Die brisante Dokumentation über den Babystrich mitten in Wien – nun bereits in zweiter Auflage erschienen
Wien – Elf Jahre sind die jüngsten Kinderprostituierten auf dem Wiener Straßenstrich. Kostenpunkt für den Sex mit Minderjährigen: Französisch ab dreißig Euro, Verkehr ab etwa sechzig, wobei viele Freier auf den Verzicht von Kondomen bestehen. Manche suchen gezielt nach verwahrlost wirkenden Mädchen. Fast alle der interviewten Straßenstricherinnen wurden bereits misshandelt, zu Praktiken gezwungen, die sie nicht wollten, oder vergewaltigt. Manche Freier werfen die Mädchen nach dem Sex einfach aus dem Auto. Diese haben Vorsichtsmaßnahmen entwickelt wie: "Keine Schals im Winter tragen wegen Erwürgen".
Tina Ring und Carolin Tener haben sich mit ihrem Buch "Auf dem Strich. Mädchenprostitution in Wien" eines Themas von kaum zu überschätzender Brisanz angenommen, über das dennoch kaum Untersuchungen existieren. Erstmals erschienen ist es im Milena-Verlag im November des Vorjahres. Da es laut Verlagsleiterin Vanessa Wieser "innerhalb von drei Monaten" vergriffen war, ist nun bereits die zweite Auflage erhältlich. Die Arbeit ist unvermindert aktuell, zumal politisch seitdem noch kaum etwas unternommen wurde, wie Wieser anmerkt.
Entstanden ist die Studie aus der Diplomarbeit der beiden Absolventinnen der Wiener FH für sozialwissenschaftliche Berufe. Sie haben 25 Mädchen zwischen vierzehn und 23 Jahren interviewt, die illegal auf dem Wiener Straßenstrich arbeiten – im Stuwerviertel und in der Mariahilfer Straße – und allesamt noch keine achtzehn waren, als sie mit der Prostitution begonnen haben. Zusätzlich haben Ring und Tener ExpertInnen, etwa StreetworkerInnen und Kriminalbeamten, konsultiert. Das Buch ist leicht lesbar, da es zahlreiche Interviewpassagen und Zitate enthält, die die Autorinnen durch ihre eigenen Analysen in einen festen Rahmen gebracht haben.
Fast alle waren schon zuvor traumatisiert
Zu den Hintergründen für den Einstieg in die Prostitution machen Ring und Tener klar: Fast alle Mädchen, die als Minderjährige einsteigen, waren schon zuvor Gewalt, Vernachlässigung oder sexuellem Missbrauch ausgesetzt. In einigen Fällen warf der Tod einer wichtigen Bezugsperson sie aus der Bahn. Mehrere hatten schon Suizidversuche hinter sich, etliche waren von zu Hause weggelaufen oder in Heimen gelandet. Doch diese seien meist nicht auf Jugendliche eingestellt gewesen, die an keine geregelten Lebensabläufe gewöhnt sind, konstatieren die Autorinnen – so wurden einige Mädchen von einer Anstalt in die andere geschoben.
Der erste Schritt in die Prostitution sei meist nicht als Ergebnis einer bewussten Entscheidung erfolgt, sondern oft "prozesshaft". Manche sind durch Bekannte hineingerutscht. Besonders Ausreißerinnen müssen rasch Geld für das tägliche Leben aufstellen, viele sind außerdem suchtmittelabhängig. Ein weiteres Motiv: "ein massives Gefühl von Einsamkeit", das die Autorinnen bei fast jedem befragten Mädchen fanden. So sei "für manche schon alleine der Sex mit Freiern eine Möglichkeit, um Interesse, Zuneigung bzw. Beachtung zu erhalten". Beim ersten Mal haben fast alle das Gleiche empfunden: Ekel. "Ich hab mich so mit Drogen vollgepumpt, dass ich das eigentlich nimmer mitkriegt hab", erinnert sich eine. Dennoch ist das Leben als Straßenstricherin für manche immer noch das kleinere Übel gegenüber dem Leben in Heimen oder bei der gewalttätigen Familie.
Ihrem Schicksal überlassen
Die meisten Mädchen sind in einem gesundheitlich desolaten Zustand: Weit verbreitet: Hepatitis C, Tabletten- und Drogensucht, bei einigen auch Aids. Zu Eltern und Geschwistern besteht häufig kein Kontakt mehr, auch sonstige Beziehungen außerhalb des Milieus sind rar. Die Mädchen bezeichnen sich selbst nicht als Prostituierte, sondern beschreiben ihre Tätigkeit als etwas Vorübergehendes, von dem sie weg wollen. Das Selbstwertgefühl ist durchgängig schwer beeinträchtigt, Depressionen und Angstzustände sind gang und gäbe. Eine drückt ihr Lebensgefühl so aus: "Meine Seele ist schon fast tot." Zwar würdigen die Autorinnen, dass es sich bei den jungen Prostituierten um organisatorisch versierte Lebenskünstlerinnen handle, betonen aber gleichzeitig, dass diese sich von Tag zu Tag hanteln und es kaum realistisch sei zu erwarten, sie könnten allein und ohne Hilfe aussteigen.
Hier setzt auch die Kritik am Umgang von Politik und Gesellschaft mit dem Problem an: dass es in Wien keinerlei Unterstützungseinrichtung für jugendliche Prostituierte gibt. Auch die Rechtslage nehmen Ring und Tener ins Visier: Demnach machen sich Freier für Sex mit Minderjährigen zwar strafbar, zu Verurteilungen kommt es aber fast nie. Die Stricherinnen dagegen fassten oft Verwaltungsstrafen aus, was zur Folge habe, dass sie noch mehr Freier bedienen und Gefängnisstrafen absitzen müssten. "Minderjährige Prostituierte ihrem Schicksal zu überlassen", schreiben Ring und Tener in ihrem Resümee, "ist verantwortungslos und unwürdig für eine Gesellschaft, die Sexindustrie fördert". (dieStandard.at/Gerlinde Pölsler/6. September 2007)
"Auf dem Strich. Mädchenprostitution in Wien", Tina Ring / Carolin Tener, Milena Verlag 2007, Wien, 192 Seiten.
http://diestandard.at/?url=/?id=3023655