DIE PROSTITUTION IN INDIEN WÄCHST RASANT
Artikel aus der STUTTGARTER ZEITUNG vom 04.01.2011
Seite 3
Gesetze
Prostitution ist in Indien nicht illegal, aber damit verbundene Aktivitäten wie Werben, Zuhälterei oder das Betreiben eines Bordells.
Verbreitung
2007 hat das indische Ministerium für Frauen und Kinder einen Bericht veröffentlicht, wonach in Indien 2,8 Millionen Sexarbeiter registriert sind. 35,47 Prozent von ihnen haben als Kinderprostituierte im Alter von unter 18 Jahren damit begonnen. Die Zahl der Prostituierten in Indien hat sich seit 2000 verdoppelt.
Zukunft
Der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch zufolge arbeiten rund 20 Millionen Sexarbeiter in Indien. In Mumbai, dem größten Sexindustriezentrum Asiens, werden 200 000 Prostituierte aufgelistet. Die Diskussion über Legalisierung ihrer Tätigkeiten hat begonnen. Ausbeutung und Ansteckungsgefahr sollen bekämpft werden.
StZ
Lackys Sohn ist unverkäuflich
Artikel aus der STUTTGARTER ZEITUNG vom 04.01.2011
Indien
Das Rotlichtviertel von Mumbai gilt als das größte Asiens. Es wächst in Zeiten des Wirtschaftsbooms. Viele Huren dort wollen aussteigen, um ihre Kinder zu retten.
Von Gaby Herzog, Mumbai
Lacky hat ihr Baby nicht hergegeben. Die junge Frau hockt im Schneidersitz auf den gekachelten Stufen vor dem Hauseingang und zeigt ein Foto in die Runde: Amit, ihr kleiner Junge mit Zahnlücke und großen schwarzen Augen. Ihre Kolleginnen schauen kurz von ihren rosa Taschenspiegeln auf und schminken sich weiter. Noch ist es ruhig im Rotlichtviertel von Mumbai. Die Wäscher in der Hütte nebenan rühren mit Holzstäben in dampfenden Kesseln. Der Geruch von Waschmittel mischt sich mit dem Duft von Curry und Koriander aus der kleinen Garküche und dem Gestank des Mülls, der im Rinnstein schwimmt. Zwei Männer in speckigen Anzughosen schlendern durch die Straßen. Die Frauen blicken nur müde auf.
Lacky erzählt unterdessen ihre Lieblingsgeschichte. Noch im Krankenhaus haben ihr die Hebammen Geld angeboten, um Amit zu kaufen. "Mein Sohn war so wunderschön, alle waren verliebt in ihn", sagt Lacky. Ein Geschäftsmann zog an einer Ampelkreuzung ein Bündel Geld aus der Tasche und bot 10 000 Rupien (160 Euro). Da hat Lacky ihre Dupatta, das traditionelle Halstuch, über den Knirps auf ihrem Arm geworfen und ist zurück nach Kamathipura gelaufen. "Man kann nicht alles kaufen", sagt sie und schlägt die Augen nieder.
Seit zwölf Jahren lebt Lacky als Prostituierte im Rotlichtviertel von Mumbai. 100 000 bis 200 000 Frauen bieten in der 14-Millionen-Metropole ihre Dienste an, rund 20 000 von ihnen in den schmalen Gassen im Stadtteil Kamathipura in der Innenstadt. Die Luxusbauten der Banken und Großkonzerne liegen nur wenige Blocks entfernt. Auch bis zu der berühmten "Gateway of India" und dem 5-Sterne-Hotel Taj Mahal ist es nicht weit. Indiens Wirtschaft boomt. Doch von dem neuen Wohlstand kommt in den Straßen von Kamathipura wenig an. Selbst Informationen vom Wachstum schaffen es nicht bis hierher. Lacky und die meisten ihrer Kolleginnen können nicht lesen - erst recht kein Englisch, die Sprache der Gebildeten. "Was würde das auch ändern", sagt Lacky. Die Preise, die sie für ihren Körper verlangten, seien kaum gestiegen, "aber es werden immer mehr Frauen hergebracht". Die Zahl der Prostituierten hat sich in den vergangenen zehn Jahren verdoppelt. Im ganzen Land sollen 2,8 Millionen Frauen in dem Gewerbe arbeiten, mehr als ein Fünftel sind unter 16 Jahren.
Die Häuser in Kamathipura sind niedrig und heruntergekommen. An den Dachrinnen haben die Wäscher Hunderte Jeans zum Trockenen aufgehängt, um die Hosen später auf dem Secondhandmarkt weiterzuverkaufen. Davor, immer mit einem oder zwei Meter Abstand, stehen die Prostituierten. Sie tragen keine hohen Stiefel und enge Miniröcke. Auf den ersten Blick sieht es hier nicht aus wie auf einem der größten Straßenstrichs der Welt. Kein Rotlicht, Plüsch, Tabledance, keine Schmuddelfotos. Lackys Sari ist nur ein bisschen zu bunt, ihr Make-up stärker und statt des traditionellen dunkelroten Blindis funkelt schon tagsüber ein Glitzerstein auf ihrer Stirn. Auch die Zuhälter, die über die Straße und die Frauen wachen, unterscheiden sich nicht von den Freiern, sind ungepflegt, kraulen die verlausten Mischlingshunde und verkaufen nebenbei Zigaretten.
Prostitution ist in Indien zwar nicht generell verboten, öffentliche Werbung und Zuhälterei sind aber Straftaten. Ohne ersichtlichen Grund an der Straße zu stehen oder zu sitzen wird von der Polizei bestraft. Was hingegen hinter verschlossenen Türen in den Bordellen passiert, interessiert die Staatsgewalt wenig.
Kaum eine Frau ist freiwillig hier. Sie wurden von Nachbarn aus ihren Dörfern verschleppt, mit Aussicht auf einen seriösen Job in die Stadt gelockt, von den eigenen Eltern oder von der Familie des verstorbenen Ehemannes verstoßen und verkauft. Bis heute werden Zehntausende Mädchen als "Devadasi" den Göttern im Tempel als Dienerin geopfert. Ein altes Ritual, das vornehmlich im Süden Indiens in den unteren Kasten praktiziert wird. Indem sie das Liebste opfern, was sie haben, erhoffen sich die Familien Glück und Reichtum. Priester verkaufen die Devadasi für ein paar Rupien weiter.
Lacky wurde mit 16 verheiratet, ihr Mann war Alkoholiker und schlug sie. Als eine Nachbarin ihr einen Job als Schneiderin versprach, ergriff sie ihre Chance und stieg in den Zug nach Mumbai. Über das, was dann geschah, spricht sie nicht. "Ich habe meine Augen und mein Herz geschlossen. Erst seit Amit auf der Welt ist, habe ich wieder angefangen zu sehen", sagt sie. Als ihre Kollegin Zarina beginnt, ihre Geschichte zu erzählen, klettert sie ins Haus - außer Hörweite.
Zarina ist 23 Jahre alt. Unter der grellen Schminke versteckt sie ihr sonst so kindlich rundes Gesicht, ihre Lippen sind schwarz umrandet. Zarinas Haut ist heller als die von Lacky. "Ich komme aus dem Norden, die Männer mögen meine Blässe", sagt sie und lächelt. Mehr als 40 Prozent der Frauen und Mädchen, die in indischen Bordellen arbeiten, kommen deshalb aus Nepal und Bangladesch - ohne Papiere.
Mit elf Jahren wurde Zarina von einer Nachbarin verschleppt. Als sie in Mumbai ankam - eine Stadt, von der sie bis heute nicht genau weiß, wo sie liegt - sperrte der Zuhälter sie in ein winziges Zimmer. Er gab ihr duftende Seife, einen neuen goldbestickten Sari und Schminke. Wenn sie gehorsam war und sich hübsch machte, gab es als Belohnung Essen und Süßigkeiten. Nach vier Monaten kletterte ein fremder Mann zu Zarina in den Verschlag. "Eine Jungfrau ist wie ein goldenes Ei", sagt die heute 23-Jährige. "Es ist wertvoll, aber wenn es einmal aufgeschlagen ist, gibt es kein Zurück mehr." Für die erste Nacht mit einem besonders hübschen Mädchen bezahlen die Freier bis zu 10 000 Rupien (167 Euro) - ohne Kondom. Oft erhofften sich HIV-positive Kunden davon Heilung. Nach Schätzungen sind 50 Prozent der Prostituierten in Indien mit dem Virus infiziert.
Auf der Straße bekommen die Frauen später von ihren Kunden rund 100 Rupien (1,60 Euro) für Sex. Ohne Zuhälter sind sie schutzlos den Freiern ausgeliefert. Ein Mädchen, das ein paar Häuser weiter lebte, hat sich kürzlich gegen die perversen Forderungen eines Kunden gewehrt. Der drehte durch, biss hundertfach in ihren Körper, so dass sie ins Krankenhaus musste. "Sie hat keine Anzeige erstattet. Was hätte sie den Polizisten auch erzählen sollen? Den Ärzten hat sie gesagt, ein Hund habe sie so zugerichtet", erzählt Zarina.
Lacky sitzt im Schneidersitz vor ihrer "Box" - einem von acht "Räumen" am Ende des dunklen Ganges. Der Boden ist nass, eine Flüssigkeit tröpfelt aus dem Klo auf dem Treppenabsatz, das gleichzeitig als Dusche für die zehn Frauen und die vier Kinder dient, die hier wohnen. Lacky öffnet das Vorhängeschloss, drückt die Holzklappe zur Seite und klettert barfuß in ihr Zimmer. Der fensterlose Verschlag ist 1,20 Meter hoch und gerade mal so groß, dass die schmale, von Ratten zerfressene Matratze darin Platz hat. Der Putz bröckelt von den Wänden, es ist heiß und muffig. Lacky schiebt die Wäsche, die auf einer Leine hängt, zur Seite. Ihre wenigen Habseligkeiten sind sorgfältig geordnet. Neben dem Koffer auf dem Regal steht eine bunte Plastikgottheit. Der Raum ist Schlafzimmer, Kinderzimmer für Amit, Kleiderschrank, Rückzugsort und Arbeitsplatz. Für die Frauen im Rotlichtviertel sind ihre Kinder das Wichtigste im Leben. Auch wenn die Väter Zuhälter oder unbekannte Kunden sind, kommt für die meisten eine Abtreibung nicht infrage. Die Kinder werden als Geschenk der Götter gesehen. Mit ihnen verbinden die Mütter die Hoffnung, dass sie im Alter versorgt werden.
Bis vor einem Jahr hat Lacky zusammen mit ihrem Sohn in dem winzigen Verschlag im Bordell gelebt. Wenn Kunden kamen, haben sich die anderen Frauen um Amit bekümmert. Doch dann hörte Lacky von "Navjeevan", einem Projekt, das sich gezielt um die Kinder von Prostituierten kümmert und ihnen ein neues Zuhause und eine Schulbildung gibt. Die Mütter dürfen sie jederzeit besuchen - das war Lacky wichtig.
Jetzt wohnt Amit in einem fünfstöckigen, ehemaligen Schulgebäude am Rande des Rotlichtviertels. Der Mittagsschlaf ist vorbei. 160 Jungen und Mädchen toben durch die Gänge. Ein paar Steine dienen als Murmeln, ein alter Topf als Trommel. "Wenn sie zu uns kommen, müssen viele Kinder erst einmal lernen, Kind zu sein", erklärt die Sozialarbeiterin Aditi Pandey. "Es gibt Kinder, die sind acht Jahre alt und haben noch nie ein Stück Kreide in der Hand gehabt, um zu malen. Sie trauen sich nicht zu lachen und mal richtig Lärm zu machen." Die 26-Jährige ist eine moderne Frau, hat studiert und ist viel gereist. Ganz bewusst verzichtet sie darauf, westliche Kleidung zu tragen. "Die Mütter kommen aus ländlichen Regionen und sind, trotz alldem, was sie erlebt haben, sehr konservativ. Sie würden mich als fremd empfinden und nur schwer Vertrauen aufbauen", erklärt sie und setzt das kleine Mädchen im blauen Glitzerkleid wieder auf den Boden.
Die Kinder sind für die Mitarbeiter von "Navjeevan", die von der deutschen Kindernothilfe unterstützt wird, auch eine Brücke zu den Frauen. Jeden Donnerstag kommen die Mütter, um ihre Kinder zu besuchen. Sie bringen neue Kleidung und kleine Geschenke, haben Zeit, von ihrem Schicksal zu erzählen. "Die Zuhälter würden im Normalfall jeden Kontakt verbieten , aber weil wir ihnen die lästige Brut" vom Hals schaffen, sind wir willkommen", erklärt Aditi Pandey. Die Männer dürften nicht wissen, dass die Organisation Frauen auch helfe, einen Weg aus der Prostitution zu finden.
"Am besten, die Kinder kehren nie wieder zurück in die Bordelle", sagt Pandey, "auch nicht zu Besuch." Denn dann liefen sie Gefahr, dass die Zuhälter auf sie aufmerksam würden. "Mit etwa neun Jahren werden die Kinder als Verkaufsobjekt interessant." Die Zahl der Pädophilen in Kamathipura nimmt zu. Davor fürchtet sich Lacky am meisten. "Ich kann Amit ja nicht sein Leben lang unter meiner Dupatta verstecken, damit niemand sieht, wie hübsch er ist." Um ihren Jungen vor Übergriffen zu schützen, spart Lacky Geld. Sie will mit Hilfe eines Mikrokredites von "Navjeevan" eine Nähmaschine kaufen und sich selbstständig machen, später. Am besten auf dem Land, weit weg von Mumbai, wo ein Lächeln nicht käuflich ist.
Stuttgarter Zeitung