Nora Bossong: "Rotlicht"

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friederike
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Nora Bossong: "Rotlicht"

Beitrag von friederike »

In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom heutigen 20.02.2017 widmet das Feuilleton die halbe erste Seite der Autorin Nora Bossong, deren Buch über ihre Recherche im Rotlchtmilieu Berlins heute erscheint:

Nora Bossong ist gerade 35 geworden. Die Literatin ist mit Romanen und Lyrikbänden hervorgetreten. In ihrem Zeitungsartikel stellt sie die Frage, warum es so wenig Frauen als Kundinnen der Prostitution gibt. Eine Antwort entnehme ich dem Artikel nicht.

http://plus.faz.net/evr-editions/2017-0 ... 21890.html

Das Buch werde ich lesen und, wenn es sich lohnt, hier besprechen.

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Melanie_NRW
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RE: Nora Bossong: "Rotlicht"

Beitrag von Melanie_NRW »

Den FAZ-Link kann man leider nur mit Abo lesen?


Dazu ergänze ich mal dieses Interview der Welt:

https://www.welt.de/print/welt_kompakt/ ... igend.html


Habe das Buch noch nicht gelesen, und habe es auch nicht vor :)
Wäre aber gespannt auf eine Beurteilung...
Ein Freund meinte, ich hätte Wahnvorstellungen. Da wäre ich fast von meinem Einhorn gefallen!

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friederike
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Beitrag von friederike »

Oh! Ich stelle gerade fest, dass mein Abo auch ausgelaufen ist ...

Danke aber für den Hinweis auf das WELT-Interview. Ich finde es schon wieder etwas abtörnend. Ich kann einfach nicht bestätigen, dass Kunden die Prostituierten respektlos behandeln. Und dieses dämliche Argument, der Wunsch nach Einkommen sei ein Motiv, die Prostitution auszuüben, somit handele es sich doch weit überwiegend um Zwangs- oder Armutsprostitution, das taucht wieder einmal auf.

Mal sehen, was das Buch hergibt.

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Beitrag von Doris67 »

Zumal der Wunsch nach Einkommen, bzw. der Zwang, in dieser Gesellschaft ein Einkommen haben zu müssen, die Motivation zur Ausübung von 99.9 % aller Jobs sein dürfte...
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friederike
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Beitrag von friederike »

Genau!

Das ist ein Kernthema in der verworrenen Argumentation der AbolistInnen: "x % der befragten Prostituierten würden sofort aufhören, wenn sie in der Lotterie gewönnen ...", "x % geben als wesentlichen Grund an, ein Einkommen zu benötigen ....", "x % der Befragten geben an, damit mehr zu verdienen als zuhause in Rumänien ... "

Aus irgendwelchen Gründen glauben z. B. die Autoren des prostSchG, man täte den Betroffenen den größten Gefallen, wenn man ihnen diese Einkommensmöglichkeit wegnimmt.

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Beitrag von Doris67 »

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friederike hat geschrieben: Aus irgendwelchen Gründen glauben z. B. die Autoren des prostSchG, man täte den Betroffenen den größten Gefallen, wenn man ihnen diese Einkommensmöglichkeit wegnimmt.
Glauben tun die das nicht, nur behaupten. Und der Grund dafür heißt schlicht "dem Raubtierkapital noch mehr schechtbezahlte Lohnsklaven verschaffen".
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Kasharius
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Beitrag von Kasharius »

Also wenn ich in der Lotterie gewinne, dann höre ich auch auf zu arbeiten. Und im übrigen arbeite ich nur und ausschließlich fürs Geld (aus keinem einzigen anderen Grund!) von dem ich übrigens auch nichts habe weil neben Finanzamt, Kammer und Vermieter auch 7 - Paar Hände offengehalten werden. Ich frage also: WER RETTET MICH?????

Kasharius grüßt

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RE: Nora Bossong: "Rotlicht"

Beitrag von friederike »

Ich habe mehrere Vorschläge, um gegen die Zwangsanwaltschaft vorzugehen:

- Eine Anmeldepflicht gibt es Gottseidank schon, aber keine Gesundheitsberatung und kein regelmäßiges Beratungsgespräch, das den Antragstellern Alternativen und Ausstiegsmöglichkeiten aufzeigt; dies sollte dringend geändert werden

- Mandanten, die sich wissentlich eines Anwalts oder einer Anwältin bedienen,der oder die diesem Beruf aus wirtschaftlicher Not nachgeht, oder weil er oder sie von Familienangehörigen oder Dritten zur Ausübung der Anwaltstätigkeit gebracht werden, oder weil ihm oder ihr die Einsichtsfähigkeit für die Entscheidung fehlt, sollten mit empfindlichen Bußgeldern belegt werden; dies gilt auch, wenn der Mandant keine Kenntnis von solchen Umständen hatte, aber sich solche Kenntnisse hätte verschaffen müssen

- Betreiber von Anwaltskanzleien oder Anwaltsstätten sollten eine besondere Genehmigung benötigen, auch dann, wenn sie selbst zugelassene Anwältinnen oder Anwälte sind

- Anwaltsfahrzeuge sind auf jeden Fall als Anwaltsstätten zu behandeln

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Kasharius
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Beitrag von Kasharius »

@friederike,

super! Das bringe ich auf der nächsten Kammerversammlung ein...

Kasharius grüßt

P.S. Bitte verzeiht meinen zynismus, aber anders kann ich mich diesen puplizierten Vorurteilen nicht mehr nähern...

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friederike
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Nora Bossong: "Rotlicht"

Beitrag von friederike »

Nora Bossong, "Rotlicht", Hanser-Verlag 2017, 20 Euro

In diesem Buch versucht jemand, nachzudenken und zu verstehen. Nora Bossong ist keine Journalistin (obgleich sie gelegentlich journalistische Arbeiten in der ZEIT, der FAZ und der taz publiziert), keine Schreiberin von Skandalmemoiren, sie ist eine ambitionierte Literatin, die mit angesehenen Preisen ausgezeichnet wurde. Sie "wollte nicht mehr verschämt am System vorbeigehen", sie "wollte sehen, was tatsächlich geschieht" im Rotlicht, "diesen traurigen, banalen, rätselhaften Tauschprozess" verstehen, "die rotlackierte Tür" aufstoßen. Sie hat die großen Filme gesehen, Belle de Jour von Buñuel, Jeune et Jolie von Ozon, hat Susan Sontag und Elfriede Jelinek gelesen. Nun unternimmt sie eine Reise durch eine Tabledance-Bar, über eine Sexmesse, in ein Tantrastudio, sie besucht einen Pornoproduzenten, begibt sich in ein Sexkino, einen Swingerclub, sie streicht über die Kurfürstenstraße, wo sie mit zwei ungarischen Nutten spricht, besucht Laufhäuser und Saunaclubs, eine Sexparty und zum Schluss ein Wohnungsbordell in Berlin-Charlottenburg. Ein Jahr war sie unterwegs, meist mit männlicher Begleitung durch einen Bekannten oder Freund. Sie wollte "eindringen in die verwaltete Lust", Sexualität verstehen und darüber schreiben, und zwar als Frau. Herausgekommen ist diese literarische Reportage.

Dabei wird es durchaus auch Realität. Im Tantra-Studio erlebt sie einen Orgasmus, eine Erfahrung, die sie ziemlich durchschüttelt. Im Wohnungsbordell macht sie einen Dreier mit ihrem Begleiter und einer Prostituierten. Wir lesen dabei nichts über die Handlung selbst, nur über die Wirkung dieser Erfahrung auf sie. Es ist ja nicht so, dass das Rotlicht nur auf Männer anziehend wirkt. Auch Nora Bossong beschäftigt sich damit und spielt mit Gedanken. Eine Frage, die sie sich immer wieder stellt (und nicht beantwortet), ist, warum es nur so wenig käuflichen Sex für Frauen gibt. Frauen brauchen das nicht, sagt Viktor, ihr momentaner Begleiter, wenn eine Frau Sex will, bekommt sie ihn immer umsonst. Aber vielleicht will sie auch den unbelasteten, freien und käuflichen Sex? Die Tantra-Masseuse sagt, sie hätte inzwischen genauso viele weibliche wie männliche Kunden.

Mit Bina und Angelina, den beiden ungarischen Prostituierten auf der Kurfürstenstraße, redet sie eine bezahlte Stunde lang im Stundenhotel Stockholm in der Nähe der Kurfürstenstraße. Von den beiden erhält sie ein realistisches Bild und erfährt, wie nüchtern und rational die Osteuropäerinnen ihre Entscheidung treffen. Sie erfährt von Danys leider doch noch verlorenem Kampf gegen die Dortmunder Sperrbezirksverordnung, und sie erfährt von Hydra und Alice Schwarzer, die sich beide als Kämpferinnen für Frauenrechte fühlen. Sie unterhält sich mit der Leiterin der Dortmunder Gewerbeverwaltung, die die unsägliche Sperrbezirksverordnung vertritt, und findet, diese habe "das Beste versucht", aber konnte "unmöglich das Beste für die Frauen erreichen".

Leider taucht die bekannte und berüchtigte Huschke Mau auch hier wieder auf, die ihre Opferrolle eingeübt hat und auch hier wieder dramatisierend zum Vortrag bringt. Nora Bossong führt mit ihr ein Telefonat (!). Ohne eine Linie Koks zum Frühstück sei die Arbeit im Bordell nicht zu machen gewesen, lamentiert Huschke Mau, Prostitution entstehe "immer aus Machtgefällen", sei "rassistisch", bei Sexualität drehe es sich immer um einen Machtkampf. "Es geht vielen der Männer um Erniedrigung, und das gefährdet alle anderen Frauen auch." Nora Bossong fehlt die Kritikfähigkeit, um die verworrenen Vorbringungen der Huschke Mau zu zerlegen. Sie bleibt beeindruckt, obwohl sie nichts von deren Äußerungen hinterfragen kann und will, die sich immer im Bereich der unbelegten Behauptungen bewegen. Nora Bossong merkt gar nicht, dass sie einen wesentlichen Teil ihrer Meinungsbildung von einer Telefonstimme bezieht, deren Authentizität ihrer Schilderungen überhaupt nicht belegt ist. Es gibt ja Gründe zu vermuten, dass Huschke Mau das Fake bestimmter feministischer Gruppierungen ist.

Überhaupt ist dies der entscheidende Mangel dieses Buches: Nora Bossong fehlt die analytische Kraft, und dies nicht nur im rationalen Bereich, sondern auch im literarischen Erleben. Die vollständige Niederlage der Staatsanwaltschaft Berlin vor den Gerichten in deren skandalösen Vorgehen im Artemis-Fall versteht sie nicht. Sie kann die verwirrten Aussagen der Huschke Mau nicht einordnen. Sie bemerkt nicht, dass die Hurenvertreterinnen das ProstSchG unisono ablehnen und dass dies Gründe haben könnte. Sie dringt auch in weite Bereiche des Rotlichts gar nicht ein. Das Artemis zum Beispiel lässt sie als Zaungästin nicht ein, sie ersetzt es durch den Palais d'Amour in Hamburg, was etwas ganz anderes ist. Escorts bleiben unbeachtet. Auch dort, wo sie sich umschaut, gelingt es ihr niemals, den Kordon ihrer mitgebrachten Voreinstellungen zu durchbrechen. Sie beschäftigt sich mit ihren Machtspiel-Theorien, anstatt sich für das Erleben ihrer Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner wirklich zu öffnen und zu interessieren. Ernsthaft gesprochen hat sie vielleicht mit einer Handvoll Sexarbeiterinnen.

Eigentlich bleibt sie das bürgerliche Mädchen, als das sie sich oft zitiert, das einen Blick in den verbotenen Bücherschrank ihres Vaters tut. Auch wenn sie wirklich zweimal Prostitution in Anspruch nimmt - sie lässt sich nicht auf diese Art der Sexualität ein, sie bleibt bei der schaurig-schönen Schreckvorstellung des verruchten Geschlechtsverkehrs mit einem Unbekannten. Sie schaudert, wenn sie hört, dass im Palais d'Amour die Frauen auf den Arbeitszimmern übernachten. Ihr gehen die kreiselnden Ideen des Feminismus nicht aus dem Kopf, die Sexualität als Geschlechterkampf sehen wollen anstatt Geschlechterbegegnung.

Das Buch ist sprachlich gut geschrieben, die Autorin versteht ihre Sprache einzusetzen, es steht deutlich über den üblichen Enthüllungsbüchern in diesem Feld. Und immerhin hat sich die Autorin weit vorgewagt, für ihre Verhältnisse jedenfalls, wenn es ihr denn auch nicht gelungen ist, wirklich über die Schwelle zu treten und die rotlackierte Tür mehr als nur einen Spaltweit zu öffnen. An poetischer Kraft, an Blickschärfe und Verständnis für ein Milieu jedoch ist ein Buch wie Im Stein von Clemens Meyer deutlich überlegen - auch, wenn es von einem Mann geschrieben ist.

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Kasharius
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Beitrag von Kasharius »

Meine liebe @Friederike

da eine Quellenangabe fehlt gehe ich davon aus, daß Du diese Rezension verfasst hast...!? Ganz großartig und zwar sprachlich und inhaltlich. Also verstehe das hier bitte - im übertragenden Sinne - als echte Liebeserklärung an Deine Sprache, Deinen Stil und Dein Engagement.

Kasharius grüßt schwer beeindruckt

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Beitrag von friederike »

@Kasharius, :053 :054
vielen Dank

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Beitrag von fraences »

Vielen Dank, Friederike
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Beitrag von Doris67 »

Kurz: das Buch erweist Sexarbeiterinnen einen Bärendienst. Wie so oft, wenn Außenstehende an unserer Stelle sprechen.
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Beitrag von friederike »

Ja, das muss man leider so sagen.

Mein Eindruck ist, dass gerade für Frauen diese Darstellung der Huschke Mau eingängig ist. Nora Bossong ist durchaus mit einer liberalen und vernünftigen Einstellung in ihre Recherche gegangen. In den verschiedenen Locations ist sie fremd, mit der Umgebung nicht vertraut. Sie fühlt sich unsicher, sie fühlt sich unwohl. Sie schafft es nicht, wirklich offene Gespräche zu führen, warum sollten die Sexarbeiterinnen sich auch spontan einer solchen Fremden öffnen?

Natürlich hat sie von vorne herein das Gefühl: "Ich könnte das nicht ..."

Und dann kommt eine Huschke Mau und heult ihr etwas vor. Diese Frau (wenn es sie gibt) ist offenbar völlig kaputt, ein psychopathischer Fall. Ihre Prostitution als (Haupt-)ursache hat sie natürlich selbst diagnostiziert, und sie projiziert offensichtlich ein bestehendes Desaster auf dieses Umfeld.

Eine Nora Bossong durchschaut das nicht. Ich verstehe nicht, warum sie sich nicht mit anderen Sexarbeiterinnen unterhalten hat. Es ging ihr natürlich nicht um eine journalistische Recherche, sondern um einen literarischen Text. Dazu ist ein Gespräch mit einem pathologischen Fall auch nicht gerade das richtige.

Wie gesagt: Clemens Meyer hat gezeigt, wie man es machen kann, andere wie Nelly Arcan auch, sogar der alte Joseph Kessel ist tiefgründiger.

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RE: Nora Bossong: "Rotlicht"

Beitrag von lust4fun »

Nora Bossong:
http://taz.de/Debatte-Frauenrealitaeten/%215384528/

"Der Verfall an Respekt, der sich auf der Straße manifestiert, wenn eine Frau 30 Euro wert ist, wenn sie gekauft und besessen werden kann..."

Sie schreibt eben nicht: Der Respekt verfällt, wenn die Sexarbeit nicht als Dientsleistung verstanden wird, sondern die Sexarbeiterin als billiges Kaufobjekt betrachtet wird...
Sie schreibt von der Manifestation des Besitzes als Grundstruktur.

Das ist nicht nur unglücklich formuliert. Das ist bemerkenswert für jemanden, der ein Buch zum Thema schrieb, das ernst genommen werden will.

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Beitrag von Doris67 »

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friederike hat geschrieben:Ich verstehe nicht, warum sie sich nicht mit anderen Sexarbeiterinnen unterhalten hat. Es ging ihr natürlich nicht um eine journalistische Recherche, sondern um einen literarischen Text. Dazu ist ein Gespräch mit einem pathologischen Fall auch nicht gerade das richtige.
Sexarbeit ist meines Erachtens überhaupt kein Thema für von keinerlei Realitätsverständnis beleckte literarische Texte, solange Sexarbeiter/-innen weltweit um ihre Existenz kämpfen müssen, und dabei auch noch jede Menge Schwierigkeiten haben, sich überhaupt hör- und sichtbar zu machen. Wir brauchen nicht gutmeinende aber kontraproduktive Literaten/-innen, sondern aktive politische Solidarität.

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RE: Nora Bossong: "Rotlicht"

Beitrag von friederike »

Ja, richtig - aber ich finde schon, dass Sexarbeit ein Thema für künstlerische und literarische Behandlung ist, wie es ja viele Autoren und Autorinnen vorgemacht haben.

Aber wenn sich die Literatur in die Politik vorwagt, muss sie auch den Ansprüchen genügen, die man an eine politische Information richten muss. Die Grenze ist sicher nicht ganz messerscharf zu ziehen, aber sie ist auch nicht so fließend, dass man die beiden Genres nicht auseinanderhalten kann. Und als politisch verwertbare Recherche ist Nora Bossongs Buch nicht ausreichend, und ein bloßer Erlebnisbericht muss seine Grenzen erkennen und einhalten.

Inzwischen hat auch die FAZ eine Rezension gebracht, die auch zu dem Ergebnis kommt, dass es dem Buch nicht gelungen ist, wirklich in die Welt des Rotlichts einzudringen. Das gilt sowohl für das Werk als Literatur als auch, wenn man es als Sachbuch lesen will.

Im Grunde haben wir hier auch diese nervende Erscheinung, dass jemand seine rein subjektiven Empfindungen und seine nicht wirklich erlebten Vorstellungen in eine politische Botschaft ummünzen und dann anderen zur Vorschrift machen will. All diese Frauen nerven, die mit dieser Gedankenfolge in die Öffentlichkeit treten: "Huh, ich könnte oder wollte niemals Sexarbeit machen", "weil ich eine Frau bin kann ich also sagen, dass keine Frau das freiwillig macht", "deshalb gehört es verboten, reguliert, unterdrückt" ...

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Beitrag von Doris67 »

Wenn schon künstlerische Bearbeitungen von Sexarbeit, dann bitte von Sexarbeitern/-innen. Wir können nämlich auch lesen und schreiben... Grisélidis Réal z.B. ist ein guter Anfang.
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Re: RE: Nora Bossong: "Rotlicht"

Beitrag von Doris67 »

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friederike hat geschrieben: Im Grunde haben wir hier auch diese nervende Erscheinung, dass jemand seine rein subjektiven Empfindungen und seine nicht wirklich erlebten Vorstellungen in eine politische Botschaft ummünzen und dann anderen zur Vorschrift machen will. All diese Frauen nerven, die mit dieser Gedankenfolge in die Öffentlichkeit treten: "Huh, ich könnte oder wollte niemals Sexarbeit machen", "weil ich eine Frau bin kann ich also sagen, dass keine Frau das freiwillig macht", "deshalb gehört es verboten, reguliert, unterdrückt" ...
Ja, wie schon zig mal geschehen und gelesen. Und genau das ist zutiefst hurenfeindlich und kontraproduktiv für unsere Entstigmatisierung. Das muß sich diese Autorin zurecht vorhalten lassen.