Soll man Prostitution entkriminaliseren oder verbieten?

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fraences
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Soll man Prostitution entkriminaliseren oder verbieten?

Beitrag von fraences »

"15 Euro für einen Blowjob, nicht 100"

Von Siobhán Geets

Soll man Prostitution entkriminalisieren oder verbieten? Die "Wiener Zeitung" lud zwei Kontrahentinnen zum Streitgespräch.


"Wiener Zeitung": Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International (AI) will sich nun weltweit für eine Legalisierung von Prostitution einsetzen. Stimmt Sie das zuversichtlich, Frau Amesberger?

Helga Amesberger: Ja, ich begrüße diese Resolution. Entkriminalisierung ist ein Beitrag zur Gewährleistung von Menschenrechten. Entscheidend für die Arbeitsbedingungen von Sexarbeiterinnen sind Faktoren wie Arbeitsmarkt- und Migrationspolitik sowie Fremdenrechte. In Österreich ist Prostitution vorwiegend in Bordellen oder ähnlichen Einrichtungen genehmigt, Hausbesuche sind in manchen Bundesländern erlaubt, Wohnungsprostitution ist überall verboten. Straßenprostitution ist mittlerweile auch in Wien sehr eingeschränkt. Die Bordellbetreiberinnen und -betreiber haben dadurch große Gestaltungsmacht, sie können bestimmen, welche Frauen sie arbeiten lassen und welche sexuellen Dienstleistungen angeboten werden. Das wäre anders, würde man den Frauen mehr Rechte zusprechen.


Die Oscarpreisträgerinnen Meryl Streep, Kate Winslet und Emma Thompson haben einen Protestbrief an AI verfasst. Schließen Sie sich dem an, Frau Riegler?

Susanne Riegler: Ja, ich habe ihn auch unterschrieben. Ich befürworte die weltweite Legalisierung von Prostitution keinesfalls. Ich kenne kein kriminelles Netzwerk, seien es die chinesischen Tiraden oder sei es die italienische Mafia, das ohne Erlöse aus der Prostitution auskäme. Für eine Menschenrechtsorganisation ist es höchst fragwürdig, dieses System legalisieren zu wollen. Amnesty spricht von der Entkriminalisierung der Sexarbeit. Man diskutiert aber nicht darüber, was Frauen erdulden müssen. Wir wissen, dass Männer, die Sex kaufen, zu höherer Gewalttätigkeit neigen.

Kann man Prostitution überhaupt abschaffen? Man spricht vom ältesten Gewerbe.

Riegler: Dieser Ausdruck ist eine Verharmlosung. Es ist klar, dass wir Prostitution nicht verhindern können, wenn Frauen keine Alternativen haben. Wir müssen ihnen Wahlmöglichkeiten bieten.

Amesberger: Da gebe ich Ihnen völlig recht, aber ich glaube nicht, dass wir das durch eine Kriminalisierung erreichen. Ich sehe nicht, wie sie für Chancengleichheit eintreten und die Bedingungen von Frauen am Arbeitsmarkt verbessern wollen, gleichzeitig aber für eine Kriminalisierung sind. Wenn man etwas verbietet, das hat man in Schweden gesehen, dann entsteht ein krimineller Markt mit höheren Gewinnspannen, von denen Dritte profitieren. Deshalb verstehe ich nicht, wieso Sie gegen das Verkaufsverbot von Sex auftreten.

Riegler: Ich kenne sowohl Prostituierte, die ausgestiegen sind, als auch solche, die noch im Geschäft sind. Sie waren alle obdachlos. Prostitution gegen Obdachlosigkeit zu tauschen war für diese Frauen die einzige Überlebensoption. Man kann von Frauen doch nicht verlangen, dass sie mit ihrem Körper den Preis für eine ungerechte Welt zahlen. Deswegen müssen wir es ihnen leichter zu machen, einen regulären Job zu finden. Ich bin nicht für eine Kriminalisierung der Prostituierten, im Gegenteil: Das nordische Modell entkriminalisiert sie, bestraft werden die Männer.

Amesberger: Sie werden nicht kriminalisiert, aber die Ausübung des Geschäfts wird ihnen de facto unmöglich gemacht. Alle Personen, die Prostitution irgendwie unterstützen, können bestraft werden: Gestalter von Webseiten für Sexarbeiterinnen, Taxifahrer, die sie zum Kunden bringen, und Vermieter, auch, wenn die Wohnung nur privaten Zwecken dient. Es gibt Fälle, in denen Sexarbeiterinnen sogar das Sorgerecht entzogen wurde.

In Schweden nehmen die Übergriffe auf Sexarbeiterinnen zu, seit Prostitution verboten ist. Sie können nicht mehr zur Polizei gehen ...

Amesberger: Die Frauen haben keine Zeit mehr, über das Geschäft zu verhandeln, sie müssen sich rasch mit dem Kunden einig werden, um nicht von der Polizei erwischt zu werden, und können nicht abtasten, ob ein Kunde gewalttätig sein könnte. Das ist ein ziemlich schizophrenes Gesetz: Ich darf etwas verkaufen, das niemand kaufen darf.

Riegler: Wie können Sie dieses Gesetz für schizophren erklären? Es ist Teil eines großen Gesetzespakets, es geht um Gleichbehandlung in vielen Bereichen. Die Schweden haben viele Studien bemüht und zehn Jahre diskutiert.

Amesberger: Können Sie mir eine Studie nennen, die belegt, dass sich die Arbeitsbedingungen für die Sexarbeiterinnen in Ländern mit einem Sexkaufverbot tatsächlich verbessert haben?

Riegler: Ich kann Ihnen den Gegenbeweis liefern. In Ländern, in denen Prostitution liberalisiert ist, etwa in Deutschland, hat das nichts gebracht. Was Sie fordern, ist nirgends aufgegangen: Weder ist die Gewalt gesunken, noch haben Sexarbeiterinnen Arbeitsverträge oder mehr Rechte. Bei der Gewerkschaft haben sich nur 44 Frauen angemeldet. Sie sprechen überhaupt nicht von den Frauen, die aussteigen wollen!

Amesberger: Natürlich reden wir darüber - wenn es Alternativen gibt. Die Frauen, die ich interviewt habe, hatten durchaus Alternativen.

Riegler: Wie viele von Ihren 85 Interviewten konnten das wirklich abwägen? Die sind ja nicht repräsentativ.

Amesberger: Natürlich sind 85 Sexarbeiterinnen nicht repräsentativ. Aber von ihnen haben sicher 80 Prozent gesagt, dass sie sich das wohl überlegt haben: Will ich weiterhin in der Fabrik in Ungarn oder Rumänien arbeiten oder versuche ich es als Sexarbeiterin in Österreich. Sie treffen ihre eigenen Entscheidungen.

Frauen gehen also in die Prostitution, weil sie so mehr Geld verdienen als beim Billa an der Kassa?

Riegler: Die, mit denen ich spreche, sagen etwas anderes. Sie wissen, dass die Frauen 15 Euro für einen Blowjob bekommen, keine 100. Diese Mär kommt von einer ausgesuchten Gruppe von Vorzeigefrauen, die man in Talkshows sieht. Das sind Studentinnen oder eine andere Minderheit.

Amesberger: Ich beschönige keinesfalls die Bedingungen in der Sexarbeit. Aber es gibt mehr als reinen Zwang und freie Wahl. Oft sind es mehrere Motive, die dazu führen, dass sich eine Frau für die Sexarbeit entscheidet. Das heißt auch nicht, dass sie das ihr Leben lang machen will. Die Opferstilisierung hilft den Frauen in keiner Weise: Dadurch werden weder Arbeitsplätze geschaffen, noch gibt es mehr Unterstützung für Opfer von Menschenhandel.

Es gibt viele unterschiedliche Formen der Prostitution: Straßenstrich, Laufhaus, Studios, Eskort...

Amesberger: Die kursierenden Zahlen dazu sind mit Vorsicht zu behandeln. Es gibt viele Studien, aber keine repräsentative. Die Nobelprostitution ist aber sicher der kleinere Teil. Wie viel die Frauen verdienen, hängt von vielen Faktoren ab: Das sind individuelle Faktoren, aber auch strukturelle.

Riegler: 80 Prozent oder 90 Prozent in Wien allein sind Migrantinnen und gehören häufig marginalisierten Gruppen an. In kaum einem anderen Job ist das Risiko, ermordet zu werden, so hoch wie in der Prostitution. Das ist doch nicht vereinbar mit sämtlichen Gleichbehandlungsbemühungen! Es darf nicht selbstverständlich sein, dass Männer den Körper einer Frau kaufen und damit machen können, was sie wollen. Das hat ja nicht "nur" Auswirkungen auf die betroffene Frau, sondern auf uns alle.

Viele Frauen wehren sich gegen die Aussage, ihr Körper stünde zum Verkauf. Sie sprechen von einer Dienstleistung.

Riegler: Man muss unterscheiden: Wer arbeitet, verkauft seine Arbeitskraft. Bei der Sexarbeit gehört dazu, dass ich auch meinen Körper verkaufe, meine Integrität und meine Körperlichkeit.

Amesberger: Sie verkaufen doch nicht ihren Körper! Jede Pflegerin, jede Krankenschwester, jeder Bauarbeiter arbeitet mit dem Körper.

Riegler: Das ist zynisch, wenn Sie das so vergleichen.

Amesberger: Nein, überhaupt nicht. Ihre Behauptung, dass die Männer über den Körper der Frau bestimmen, stimmt so nicht. Das ist eine Ausverhandlungssache. Die Sexarbeiterinnen berichteten mir, dass ganz klar ist, welche sexuellen Praktiken sie anbieten. Will der Kunde etwas anderes, muss er sich eine andere suchen.

Welche Modelle sind Ihrer Meinung nach erstrebenswert?

Riegler: Das nordische Modell, es scheint mir das beste zu sein, weil es bei der Nachfrage, den Sexkäufern, ansetzt.

Amesberger: Das neuseeländische Modell, das Prostitution entkriminalisiert, bewährt sich seit mehr als zehn Jahren: Der Markt hat sich nicht vergrößert, Frauen arbeiten jetzt unabhängiger und weniger in klassischen Bordellen. Sie sind weniger Gewalt ausgesetzt, haben Arbeits- und Gewerberechte. Das Verhältnis zur Polizei hat sich verbessert, Übergriffe werden nun gemeldet. Bei der Gesetzesausarbeitung wurden Sexarbeiterinnen miteinbezogen. Das ist das Manko des schwedischen, deutschen und österreichischen Modells, wo das nicht passiert ist.

In Wien gibt es seit dem neuen Prostitutionsgesetz quasi keine Straßenprostitution mehr. Begrüßen Sie das?

Riegler: In Wien herrscht das Florianiprinzip. Die Frauen von der Straße woandershin zu verschieben ist alles andere als eine ehrliche Politik. Ich bin für ein Sexkaufverbot, egal ob auf der Straße oder im Bordell.

Ist der illegale Bereich gewachsen?

Amesberger: Man weiß nicht, ob die Frauen, die zuvor auf der Straße waren, jetzt in Bordellen oder in Privatwohnungen sind. Sicher ist, dass ihre Wahlmöglichkeiten massiv eingeschränkt wurden. Die Möglichkeit, geringe Fixkosten zu haben und keine Angaben an Betreiberinnen und Betreiber bezahlen zu müssen, wurden eindeutig zerstört.

Zu den Personen

Helga Amesberger,

(links) ist für die Entkriminalisierung von Prostitution. Die Sozialwissenschaftlerin arbeitet seit 1993 am Wiener Institut für Konfliktforschung. Zu ihren Schwerpunkten gehören Rassismus, nationalsozialistische Verfolgung von Frauen sowie feministische Forschung. Ihre Studie zu Sexarbeit in Österreich erschien 2014. Fotos:Katrin Bruder

Susanne Riegler

(rechts) ist für ein Sexkaufverbot nach schwedischem Vorbild. Die Fernsehjournalistin, Autorin und Regisseurin arbeitet unter anderem für den ORF. In ihrem Dokumentarfilm "Der lange Arm der Kaiserin" (2012) befasste sie sich mit der Geschichte der Abtreibungspolitik in Österreich.

http://www.wienerzeitung.at/nachrichten ... t-100.html
Wer glaubt ein Christ zu sein, weil er die Kirche besucht, irrt sich.Man wird ja auch kein Auto, wenn man in eine Garage geht. (Albert Schweitzer)

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