Ein lesenswerter Leserbrief an die ZEIT Redaktion

Beiträge betreffend SW im Hinblick auf Gesellschaft bzw. politische Reaktionen
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fraences
Admina
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Ein lesenswerter Leserbrief an die ZEIT Redaktion

Beitrag von fraences »

Sehr geehrte Damen und Herren in der ZEIT-Redaktion,

Ihre Artikelsammlung zum Thema "Prostitution" in der aktuellen ZEIT fordert mich zu den folgenden Bemerkungen heraus:

Ein großer Dank gebührt meiner Auffassung nach Miriam Lau (S. 2) und Anna-Katharina Messmer (S. 50), die den Mut haben, in ihren Artikeln entgegen des allgemeinen Meinungsmainstreams Positionen zum Thema Prostitution zu vertreten, die für die Mehrheit der Gesellschaft offenbar kaum aushaltbar sind. Während Bernd Ulrich in seinem Leitartikel doch sehr in der weitverbreiteten "Alle-Prostituierten-sind-Opfer-und-müssen gerettet-werden-Haltung" festklemmt, lässt Miriam Lau die selbstbewusste Johanna Weber zu Wort kommen, der ganz offensichtlich nicht unterstellt werden kann, dass sie sich der Prostitution nur als Opfer von Menschenhandel und Zwang zugewandt hat. Wie erfreulich, dass Miriam Lau endlich einmal ausspricht, was so gerne in medialer Berichterstattung untergeht: dass sich nämlich die von Alice Schwarzer ins Feld geführten gestiegenen Zahlen im Bereich Menschenhandel und Prostitution nicht durch polizeiliche Statistiken belegen lassen.

Ich zweifle nicht an, dass es Fälle von "Zwangsprostitution" gibt, die dann für mich allerdings eher unter dem Begriff "Vergewaltigung" oder "sexuelle Nötigung" zu subsummieren wären. Dass allerdings der ganze Berufszweig nur anhand einer geringen Prozentzahl von "Opferfällen" beurteilt wird, finde ich mehr als befremdlich. Man beurteilt doch auch nicht das Immobiliengeschäft anhand weniger Immobilienbetrüger oder die Institution Ehe anhand jener Fälle, in denen sie durch Gewalt zwischen den Partnern gezeichnet ist.

Die in Miriam Laus Artikel skizzierte Haltung der jüngeren GRÜNEN befremdet mich ebenso. Wie kommt es eigentlich, dass eine junge Generation so moralinsauer daher kommt! Ich frage mich, woher junge GRÜNE und andere Bürger das Recht nehmen, die – zudem noch angezweifelte – Freiwilligkeit in der Prostitution Arbeitender als "zum Heulen" zu bewerten.
Iris Radischs Feuilleton-Artikel zeigt, was dabei herauskommt, wenn man, geleitet von der eigenen Emotionalität, das Handeln anderer meint bewerten zu müssen. Vermutlich würde nicht nur die "naturgeile Doris" ihren Job als Prostituierte nicht ausüben, wenn es kein Geld dafür gäbe, sondern auch Frau Meier im Supermarkt an der Kasse und Frau Müller im Warenlager eines Internetversandhandels. Wer würde überhaupt seinen Job ausüben, wenn es dafür kein Geld gäbe? Vermutlich nur Idealisten – warum sollte das in der Prostitution anders sein?

Die von Iris Radisch geforderte Angleichung an das schwedische Modell der Freier-Kriminalisierung erschreckt mich. Ebenso die dahinter erkennbare Grundannahme, Sex gegen Geld und die Trennung von Liebe und Sexualität seien nicht in Ordnung. Wie in Ordnung ist es denn, dass tausende Männer am Wochenende in Diskotheken versuchen, eine Frau aufzureißen, die – in der Hoffnung auf eine partnerschaftliche Beziehung – ein One-Night-Stand mitmacht und am nächsten Morgen mit Ernüchterung erwacht, wenn sie feststellt, dass sie hier dem Modell "Trennung von Liebe und Sexualität" aufgesessen ist. Das geschieht wohl tausendfach im privaten Bereich. Ist das demnächst auch verboten?

Insgesamt habe ich den Eindruck, dass die in vergangenen Jahrhunderten geübte Haltung der Diskriminierung von Prostituierten als böse und schlecht einer heute als zeitgemäß empfundenen Viktimisierung gewichen ist. Wen man nicht lassen kann, weil man sie/ihn nicht aushält, der ist Opfer, dem muss geholfen werden. Zwangsbeglückung statt Zwangsprostitution.

Mit freundlichem Gruß

E.S. B. aus Frankfurt
Wer glaubt ein Christ zu sein, weil er die Kirche besucht, irrt sich.Man wird ja auch kein Auto, wenn man in eine Garage geht. (Albert Schweitzer)

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malin
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Beitrag von malin »

Ein in der Tat sehr lesenswerter Brief, da hat sich jemand wirkliche Gedanken zum Thema gemacht und diese auch sehr klar und ruhig formuliert.

Vielen Dank liebe Fraences fürs einstellen, und ebenso vielen Dank dem unbekannten Verfasser.
liebe grüsse malin

eventuell fehlende buchstaben sind durch meine klemmende tastatur bedingt :-)

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friederike
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RE: Ein lesenswerter Leserbrief an die ZEIT Redaktion

Beitrag von friederike »

Ein wirklich sehr guter Leserbrief mit sehr klarer Argumentation. Ich fürchte, ich kann so etwas nicht schreiben - ich bin in dieser Debatte einfach zu emotional, mir gehen die Pferde durch ...

rainman
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Beitrag von rainman »

Kann ich gut verstehen, liebe Friederike, frau/man sollte indes die Gelassenheit in der Auseinandersetzung etwas üben; das verspricht Erfolg. Die Argumente und Motivation seiner Gegner genau zu kennen ist Voraussetzung, um ihnen wirkungsvoll etwas entgegensetzen oder gute Kompromisse schließen zu können. Wer das im politischen Bereich gut konnte, war der alte Bismarck. Als der weg war, ging alles schief.

Liebe Grüße, rainman