzeravatar
Marc of Frankfurt
SW Analyst
SW Analyst
Beiträge: 14095
Registriert: 01.08.2006, 14:30
Ich bin: Keine Angabe

Wie Sex auf der Bühne dargestellt wird

Beitrag von Marc of Frankfurt »

Steile These, interessant.


Hier die Staatsableitung wirtschaftlich erklärt:
www.sexworker.at/phpBB2/viewtopic.php?p=85737#85737

Benutzeravatar
Aoife
Senior Admin
Senior Admin
Beiträge: 7067
Registriert: 20.09.2008, 21:37
Wohnort: Ludwigshafen am Rhein
Ich bin: Keine Angabe

Beitrag von Aoife »

          Bild
Aoife hat geschrieben:Ich bin mir absolut bewußt, dass ein dem historischen Materialismus anhängender Marxist das völlig anders sehen wird als ich.
Auch wenn ich das so sehe, so glaube ich doch, dass auch eine sachliche Auseinandersetzung mit:

          Bild
Marc of Frankfurt hat geschrieben:Hier die Staatsableitung wirtschaftlich erklärt:
www.sexworker.at/phpBB2/viewtopic.php?p=85737#85737
absolut möglich ist.

Mein zentraler Kritikpunkt an der marxistischen Theorie bezieht sich hierauf:

          Bild
Marc of Frankfurt hat geschrieben:Doch über die Staatsentstehung, die so weit zurückliegt gibt es nur mythische Vorstellungen.

....
  • Inhalt des folgenden Filmclips:
  • Bürgerliche Staatstheorien (Volk, Gebiet, Staatsmacht) sind ideologisch aufgeladene zirkuläre Konstruktionen seit dem 15.-18.Jh. verstanden als Gesellschaftsvertrag des aufgestiegenem Bürgertums in Abgrenzung zum untergegangenen Feudalismus.
In der von mir im obigen Zitat fett hervorgehonen Behauptung zeigt sich IMHO dass die marxistische Theorie in gutbürgerlicher Manier ebenfalls auf einem ideologisch aufgeladenen zirkulären Konstrukt beruht.

Woraus sich dann auch zwanglos erklärt, warum der Marxismus trotz aller beanspruchten Wissenschaftlichkeit und historischen Objektivität letztlich Glaubenssätzen des Bürgertums aus dem er hervorgegangen ist, so eben auch dem Glauben dass die Notwendigkeit einen Staat zu haben gottgegeben ist, so dass der Glaube ein kommunistischer Staat sei das maximal erreichbare Optimum zwar subjektiv verständlich, dadurch jedoch keineswegs richtiger wird.

Beweis:

Zwar wissen wir über exotische Staatsformen wie beispielsweise vor Jahrtausenden im Mesopotamien wirklich zu wenig, als dass wir hieraus irgendetwas praktisches ableiten können, jedoch sind solche Staatsgründungen gerade deshalb für uns hier und heute irrelevant.

Die für den heutigen nach britischem Muster weltweit propagierten Staat bedeutsamen Staasgründungen liegen keineswegs in mythischer Ferne. Bei uns im O'Neill-Land (heutzutage Süd-Derry und Tyrone sowie Randgebiete der angrenzenden Grafschaften) wurde der Feudalismus 1542 eingeführt. Und das keineswegs schlagartig erfolgreich, das "Flight of the Earls" 1607 war das Ergebnis eines mißlungenen politischen Lavierens der beiden betroffenen Fürsten zwischen den Ansprüchen des britischen Lehensgebers und des traditionell anarchistischen Volkes.

Und noch heutzutage funktioniert die Indoktrination dass es einen solchen Staat überhaupt geben müsste so schlecht, dass "Staat" mit Waffengewalt durchgesetzt werden muss. Gut, seit 1999 haben wir ein Friedensabkommen (GFA) und arbeiten deshalb auf politischer Ebene, aber niemand soll sich darüber hinwegtäuschen lassen dass ein drohender politischer Erfolg von Großbritannien wohl kaum ohne erneute militärische und propagandistische Gegenwehr hingenommen werden wird.

Somit haben wir zwar nicht "mitten in Europa", sondern eher randständig, jedoch durchaus in Reichweite ein Gebiet, das zwar (fremd)staatlich besetzt ist, die eigentliche Staatswerdung durch Missionierung der Bevölkerung dass ein Staat unverzichtbar wäre jedoch seit einigen Jahrhunderten nicht zum Abschluss gebracht werden konnte.

Vor diesem Hintergrund sehe ich die marxistische Staatstheorie als durchaus beachtenswerte Beschreibung des ist-Zustands, bin jedoch der Überzeugung dass die geschichtliche Erklärung auf dem Boden bürgerlicher Mythen konstruiert und somit haltlos ist. Zumindest gibt es ernstzunehmende Hinweise darauf, dass die für Nordirland beschriebene Entwicklung einige Jahrhunderte zuvor in vergleichbarer Form auch in Mitteleuropa stattgefunden hat - ein seit Urzeiten bestehender Feudalismus als Staatsform, der dann durch das Bürgertum abgelöst wurde und aufgrund dessen eigenen Fehlern besser durch einen kommunistischen Staat ersetzt würde, ist jedenfalls nicht wirklich nachweisbar. Vielmehr scheinen wie in Nordirland auch in Mitteleuropa Feudalismus und Bürgertum beide zwei relativ neue Erfindungen (oder Importe?) zu sein.

Ich darf an die Geschichte von Herzog Rollo erinnern, als dieser die Normandie zum Lehen bekam: Sein Lehensherr verlangte von ihm, dass er ihm bei der Zeremonie die Füsse küssen sollte, und Rollo löste das Problem indem er sich kurz bückte, den König bei den Füssen packte und diese auf bequeme Mundhöhe brachte, so dass der König rückwärts vom Stuhl fiel und in dieser Position die Füße geküsst bekam. Muss ungefähr um das Jahr 910 gewesen sein, und ich kann mir kaum vorstellen dass das Ereignis mit einem seit Urzeiten bestehenden Feudalismus in Einklang zu bringen ist. Viel wahrscheinlicher scheint da doch dass der (französische in diesem Fall) König da ganz neue Sitten eingeführt hat.

Liebe Grüße, Aoife
It's not those who inflict the most, but those who endure the most, who will conquer. MP.Vol.Bobby Sands
'I know kung fu, karate, and 37 other dangerous words'
Misspellings are *very special effects* of me keyboard