Comic: Chester Brown - Paying For It

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Comic: Chester Brown - Paying For It

Beitrag von ehemaliger_User »

Graphic Novel

Auf Freiersfüßen

Der Comicautor Chester Brown hat sein Leben mit Prostituierten als Graphic Novel aufgearbeitet – sensibel, schonungslos und provokant. "Paying For It" zeigt, welches Potenzial der autobiographische Comic noch hat.

Beim ersten Mal fühlt er sich wie verwandelt: "Eine Last, die ich seit meiner Pubertät mit mir herumschleppte, war verschwunden." Kurz zuvor war der Autor bei "Carla" gewesen, einer Prostituierten – und der ersten Frau, mit der er sich beim Sex ganz natürlich fühlte, wie er schreibt.

"Paying For It" heißt das neue Buch des Kanadiers Chestern Brown, der mit Titeln wie der auch auf Deutsch erschienenen Erzählung "Fuck" ("I Never Liked You") in den späten 90er Jahren zu den Pionieren der neuen Welle autobiographischer Comics gehörte, die auch deutsche Zeichner wie Mawil oder Arne Bellstorf beeinflusst hat.

Mit seinem neuen 280-Seiten-Werk, das dieser Tage in die nordamerikanischen Buchläden kommt, zeigt sich der inzwischen 50-jährige Brown erneut als kompromissloser Meister des Genres.

Und er weiß zu provozieren: So kontrovers wie dieses Buch wurde schon lange kein Comic mehr in den nordamerikanischen Medien besprochen, beim Toronto Comic Arts Festival in der vergangenen Woche war "Paying For It" das mit Abstand meistdiskutierte Werk.

Wieviel Trinkgeld gibt man eigentlich?

Das liegt auch an dem Mut, ein so allgemeingültiges wie tabuisiertes Thema wie die Inanspruchnahme von Prostitution als autobiografische Erzählung zu behandeln. Zwar ist das in Browns Heimatland Kanada heikler als in Deutschland, da dort käuflicher Sex teilweise illegal ist. Aber diese rechtlichen – und zumindest in Nordamerika hochpolitischen – Fragen sind nur eine der vielen Ebenen von "Paying For It". Im Zentrum stehen die manchmal irritierenden und traurigen, oft aber einfach sachlich-funktionalen und zumindest für Chester Brown beglückenden Beziehungen zu den Frauen, die er aufzusuchen begann, als er nach dem Ende seiner letzten monogamen Zweierbeziehung beschloss, künftig nur noch auf Freiersfüßen zu wandeln.

Brown präsentiert sich in klaren, reduzierten Linien und in sachlichem Erzählton als stoischer Charakter, der nach mehreren misslungenen festen Beziehungen zu Frauen nicht mehr an die Idee der romantischen Liebe glaubt. Sein Problem: Das Verlangen, keine feste Freundin mehr zu haben, ist ebenso stark wie das Verlangen nach Sex. Also beginnt er, erst zögerlich und voller ambivalenter Gefühle, später dann immer selbstverständlicher, Prostituierte aufzusuchen.

Dabei lässt er den Leser an den Gedanken teilhaben, die ihm durch den Kopf gehen – angefangen von der Frage, wie viel Trinkgeld man wohl geben sollte, bis hin zu den von Frau zu Frau variierenden Überlegungen, was während des Geschlechtsverkehrs wohl im Kopf der anderen Person vorgehen mag. Das ist schonungslos offen und zugleich sensibel geschildert. Die Frauen sind dabei – laut Brown auch zu ihrem eigenen Schutz – anonymisiert gezeichnet und tragen falsche Namen, lassen aber durch die Dialoge unterschiedliche Persönlichkeiten erkennen. Dennoch ist klar: In diesem Buch geht es weniger um die Prostituierten – dies ist ein faszinierender Ausflug in die Gefühls- und Gedankenwelt des Freiers, dem die Frauen letztendlich lediglich als Projektionsfläche seiner sexuellen Wünsche dienen.

Das mag und wird bei vielen Lesern Widerspruch provozieren. Wie er in seiner Schilderung die Frauen auf wenige körperliche Attribute reduziert, wie er ihre Vorzüge oder Nachteile mit anderen Freiern auf den einschlägigen Websites diskutiert – das kann man mit gutem Grund abstoßend finden. Der Grad an Intimität, die Brown seinem Publikum zumutet, dürfte manchen schockieren, seine kühl vorgetragenen Ansichten über die Prostitution muss man keineswegs teilen – aber unberührt lässt das Werk einen nicht, denn es wirft grundlegende Fragen über den oft funktionalen Charakter menschlicher Beziehungen auf, die viele Leser auch noch lange nach der Lektüre beschäftigen dürften.

„Aus dem Schatten der Scham treten”

Als Korrektiv der Brown'schen Gedanken und Wahrnehmungen fungieren Gespräche mit seinen Ex-Freundinnen und vor allem den Künstlerfreunden Seth und Joe Matt, die beide den nordamerikanischen Autorencomic ebenfalls sehr bereichert haben. Jeder hinterfragt auf seine Weise das Handeln des geschätzten Freundes Chester – teils aus moralischen Motiven, teils aus schierem Unverständnis und teils aus dem Glauben an die Überlegenheit der romantisch begründeten Zweierbeziehung gegenüber dem käuflichen Sex.

Mit verblüffender Ehrlichkeit und in sachlichem Ton bringt Chester Brown Licht in eine Schattenwelt, die nennenswerten Teilen der männlichen Bevölkerung nicht unbekannt ist – über die aber kaum jemand in der ersten Person auf so selbstverständliche Weise sprechen würde wie dieser Autor, der bereits in früheren Jahren mit Erzählungen wie "The Playboy" (über seine jugendliche Faszination für die gleichnamige Zeitschrift) gezeigt hat, dass auch die frustrierenden Seiten der sexuellen Selbsterfahrung adoleszenter Männer großartiger Comicstoff sein können – wenn sie denn mit der nötigen Reflektionsfähigkeit und einer gehörigen Prise Selbstironie vermittelt werden.

Wie um sich zusätzlich abzusichern, hat er seinem Buch mehrere Zitate von Expertinnen hinzugefügt, die sich analytisch mit der Prostitution beschäftigen und die seine Darstellung begrüßen. So leitet die ehemalige Prostituierte Veronica Monet, die sich inzwischen als Autorin und Aktivistin für die Rechte von Prostituierten einsetzt, das Buch mit dem Wunsch ein, "dass andere Freier aus dem Schatten der Scham treten und sich so engagiert wie Chester für unsere Rechte einsetzen".

Dass es auch gänzlich andere Sichtweisen auf das angeblich älteste Gewerbe der Welt gibt, macht Brown besonders am Schluss des Buches deutlich: Gut 50 Seiten lang sind die illustrierten Fußnoten, in denen er kritische Sichtweisen der Prostitution diskutiert und sich mit Einwänden und Vorurteilen auseinandersetzt.

Ein aufklärerisches, anrührendes, intimes, kontroverses und erzählerisch packendes Buch, das man nach den ersten Seiten nicht mehr aus der Hand legen mag. Eine deutsche Ausgabe ist bislang nicht geplant, wie Chester Brown dem Tagesspiegel kürzlich am Rande des Toronto Comic Arts Festivals sagte. Bleibt zu hoffen, dass nach genauerer Lektüre doch noch ein deutscher Verleger erkennt, was für ein Meilenstein dieses Buch für die weitere Etablierung des erwachsenen Comics mit Anspruch ist.

Chester Brown: „Paying For It“, Drawn and Quarterly, 280 Seiten, Vorwort von Robert Crumb, ca. 15-17 Euro (online u.a. bei Amazon erhältlich, außerdem in gut sortierten Comicläden)

Tagesspiegel 12.05.11
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friederike
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Re: Comic: Chester Brown - Paying For It

Beitrag von friederike »

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ehemaliger_User hat geschrieben:
...., bis hin zu den von Frau zu Frau variierenden Überlegungen, was während des Geschlechtsverkehrs wohl im Kopf der anderen Person vorgehen mag.

Vielen Dank für den Hinweis - das besorge ich mir. Ich finde es gut, wenn ein Autor sich gerade diese Frage stellt.

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RE: Comic: Chester Brown - Paying For It

Beitrag von friederike »

Inzwischen habe ich das Buch gelesen. In Ergänzung zu dem ausführlichen Kommentar möchte ich anfügen:

"Paying for it" ist ein graphisches Tagebuch des prominenten Autors und Cartoonisten Chester Brown, in dem er seinen Einstieg als Kunde von Prostituierten und seine Erlebnisse über etwa zehn Jahre seines Lebens festhält.

Zu Beginn des Buches ist Chester Brown der Lebensgefährte von Sook-Yin Lee, die ihrerseits in Kanada eine prominente Person als Fernsehmoderatorin ist. Sie hat ausserdem die Hauptrolle in dem Film "Shortbus" gespielt, in dem sie eine Sexualberaterin und -therapeutin darstellt. Im Lauf der Beratung eines homosexuellen Pärchens muss die Sexualberaterin gestehen, selbst noch nie einen Orgasmus erlebt zu haben. Das Pärchen nimmt sie mit in einen Swingerclub namens "Shortbus", wo sie diesen Baustein ihrer Ausbildung dann nachholen kann. Der Film zeigt nicht nur explizite, sondern eindeutig nicht-simulierte Sexszenen. Wie es sich für einen Pornofilm gehört, ist die "Handlung" komplett albern, aber die Inszenierung und die Aufnahmen sind schön. Wer immer sagt, Sexfilme seien nur etwas für Männer, wird hier eines Besseren belehrt. Sook-Yin Lee hätte allerdings wegen ihrer Mitwirkung beinahe ihren Job beim Fernsehen verloren.

"Paying for it" beginnt damit, dass Chester und Sook-Yin sich trennen. Während Sook-Yin bereits einen anderen Lover hat, ist Chester erst einmal auf dem Trockenen. Durch Zufall kommt er auf die Idee, in ein Bordell zu gehen. Das erste Mal mit einer SW ist so gut, dass er schon nach zehn Sekunden abspritzt. Er beschliesst, keine Freundin mehr zu haben, sondern nur noch mit Prostituierten Sex zu haben.

Tagebuchartig werden die Begegnungen im Comic-Strip geschildert. Es ist alles sehr realistisch, der Bordellalltag ist genau und treffend beschrieben. Es gibt die kleinen Probleme, manchmal stimmt die Chemie und manchmal nicht. Weil er dazu neigt, sehr schnell zur Ejakulation zu kommen, befriedigt er sich vor jedem Besuch selbst - eine Taktik, die auch schiefgehen kann. Aber seine Berichte sind durchaus positiv und sehr respektvoll den Huren gegenüber.

Was an Chester Browns Buch auffällt, ist der genial-einfache Strich, mit dem er perfekte atmosphärische Beschreibungen mit ganz wenig Mitteln hervorrufen kann. Portraits sind exakt, man kennt sich in seinen Bordellen sofort aus, bei seinen Sexszenen fühlt man das Wippen des Bettes mit.

Die Mädchen haben fast durchweg kein Gesicht, gleichwohl eine Persönlichkeit. Entgegen den Ankündigungen wird nicht wirklich intensiv gefragt, was in ihren Köpfen vorgeht - der Autor ist mehr mit sich selbst beschäftigt. Einen weiblichen Höhepunkt erfahren wir nicht, die Kontakte sind meist kühl und sachlich.

Insgesamt ein sehr faires Buch mit einem positiven Bild der Prostitution und der Prostituierten, sehr genau und kenntnisreich, sehr echt.

Es gibt einen umfangreichen "Ergänzungsteil" mit guten Argumenten und Erklärungen, für Forums-User natürlich nichts Neues. Einige Exkurse in andere Gebiete werden geboten, z. B. in Hinweis auf die Historie der "romantischen monogamen Liebe": Letzteres wurde erst im 12. Jahrhundert "entdeckt", bis dahin war man polygam, und die Ehe war ausschliesslich auf Versorgung und Erbschaft ausgerichtet.

Ein empfehlenswertes Werk, ohne Zweifel.

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Ariane
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RE: Comic: Chester Brown - Paying For It

Beitrag von Ariane »

Danke für deine Rezension, die sich fabelhaft liest, liebe Friederike. Ich habe das Buch gerade geschenkt bekommen und am Wochenende verschlungen. Es würde sich lohnen, das Vorwort hier einzustellen, wo Chester Brown auch erörtert, warum er keine privaten Details aus Gesprächen mit den Damen in seinem Comic thematisiert. Ich werde, wenn ich Zeit habe, das Vorwort abtippen und hier einstellen. Diese Arbeit bin ich dem fulminösen Hurenversteher und rationalen Bucher Chester schuldig.:003

Ich hab es nicht so gelesen, dass Chester durch "Zufall" auf die Idee kommt, ins Bordell zu gehen, sondern dass er die Idee, überhaupt eine Freundin zu haben, komplett verwirft, nachdem seine Ex ihren Lover auch mit in die gemeinsame Wohnung einziehen lässt und er sich zunächst das Fick-Gestöhne, als auch die Streitereien im Fortgang der Beziehung anhören muss und froh ist, selbst davon befreit zu sein.
Offenbar lief es sexuell mit seiner Ex vorher auch nicht rund. Dies geht aus den Berechnungen hervor, die er finanziell anstellt und wie teuer es ihm kommt, alle zwei oder drei Wochen eine Hure zu besuchen. (Nachtrag: auf das Jahr berechnet kommt er günstiger weg als bei "seinen" Ausgaben in einer festen Beziehung. Dies hab ich auch des öfteren in Freierforen gelesen. Eine schöne Ökonomie ist das.)

Desweiteren konstatiert Chester, dass er nicht über die speziellen, sozialen Fähigkeiten verfügt, eine Frau irgendwo aufzureissen, um mit ihr Sex zu haben. Für ihn ist P6 der rationalste und befriedigendste Weg, sich diesen Wunsch zu erfüllen. Seine Diskussionen mit seinen Freunden sind dazu auch sehr lesenswert, wo er es mit allen Vorurteilen, auch Neid zu tun bekommt, unter denen die Gesellschaft in der Auseinandersetzung mit P6 und Prostitutierten leidet.


Zum romantischen "Liebes-Ideal" müsste man noch Jean-Jacques Rousseau anführen, der auf Staatstheorien und Pädagogik des 19./20. Jahrhunderts einen enormen Einfluss hatte. Z.B. ist die "Liebes-Heirat" oder eine Beziehung aus reiner Zuneigung ein sehr junges Phänomen, während die Vernunft- und Versorger-Ehe, die nach sachlichen Kriterien wie Status, Herkunft, Vermögen geschlossen wird, älteren Datums ist, und nach wie vor fortbesteht, nicht nur im Pretty-Woman-Mythos, sondern selbstverständlich noch in der Oberschicht gelebt wird. Nach Rousseaus Vorstellungen ist der "freie" Mensch im Naturzustand keiner Gier nach Luxusgütern verfallen, man lebt friedlich und frei, unabhängig miteinander, was nur unter dem Blickwinkel einer gewissen Verteilungsgerechtigkeit von Gütern möglich ist. Erst die Bildung von "Eigentum" führt dazu, dass der Mensch den Urzustand verlässt. Daher ist sein Denken nach wie vor aktuell, insbesondere, wenn man sich Debatten um das sog. "Grundeinkommen" anschaut. *g*
Zuletzt geändert von Ariane am 30.05.2011, 23:53, insgesamt 1-mal geändert.
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RE: Comic: Chester Brown - Paying For It

Beitrag von friederike »

Liebe Ariane,

das Buch ist tiefgründiger als ich beim ersten Lesen gedacht habe. Inzwischen glaube ich, dass ich die Lektüre noch reifen lassen muss, bis ich wirklich "fertig" bin damit. Das ist eigentlich ein Kennzeichen eines guten, also literarisch wertvollen Buches.

Einige Zwischenbeobachtungen:

Die Huren werden sehr sympathisch geschildert (das finde ich natürlich gut), aber sie haben ein sehr flaches Profil - angeblich, um sie zu schützen (siehe Vorwort), was ja auch ein liebenswürdiger Zug des Autors wäre. Sie sehen alle fast ganz gleich aus. Auch die Gespräche sind wenig inhaltsreich. Gleichzeitig berichtet der Held & Autor, dass er sich nach dem Besuch seiner Lieblingshure "leer" fühlt. Was ist los? Es scheint mir nicht an den Frauen zu liegen - was soll man mit so einem Gast schon anfangen (die Typen gibt es!)? Meine Deutung ist, dass dieser Typ schon vor dem Besuch leer ist: er hat nichts zu sagen. Nun ist miteinander Sex zu haben schon ein Austausch: das macht die Begegnung schön, auch für "Chet", aber darüberhinaus hat er nichts auszudrücken. Dazu passt, dass nicht eine seiner Partnerinnen jemals "kommt".

Ein anderes: ich finde es gut, dass das Buch auch schildert, wie schwierig Sex sein kann, und die Pannen beschreibt, die es geben kann. Manchmal versagt sein Schwanz den Dienst, oder die Frau gefällt ihm doch nicht, oder er kommt schon nach zehn Sekunden, oder er masturbiert zuvor, um den Druck zu reduzieren und reduziert ihn zuviel ... Das ist so, wie es ist, auch Hurensex ist nicht ganz einfach. Das gehört zur Poesie dieses Buches.

Eben weil es ein künstlerisches Buch ist, kann man darüber nachdenken, kann man unterschiedliche Dinge daraus lesen, kann man darüber diskutieren!

LG,
Friederike

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Beitrag von Ariane »

Das "leer" fühlen scheint wohl bei unserem Protagonisten daran zu liegen, dass man in Folge nicht allein von befriedigender Vögelei mit fremden Frauen ohne das Gefühl des "Kennens" zufrieden wird. Zum eigentlichen Glück fehlt auf Dauer ... das "Gefühl". Ich werde dies bei Gelegenheit noch erörtern, da es das Buch und die Freierkarriere (10 Jahre) eines Chester Browns mir wirklich wert erscheint, sich darüber Gedanken zu machen und auch mit dichten Beschreibungen aus Freierforen, den Internet-Hobbyisten, in Beziehung zu setzen.

Friederike, kannst ja in eine unserer letzten Theatervorstellungen in dieser Woche kommen; eine prima Ergänzung zum Comic, nur von der anderen Seite aus betrachtet, durchaus differenziert. :la

lg ariane
Zuletzt geändert von Ariane am 30.05.2011, 23:38, insgesamt 1-mal geändert.
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Beitrag von friederike »

Das ist ein erstaunlich kunstvolles Buch, über das man sich eine ganze Weile Gedanken machen kann.

Eure Theatervorstellung steht natürlich fest in meinem Kalender, ich komme, wenn ich es immer einrichten kann. Ein wirklicher Skandal, das so etwas nicht noch lange gespielt wird.

LG,
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Beitrag von Ariane »

OT: Die Tickets an der Abendkasse - 8-11€ - sind günstiger, als über Vorverkauf oder Steuerkarten/Mitarbeiterrabatte. Die Vorstellungen sind derzeit nicht ausverkauft, das Schaubühnen-Publikum kauft meist kurzfristig. Die letzten "zwei-monatlichen" Vorstellungen waren ausverkauft oder zu 90%, was eine sehr gute Quote ist.
Komm doch am 2. Juni! Mein Kartenkontingent habe ich schon verschenkt.

Würde mich freuen ... die Hintergründe zu diesem "Skandal" sind trostlos.:019

lg Ariane
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Buchvorstellung

Beitrag von Marc of Frankfurt »

Buchvorstellung @ Strand Book Store, New York City
www.strandbooks.com

1 von 4
[youtube]http://www.youtube.com/watch?v=ql-wTMFnLKI[/youtube]


Englische Rezensionen
www.sexworker.at/phpBB2/viewtopic.php?p=97510#97510

Chester Brown bekam 41.000 Canadian Dollar (29.000 Euro) vom Canadian Council (Kulturförderung www.canadaCouncil.ca) für diese Arbeit.





.

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RE: Comic: Chester Brown - Paying For It

Beitrag von friederike »

Heute hat die FAZ (Frankfurter Allgemeine) im Feuilleton eine sehr freundliche und positive Rezension von "Paying for it".

Zum Schluss wird angemerkt, dass Chester Brown naturgemäss nur die männliche Sicht darstellt, und vorgeschlagen, dass ein komplementäres Buch von der weiblichen Seite geschrieben werden sollte ....

Friederike

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Beitrag von Ariane »

Ich schreibe in meinem Blog über so manche meiner Eskapaden, hab vor 1.5 Jahren mit Comics angefangen, allerdings nicht handgezeichnet. Modern Hooker macht auch Comics, offenbar mit dem gleichen Programm, wie ich bei der Desire Alliance Konferenz feststellen durfte. Kannte ihre Arbeit vorher noch nicht. Vielleicht sollte ich das mit den Comics vertiefen *g*

http://modernhooker.wordpress.com/
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Beitrag von ehemaliger_User »

Wikipedia hat auch schon was:

http://en.wikipedia.org/wiki/Paying_for_It
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RE: Comic: Chester Brown - Paying For It

Beitrag von Ariane »

die andere Seite


Ich kann nur jedem dringend dazu raten, sich diese englischsprachige Publikation zu besorgen; auch der Comic-Strip ist im englischen recht verständlich und für Leute mit wenig Sprachkenntnissen zu verstehen.

Das Buch ist nicht nur für Sexworker und Kunden aufschlussreich, auch weil wir uns grösstenteils darin wiedererkennen können und amüsant zu lesen, insbesondere für jene, die sich für Politik interessieren (den ganzen Anhang widmet Chester den Sexworker-Rechten, der Auseinandersetzung mit rechten Feministinnen und anderen vernagelten Köpfen sowie typischen Vorurteilen, mit denen man es tagtäglich zu tun bekommt)

Sein Zeichenstift, figürlich und im Text, ist davon getragen, so schreibt er in seinem Vorwort, die Identitäten der Frauen zu schützen.

Hier schreibt er:

"Quite a few of the sex-workers I spent time with opened up to me and told me about their families, their childhoods, their boyfriends, and other aspects of their lives. I wish I had the freedom to include that material in the following pages … it would have brought the women to life as full human beings and made this a better book. I'm assuming that all of them want to keep secret the sex-for-money part of their lives, so I refrained from putting in personal details that could potentially reveal their identities if a particular friend, family member, lover, or acquaintance were to read this memoir."

Daher hat Chester auch besondere Körpermerkmale und persönliche biografische Notizen einzelner Bordelldamen und Escorts in seinen Zeichnungen ausgelassen, nicht nur äussere Merkmale wie z.B. Tatoos, Piercings etc.

"I have altered aspects of their bodies if they could potentially reveal an identity … for instance, I didn't draw any of the tattoos or unusual piercings that some of them had. I ve often changed their hair-styles, particularly if the hair was arranged in a distinctive way."

Schade, dass Chester u.a. noch nicht unser Theaterstück kennen (irgendwie muss ich ihm das per Video zu Gehör bringen). Genau darum geht es, wir sind selbstverständlich "Human Beings". Wir haben auch alle gemeinsam biografische Texte von uns selbst sowie in Einzelchören abwechselnd gesprochen, um die Zuordnung zu einzelnen Chorfrauen unmöglich zu machen und uns damit zu schützen.

Wie war die Reaktion der Theaterkritik? Sie waren grösstenteils ... geisteskrank; zum einen stolperten sie über die Authentizität selbst und beklagten sich, dass wir nicht ihren Klischees entsprochen haben, dass wir mehr dargestellt haben, nämlich grundsätzliche Erfahrungen unseres Frauen- und Menschenlebens; zum anderen, weil sie die Texte nicht in ihrem voyeuristischen Sinne biografisch zuordnen konnten. Und vieles mehr, was ich in meinem Blog bereits geschrieben habe.

Es gab vor Ort nur wenig persönliches und positives Feedback der Besucher nach der Vorstellung, wenn dann positiv von einigen Sexworker-Kolleginnen (auch Escorts, die bei renommierten Agenturen arbeiten), die sich bei mir outeten, denen wir offenbar aus der Seele sprachen sowie fremden Männern und Frauen, die mich nach den Vorstellungen respektvoll ansprachen und begeistert waren.

Schätze, die meisten Zuschauer waren pikiert, dass wir so echt, ja menschlich :016 rübergekommen sind. Irritiert und beschämt in ihren Werturteilen und Klischeedenken, die sich längst eingeschliffen haben (wir, die Chorfrauen, und unsere persönlichen Texte, kommen aus allen P6-Sparten inkl. unterschiedlicher Bildungshintergründe: Strassenstrich, Bordell, Club, Tantra-Massage, Dominastudio, Escort - freischaffend und Agentur; teil- und vollzeit werkelnd, auch die Studentin und Akademikerin war dabei *g*, die das Doppelleben cool findet).

Selbst von Alliierten, sprich Mitarbeitern einer Berliner SW-Organisation bekam ich nichts oder nur dusselige Kommentare zu hören. Von wegen, die Freier seien nicht gut weggekommen ... nee, bei uns wurde differenziert und grosse Unterschiede zwischen guten Kunden und darunter gemacht, aber da sie selbst die Praxis nie erfahren haben und offenbar das ganze Stück nicht verstanden haben, muss man sich dann so einen Käse anhören.

Klasse fand ich auch eine grossspurige Theater-Rezension vor einigen Monaten einer angeblichen laut tönenden Escort-Aussteigerin (auch von Marc hier im Forum mit Brief zitiert), die übrigens niemals wirklich aufgehört hat, und sich an mir in einem Freierforum und dem Theaterstück auf ihrem Blog abgearbeitet hat, wobei sie vorgab, vor Ort im Theater gewesen zu sein.
Später berichtete mir eine gemeinsame Bekannte und Besucherin des Stücks, dass die vermeintliche Rezensentin garnicht im Stück gewesen ist und sich den Text aus der Nase gezogen hat, nur, um mir einen reinzuwürgen. Sie wusste mir offenbar etwas aus dem Nähkästlein zu erzählen. Köstlich!:005



Der Anhang (Appendix 9, 238) ist ebenfalls sehr aufschlussreich: hier setzt Brown sich mit Prostitutionsgegnern, gesellschaftlichen Vorurteilen uvm. auseinander und plädiert für die Entkriminalisierung von Sexwork und erklärt, warum Regulation nicht angemessen ist. In der Auseinandersetzung mit Sheila Jeffreys, Feministin und Prostitutionsgegnerin, geht er auf die Schlüsselargumente ein, die u.a. auch von Alice Schwarzer, Lea Ackermann u.a. vorgetragen werden.

"When they confront female sex-workers who claim to have freely chosen their profession, anti-prostitutionists (who are often feminists) are put in the position of looking like they're trying to restrict the freedom of a group of women. Several of these anti-prostitutionists have decided that the way out of this quandary is to assert that choice is not possible when it comes to sex-work."


Fortsetzung folgt ...

zu Chesters Auseinandersetzungen

- mit Jeffreys und deren Leugnung, dass es gar keinen freien Willen und Selbstbestimmung bei Sexarbeit geben kann, weil alles Vergewaltigung sei

- mit dem Thema Menschenhandel und Sex-Sklaverei
-Zuhälterei, Ausbeutung
-die Kommerzialisierung der heiligen Monogamie, Chesters Lieblingsthema
- seine Argumente gegen die Lizensierung und Regulierung
- Steuer
- Strassenstrich

hier in Kürze.

Das ganze Buch ist ein Plädoyer für Entkriminalisierung und Normalisierung von Sexarbeit: "Prostitution is just a form of dating".
Zuletzt geändert von Ariane am 13.06.2011, 19:37, insgesamt 3-mal geändert.
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RE: Comic: Chester Brown - Paying For It

Beitrag von friederike »

Liebe Ariane,

wie schon oben geschrieben: ein tiefgründiges Buch, über das nachzudenken und zu diskutieren sich lohnt. Ich freue mich auf Deine "Fortsetzungen". Ausserdem bin ich gespannt, ob und wann es ins Deutsche übersetzt wird.

Die Art und Weise, wie Chester seine Begegnungen bildlich und textlich darstellt, finde ich genial (vielleicht nur subjektiv), weil es genauso ist, weil er in den wenigen Bleistiftstrichen diese Atmosphäre genau und plastisch darstellt. Ich bin eben nicht ganz sicher, ob seine Erklärung zutrifft (die Du zitierst), warum er den Frauen nur in feinen Andeutungen individuelle Züge verleiht. Oder kehrt er die Perspektive der SW um, der ihre Kunden ebenfalls nur mit schwach ausgeprägten individuellen Gesichtern erscheinen? Also ich finde das Buch sehr poetisch, vielschichtig ... weit über die sachliche Argumentation in Vorwort und Anhang hinaus wertvoll.

Gibt es eine "Honourable Usership" in unserem Forum? Chester Brown würde wundervoll zu uns passen ':007'.

LG,
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RE: Comic: Chester Brown - Paying For It

Beitrag von Aoife »

Hier Annie Sprinkle's Chester-Brown-Rezension (English of course)

http://www.nytimes.com/2011/07/03/books ... 1&src=tptw

und very very very O.T., aber falls es jemanden interessiert:
Falls Chester Brown irischstämmig ist, so ist er protestantisch, katholische Browns schreiben sich Browne :002

Liebe Grüße, Aoife
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RE: Comic: Chester Brown - Paying For It

Beitrag von fraences »

In seinem neuesten Werk protokolliert der kanadische Comic-Autor Chester Brown seine Laufbahn als Freier – und verwechselt dabei das Privileg auf käuflichen Sex mit »befreiter« Sexualität.

Bekannt wurde Chester Brown mit seinen Graphic Novels »Ed the Happy Clown« und »Louis Riel«, einer Comic-Bio des gleichnamigen kanadischen Politikers und Volkshelden aus dem 19. Jahrhundert. Doch es waren vor allem Browns autobiographische Werke – »The Playboy« und »I Never Liked You« –, die in der jungen nordamerikanischen Autorencomic-Szene der neunziger Jahre Spuren hinterließen und auch jenseits des Atlantiks eine wachsende Fangemeinde erreichten. (»I Never Liked You« erschien unter dem Originaltitel »Fuck« Mitte der Neunziger auf Deutsch bei Jochen Enterprises und wurde vor einigen Jahren von Reprodukt neu aufgelegt).

Nach einer mehrjährigen Schaffenspause meldet sich Chester Brown nun wieder zurück. »Paying For It – A Comic-Strip Memoir About Being a John« lautet der Titel seiner jüngsten Graphic Novel, in der sich der heute 51jährige Zeichner an seine aktiven Jahre als Freier erinnert. Sein rund 300 Seiten starkes Buch möchte der in Toronto lebende Autor jedoch nicht allein als autobiographisches Dokument verstanden wissen – sei ebenso »Paying For It« sein Beitrag zur öffentlichen Debatte über Sexarbeit, die in Kanada zwar nicht per se verboten ist, jedoch durch etliche gesetzliche Bestimmungen starken Einschränkungen unterliegt. So sind beispielsweise das Betreiben von Bordellen wie auch die Bewerbung sexueller Dienstleistungen oder das Anschaffen in der Öffentlichkeit verboten – Bedingungen, die die (legale) Ausübung von Sexarbeit deutlich erschweren und diese zudem vollständig in den privaten Bereich verlagern.

Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund sorgte Browns öffentliches Outing als »John« (zu Deutsch: Freier) für einiges Aufsehen. Vom Feuilleton wurde der Tabubruch durchweg gelobt, der Entschluss, seine Verabredungen mit Sexarbeiterinnen zu Papier zu bringen, als »mutig«, »schonungslos« und »aufklärerisch« gewürdigt.

Dass Browns Freier-Karriere ausgerechnet mit einer persönlichen Niederlage seinen Anfang nimmt – seine damalige Freundin, die Schauspielerin und Fernsehmoderatorin Sook-Yin Lee (hierzulande bekannt aus dem Film »Shortbus«), schasst ihn auf recht uncharmante Weise –, mag man zunächst noch als »klassische« Kompensationsstrategie angesichts einer männlichen Existenzkrise interpretieren. Allerdings zeigt Chester Brown keinerlei Interesse, den tragischen Helden zu geben. Anhand seiner eigenen Persona entmystifiziert er vielmehr das stereotype Bild des typischen »John«: Der ist nämlich in der Regel weder ein einsames Häufchen Elend noch ein brutaler Perversling, der sich besonders ausgefallene Sexpraktiken wünscht, sondern fürchterlich »normal« – und sieht im Fall von »Chet« Brown aus wie der blasse Nerd aus dem Comic-Laden von nebenan, der angesichts seiner soften Erscheinung eher den Beschützerinstinkt als die Libido zu wecken vermag. In einer Review für die New York Times titulierte ihn Sex-Aktivistin Annie Sprinkle gar augenzwinkernd als »goodhearted bad boy«.

Vollkommen entdramatisiert sind auch die Biographien der dargestellten Sexarbeiterinnen.Beichten aus der Drogenhölle, Missbrauchsgeschichten oder Berichte über Zwangsprostitution sucht man hier vergeblich. Statt Champagner oder harter Drinks gibt’s höchstens mal ’ne Cola vor dem Sex, der mal besser, mal schlechter ist und sich damit gar nicht so sehr von unbezahltem Sex unterscheidet. »Prostitution is just a form of dating«, erklärt Chester Brown. Was ihn allerdings nicht daran hindert, bei den Sexarbeiterinnen ständig nach denselben »Qualitäten« Ausschau zu halten: schlank, hübsch, große Titten – und so jung, wie es das Gesetz erlaubt.

Browns Faible für Playmate-Bodymaße kennt man bereits aus seinen älteren Comics, ebenso seinen stoisch anmutenden Charakter, der mehr an einen Buchhalter als an einen Sex-Tiger erinnert. Entsprechend sachlich ist der Erzählton, was die Alltäglichkeit und »Normalität« der Sexarbeit zusätzlich betont. Nicht weniger nüchtern präsentiert sich die Form: Die Seiten sind durchgehend streng in acht Panels gegliedert, in den Schwarzweiß-Bildern regiert ein klarer Strich.

Dies ist auch die Hauptabsicht des Autors: Mit der Forderung, Sexarbeit von ihrem gesellschaftlichen Stigma zu befreien, will Chester Brown auch die Freier-Identität »normalisieren«, was ihn zu recht fragwürdigen Vergleichen mit »Sexual Rights«-Bewegungen wie LGBT führt. Damit ignoriert er eine wesentliche Tatsache: Der Kauf sexueller Dienstleistungen ist bereits gesellschaftlich institutionalisiert und stellt bis heute ein legitimes (wenngleich moralisch ambivalent bewertetes) Handlungsfeld männlicher Identitätsbehauptung dar.

Zu dieser männlichen »Freier-Normalität« gehört auch die Sicht auf die Dienstleistung der Sexarbeiterin als Ware. Auf einer der verbreiteten Online-Plattformen für Freier tauscht Brown mit anderen Reviews aus, in denen Sexarbeiterinnen bewertet und miteinander verglichen werden – wie beim Autokauf. Diese Praxis ist nicht einfach Ausdruck eines besonders üblen Sexismus, vielmehr entspricht sie der kapitalistischen Logik, die Sex entsprechend der Ökonomisierung ungleicher Geschlechterbeziehungen warenförmig macht.

Wenig überraschend ist daher, dass auch der Körper der Sexarbeiterin »zerlegt« wird: Zwar hat Chester Brown die Frauen, die er als Freier getroffen hat, allesamt anonymisiert – dennoch hebt er immer wieder einzelne körperliche Merkmale hervor, von den Cellulite-Schenkeln bis hin zum Silikon-Busen. Für Brown scheint diese »entmenschlichende« Fragmentierungstechnik, die in der feministischen Auseinandersetzung mit dem Mainstream-Pornofilm als Konsequenz eines »männlichen Blicks« analysiert wurde, in keinem Widerspruch zu seiner vordergründigen Solidarisierung mit der politischen Huren-Bewegung zu stehen, die mit der Auffassung von Sexarbeit als Entscheidung (statt als »Schicksal«) den Subjektstatus der Sexarbeiterinnen betont.

Freier zu sein steht im Brownschen Universum für individuelle sexuelle Freiheit und nicht etwa für ein geschlechter- und klassenspezifisches Privileg. So fußt sein Plädoyer für die Dekrimininalisierung von Sexarbeit in Kanada (im Gegensatz zur Legalisierung, die eine Registrierung und Lizenzenvergabe – also letztlich eine staatliche Kontrolle – zur Folge hätte), die er in umfangreichen illustrierten Fußnoten ausführt, auf der Überzeugung, dass einvernehmlicher Sex zwischen Erwachsenen Privatsache sei: Der Staat habe sich aus dem Schlafzimmer gefälligst rauszuhalten.

Für Sex zu zahlen, sei letztlich ehrlicher, schließlich sei auch die romantische Zweierbeziehung ein Tauschgeschäft, das jedoch durch allerlei Liebesgedöns verschleiert werde. Chester Brown idealisiert seine eigene Freier-Existenz zu einem Lebensstil, der sich als Gegenentwurf zur Idee der romantischen Liebe und der monogamen Pärchenbeziehung versteht. Derart wandelt sich das Recht auf eine selbstbestimmte Sexualität, die die Wahl für Sexarbeit sowie Alternativen zu klassischen Beziehungsmodellen einschließt, in ein Recht auf prostitutiven Sex. Für wen eine solche »befreite« Sexualität funktioniert, dürfte nur unschwer zu erkennen sein.


http://jungle-world.com/artikel/2011/31/43732.html
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Re: RE: Comic: Chester Brown - Paying For It

Beitrag von friederike »

Eine interessante Rezension, die wieder einmal viel über ihren Verfasser oder ihre Verfasserin und die tiefsitzenden Vorurteile verrät!         

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jungle-world hat geschrieben:Damit ignoriert er eine wesentliche Tatsache: Der Kauf sexueller Dienstleistungen ist bereits gesellschaftlich institutionalisiert und stellt bis heute ein legitimes (wenngleich moralisch ambivalent bewertetes) Handlungsfeld männlicher Identitätsbehauptung dar.
Hat das ein Mann geschrieben oder eine Frau? Jedenfalls: die Idee, dass Sexarbeit auch ein "Handlungsfeld weiblicher Identitätsbehauptung" sein könnte, wird gleich ausgeblendet.

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jungle-world hat geschrieben:Freier zu sein steht im Brownschen Universum für individuelle sexuelle Freiheit und nicht etwa für ein geschlechter- und klassenspezifisches Privileg. So fußt sein Plädoyer für die Dekrimininalisierung von Sexarbeit in Kanada (im Gegensatz zur Legalisierung, die eine Registrierung und Lizenzenvergabe - also letztlich eine staatliche Kontrolle - zur Folge hätte), die er in umfangreichen illustrierten Fußnoten ausführt, auf der Überzeugung, dass einvernehmlicher Sex zwischen Erwachsenen Privatsache sei: Der Staat habe sich aus dem Schlafzimmer gefälligst rauszuhalten.
Chester Brown's Ansicht scheint für die RezensentIn einfach unglaublich zu sein.

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jungle-world hat geschrieben:Derart wandelt sich das Recht auf eine selbstbestimmte Sexualität, die die Wahl für Sexarbeit sowie Alternativen zu klassischen Beziehungsmodellen einschließt, in ein Recht auf prostitutiven Sex. Für wen eine solche »befreite« Sexualität funktioniert, dürfte nur unschwer zu erkennen sein.
Ehrlich gesagt: diese geschraubte Phrase verstehe ich überhaupt nicht. Immerhin wird konzediert, dass selbstbestimmte Sexualität die Sexarbeit einschliesst (wenn ich die sprachlich missglückte Formulierung richtig deute).

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Re: RE: Comic: Chester Brown - Paying For It

Beitrag von Aoife »

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friederike hat geschrieben:Ehrlich gesagt: diese geschraubte Phrase verstehe ich überhaupt nicht.
Nun - sie *ist* einfach unverständlich, was ich angesichts des Tenor's dieses Machwerks für durchaus beabsichtigt halte:

Ein rhetorischer Kunstgriff, der die Menschen dazu bringen soll zu denken "man man das ist ja viel zu hoch für mich", also wird die Schlußfolgerung kritiklos akzeptiert.

Liebe Grüße, Aoife
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RE: Comic: Chester Brown - Paying For It

Beitrag von Ariane »

Das Buch ist nun auch in deutscher Sprache erschienen.
Sexarbeit ist auch nur eine Form des Datings. Sag ich doch immer, glaubt nur keiner!

http://bazonline.ch/kultur/buecher/Pros ... y/27484449

Grässlicher Artikel im Spiegel http://www.spiegel.de/kultur/literatur/ ... 30651.html

aber die Kommentare stimmen hoffnungsfroh!

schönes Interview mit Chester Brown http://www.3sat.de/mediathek/?display=1 ... &obj=30856

und http://www.3sat.de/mediathek/?display=1 ... &obj=29923
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Beitrag von Marc of Frankfurt »

Danke für die Links.


Es sieht so aus, als verlange die Welt, dass man sich entscheiden müsse. Entweder 'normales' Liebesmodell, oder Aussenseiterlebensform Prostitution. Erneut zeigt sich diese Polarisierung wie sie sich auch im Brief der gehörnten Ehefrauen auf den Faktencheck von Hydra e.V. zur Maischbergersendung zeigt, die sich als Opfer von Prostitution stilisieren. Die Ehefrauen als die natürlichen Gegner der Sexworker?

Entweder versuchen die Menschen die Einheit von Sex, Liebesemotionen und materieller Absicherung zu realisieren z.B. in serieller Monogamie und Ehe (Zugewinngemeinschaft mit 20 Mrd Steuergeschenk pro Jahr), scheitern dann aber vielfach bereits an einfachen Seitensprüngen oder polyamoren Verlockungen und Bedürfnissen, oder sie lassen die Vielfalt menschlicher sexueller Kontakte und Befriedigung zu und müssen dann evt. bei Beziehungsdauer oder -tiefe Abstriche machen, Geld in die Hand nehmen oder Sexarbeiter werden und die mit beidem verbundene Außenseiterposition aushalten können (Stigmamanagement).

Warum vertragen sich diese Positionen nicht? Warum können sie nicht nebeneinander stehen so wie Mann und Frau, wie Biertrinker und Weintrinker, wie Bedenkenträger und Macher, wie Sonne und Mond? Warum glauben wir nur eine der zwei Lösungen der Realität zu begegnen könne oder müsse richtig sein? Ist dieser Fanatismus auch ein angeborener evolutionärer Trieb wie der Trieb nach Sex und Liebe? Ist dieser Einheitswahn garselbst eine sexualisierte Liebes-Emotion?

Die Welt ist zu komplex, als dass der Mensch sie wird begreifen können und ein allen Anforderungen gerechtwerdenkönnendes Leben zu führen in der Lage wäre, aber er versucht sich einfache Modelle zu machen und leidet dann wenn Abweichungen auftauchen. Dann führt er bisweilen Krieg um sein Modell durchzusetzen und die Welt seinem Weltbild anzupassen für seinen persönlichen Seelenfrieden. So arm sind wir oftmals.





Der Freier verletzt die Konkurrenzregel unter Männern, indem er mit Geld sich das ermöglicht, was die anderen vorgeblich mit reifem unverklemmten Charakter oder angeborenen männlichen/menschlichen Eigenschaften bekommen. In dieser traditionellen Vorstellung steckt bereits eine grobe Vereinfachung und Idealisierung und jeder Käuflichkeitscharakter mit einer Partnerschaft eine gute Partie zu machen wir ausgeblendet. Käuflichkeit wird nur bei Prostitution verortet und dort stellvertretend abgestraft. Scheinheilig.

Auch die extreme Unterschiedlichkeit der Menschen, ihre Fähigkeiten im Markt der sexuellen Selektion, zwischenmenschlichen Kommunikation und in Bezug auf ihre Bedürfnisse und Kompromißbereitschaft wird m.E. unnötigerweise eingeengt.

Natürlich gibt es auch Fehlentwicklungen und Gefahren in den liberalisierten Lebensformen. Objektivierung des Sexpartners, Mißachtung oder Mißbrauch der Sexworker oder Kunden. Selbstentfremdung und Sexsucht oder stoffliche Süchte, Isolation, Scheitern, Kriminalität... Aber auch dass kann als verzweifelte Reaktion oder Folge davon verstanden werden, wenn Menschen ausgegrenzt werden nur weil sie unterschiedlich und anders sind. Dabei könnten beide Seiten so viel voneinander lernen, wenn denn ein Dialog gelänge.

Mutig dass Chester Brown mit seinem gezeichenten Selbst-Outing die Diskussion um Vielfalt der Lebensentwürfe erneut belebt. Insofern gebe ich die Hoffnung auf Dialog und Dialogfähigkeit in der Gesellschaft noch nicht auf. Wäre ja auch das Ende der Zeit.


Vielleicht schaffen wir es ja auf den offenen Brief der betrogenen Ehefrauen eine den Dialog stärkende, verbindende Antwort zu verfassen, gespeist aus der uralten Weisheitstradition von Sexarbeit zu der nur wir initiierten Zugang haben.

viewtopic.php?t=3819
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