Artikel: Sexworker als Therapeut

Hier könnt Ihr Eure Erlebnisse und Eure Gedanken zum Thema "Sexarbeit mit behinderten Kunden" aber auch "behinderte SexarbeiterInnen" posten, oder Anregungen holen, wie man mit dem sicherlich sensiblen Themen umgehen kann bzw. soll.
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Rolliman
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Artikel: Sexworker als Therapeut

Beitrag von Rolliman »


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Kasharius
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Beitrag von Kasharius »

...noch interessanter sind die Kommentare weiter unten ....


Kasharius

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annainga
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RE: Artikel: Sexworker als Therapeut

Beitrag von annainga »

es gibt so selten so positiv formulierte berichte über sexarbeit, deshalb stelle ich ihn mal in voller länge ein.
so geht es nicht verloren, falls der link mal abgestellt wird.

Die Prostituierte als Therapeutin

Auch geistig Behinderte haben den Wunsch nach körperlicher Zuneigung. Meist ziehen sie aber Streicheleinheiten dem Sex vor.

Die Sehnsucht nach Liebe und Zärtlichkeiten steckt in jedem Menschen - auch bei denen mit Behinderung. Doch während körperlich Behinderte ihre Wünsche äußern können, müssen es bei geistig Behinderten meist die Eltern oder Pfleger interpretieren.

Wie schwierig dies sein kann, weiß Christiane Wittig: Die Psychologin arbeitet seit 30 Jahren im Stephanus-Stift in Berlin, einer diakonischen Einrichtung für Menschen mit Behinderung. «Für mich war immer klar, dass Menschen mit einer geistigen Behinderung auch eine Sexualität haben und diese auch leben wollen», berichtet Wittig. Die körperliche Entwicklung verlaufe ganz normal, mit der Pubertät kämen dann auch sexuelle Bedürfnisse, die die Betroffenen allerdings nur schwer vermitteln könnten.

Wenn die Wünsche klar sind, kontaktieren Wittig und ihr Team spezialisierte Prostituierte, man spricht in diesem Fall von Sexualassistenz. Die Finanzierung obliegt jedoch im Gegensatz zu vielen anderen therapeutischen oder behinderungsspezifischen Hilfen den Betroffenen, da eine Kostenübernahme etwa durch das Sozialamt bisher nur in seltenen Einzelfällen erfolgt. «Sex auf Krankenschein», eine Kostenübernahme durch die Krankenkasse, ist in Deutschland anders als etwa in den Niederlanden gesetzlich ausgeschlossen.

«Sex auf Krankenschein»

In der Diskussion darüber ist die Psychologin Wittig grundsätzlich für die Kostenübernahme, gibt aber zu bedenken, dass nicht jeder Behinderte etwas mit «Sex auf Krankenschein» anfangen könnte: Für diejenigen, die nicht genau wissen, was sie wollen, wäre der Gang zur Prostituierten nicht hilfreich. In diesen Fällen wäre eine Sexualbegleitung im Sinne einer Sexualtherapie angebrachter, um zunächst mehr über die Wünsche zu erfahren.

Langjährige Erfahrung damit hat der Psychotherapeut Lothar Sandfort. Er ist querschnittsgelähmt und sitzt im Rollstuhl, seit mehreren Jahren arbeitet er als Sexualtherapeut. Er berichtet, dass sich oft herausstelle, dass die Behinderten lieber nur Streicheleinheiten haben wollten und keinen Sex.

Sitzungen mit Ersatzpartnern

Sandfort arbeitet während seinen Sitzungen mit Ersatzpartnern, speziell tätigen Prostituierten, die Erfahrung haben im Umgang mit Behinderten und auch seelische und emotionale Zuwendung spenden sollen. Die Behinderten sollen dabei vor allem lernen, Beziehungen aufzubauen.

http://www.news.de/gesundheit/855055872 ... apeutin/1/

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Kasharius
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Beitrag von Kasharius »

Ich kannte diesen Artikel auch schon. Man muss bei dem Thema Sexualbegleitung/Sexualassistenz aber immer sehr aufpassen, daß es niucht zu sehr ins therapeutische abgleitet. Menschen mit Behinderung, auch jene mit geistiger und/oder mehrfacher Behinderung haben sexuelle Bedürfnisse die einfach befriedigt werden wollen - manchmal eben auch gegen Entgelt. Ob das nun Sexualassistenz oder Sexualbegleitung genannt wird ist einerlei. Es ist eine Form von Prostitution und das sollte auch so benannt werden (ist nämlich nichts Schlimmes oder Anrüchiges) Das gilt auch bei den behinderten Kunden die nur kuscheln wollen. Was bei Sandfort stattfindet, ist aber eher Therapie unter Einsatz auch von SW und geht auch völlig in Ordnung. Einige Sexualbegleiterinnen haben aber zumindest in der Vergangenheit den Drang verspürt, sich in ihrem Tun von SW abzugrenzen - was ich so nicht nachvollziehen konnte und dann auch ein bischen verlogen fände. Ich fahnde mal nach einer Quelle aus der sich ergibt was ich meine. Bis dahin

Kasharius

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Lycisca
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Beitrag von Lycisca »

Kasharius hat geschrieben:Einige Sexualbegleiterinnen haben aber zumindest in der Vergangenheit den Drang verspürt, sich in ihrem Tun von SW abzugrenzen - was ich so nicht nachvollziehen konnte und dann auch ein bischen verlogen fände.
Vergleichbar ist auch bei SM-Anbietern ein Bedürfnis nach Abgrenzung zu "Prostitution" zu sehen. Das liegt aber an der Stigmatisierung der Prostitution als etwas illegales. Das Wort SW sollte neutraler und inklusiver sein

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Kasharius
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Beitrag von Kasharius »

...das wäre so ein Beispiel was ich zumindest in dem unbedingten Drang, sich von "klassischer Prostitution abzugrenzen, etwas fragwürdig finde. Oder bin ich da zu überempfindlich...?

Kasharius grüßt


http://www.sexualassistenz.ch/was.html

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annainga
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RE: Artikel: Sexworker als Therapeut

Beitrag von annainga »

ich kann die abgrenzung gut verstehen.
sexarbeit, die geschlechtsverkehr beinhaltet und
sexarbeit, die geschlechtsverkehr ausschließt
fühlt sich sehr unterschiedlich an.

sexarbeit in denen der eigene körper minimal involviert ist und das schauspiel der eigenen lust wegfällt, ist für mich ein anderes arbeiten und ich kann gut akzeptieren, dass sich sexualassistenten oder tantramasseure abgrenzen.

das arrogant und abfällig zu tun (was ich bisher nicht erlebt habe), wäre nicht ok.
aber auf die unterschiede hinzuweisen - gerade bei tantramassage - ist wichtig, denn ein kunde, der sex und sexuelles empfinden der sexarbeiterin als service haben möchte, wäre dann fehl am platz.

lieben gruß, annainga

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Beitrag von Kasharius »

@annainga

erstmal danke für diese Erklärung aber gestatte eine Nachfrage: Sind deine Beispiele nicht trotz der Abgrenzung sexuelle Handlungen und, sofern gegen Entgelt erbracht, stellen dann auch eine Form der Prostitution dar. Oder unterliege ich hier einem Denkfehler...? Ich will hier auch keine Definitionsdebatte wie weiland Bill Clinton führen (sinngemäß"Ich hatte keine sexuelle Beziehung zu dieser Frau...Frau Lewinsky")... Im Bericht des Sonderermittlers Kenneth Star konnten diese Aussage dann ja alle an Hand detailgenauer Darstellungen "nicht-sexueller"-Praktiken im Oval Office überprüfen, wenn mir dieser kleine historische Exkurs gestattet sei...


liebe Grüße


Kasharius

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RE: Artikel: Sexworker als Therapeut

Beitrag von Rolliman »

Interessante Debatte. Wenn sich irgendwann mal das schwedische Modell europaweit durchsetzen sollte, wäre es mit Sicherheit Diskussionswürdig inwieweit sexualbegleiter für Behinderte oder zum Beispiel auch Dominas davon betroffen wären, inwieweit diese unter den Prostitutionsbegriff fallen. Es wird mit Sicherheit wieder zu etlichen Wortklaubereien der Gelehrten kommen.

Die Frage wäre dann ja:"Wo fängt eine sexuelle Berührung an?"
Wenn ein Behinderter zum erstenmal weiblichen Kontakt am Arm oder so spürt und er vor Nervosität ejakuliert, dann kann man der Sexualbegleiterin wohl kaum ein sexuelle Hanndlung a la Clinton vorwerfen.

Wenn ich von mir ausgehe, dann wäre eine Sexualbegleiterin bei mir hoffnungslos deplaziert. Ich brauche schon von meinem Naturell her intensiveren und direkteren Kontakt.

so long
Rolliman

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RE: Artikel: Sexworker als Therapeut

Beitrag von Rolliman »

Ich habe nochmal den Film über Sexualassistenz mit Kali Waldmann rausgesucht. Da kommt ab 7:40 Minute ein Jurist zu Wort. Allerdings wird dort die Gesetzeslage in Österreich besprochen. In wieweit das auf Deutschland übertragbar ist, weiß ich nicht.

http://www.youtube.com/watch?v=u6ercUxgZEg

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Beitrag von Kasharius »

@Rollimann

Danke. Ich sehe es mir mal an und werde dann meine unmaßgebliche Meinung.

Ich finde überdies: Jede Handlung die in der Absicht erfolgt, einen anderen sexuell zu stimmulieren und gegen Entgelt erbracht wird stellt eine Form von Prostitution dar. Eine direkte Berührung ist dabei ebenso wenig erforderlich wie ein (vollendeter) Orgasmus (au weija, darf ich das hier schreiben... :002 :002 ); entscheidends ist allein die vorrangige Absicht der sexuellen Stimmulanz. Das wäre meine, sicher disskusionswürdige, Definition.

Gute Nacht

Kasharius

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RE: Artikel: Sexworker als Therapeut

Beitrag von annainga »

da gibt es inzwischen ja die schöne bezeichnung "sexarbeit", die diese tätigkeiten verbinden soll ohne das wort "prostitution", das sich für sehr viele abwertend anhört, stehen soll.

sexarbeit soll auch die bezeichnung für die tätigkeit der pornodarsteller sein, die sich auch von "prostitution" abgrenzen und eher als schauspieler sehen.

tantramassage z.b. hat nicht den sexuellen höhepunkt zum ziel, er darf sein, es gibt kein tabu, aber der körper steht in seiner gesamtheit im mittelpunkt und alle bereiche des körpers werden gleichberechtigt behandelt, berührt, wohlgetan.

ich habe ein kleines problem, das jetzt öffentlich zu schreiben und hoffe, dass ich damit keinen fehler mache, aber es gibt tantramassage-studios, die gerade weil sie sich von prostitution abgrenzen, keine probleme mit dem ordnungsamt, mit dem baurecht, mit dem finanzamt haben.

das ist sicher ein weiterer aspekt, der diese grenzziehung attraktiv macht und manche "normale prostituierte" verführt, sich als tantramasseurin zu bezeichnen und das führt dann dazu, dass sich "seriöse" tantamassage-studios noch stärker abgrenzen.

diese erfahrung habe ich nicht gemacht, ich habe einige workshops zu tantramassage mitgemacht und der kursleiter fand die verbindung von prostitution und tantramassage interessant, wies mich aber auch auf diese probleme hin.

lieben gruß, annainga

ps: und ich kann nur nochmals betonen, dass tantramassage ohne die schauspielerische leistung oder direkter ausgesprochen ohne den fake einer sexuellen erregung, die für jede sexarbeiterin eine umsatzsteigerung bedeutet, ein anderes arbeiten ist, das sich komplett anders anfühlt. mit logischem denken kann man das nicht verändern.

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RE: Artikel: Sexworker als Therapeut

Beitrag von Kasharius »

@Rollimann und annainga,

zunächst nochmal Danke annainga für Deine ausführliche und mir sehr verständliche Stellungnahme bzw. Deine Abgrenzung Prostitution /Sexualbegleitung. Aber ich bin hier nach wie vor der Auffassung, daß es sich bei Sexualbegleitung auch um eine (vielleicht niederschwellige) Form von Prostitution handelt. Das zeigt gerade auch der von Rollimann hier eingestellte ORF Beitrag. Auch wenn GV nicht angeboten wird, geht es um sexuelle Stimulanz (und zwar gegen Bezahlung hier in Höhe von 80 €). Was der nette Jurist über die Rechtslage in Österreich sagt klingt gruselig. Abr auch in Deutschland könnten sich Sexualbegleiter bzw. alle SW strafbar macheen. Dann nähmlich, wenn sich nicht eindeutig ermittelkn läßt, ob der Betroffene Mensch mit Behinderung tatsächlich freiwillig diese Dienste in Anspruch nimmt. Er gilt dann im Zweifel als Widerstandsunfähiger an dem sexuelle Handlungen auch in Deutschland verboten sind.

Hier noch der link zu einer sehr guten Expertise von profamilia.

http://www.profamilia.de/fileadmin/publ ... istenz.pdf

Ich freue mich auf die weitere Diskussion

Kasharius

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Beitrag von Kasharius »

...und hier zur Abrundung noch ein etwas älterer, aber sehr guter Artikel über die Mutter aller Sexualbegleiterinnen Nina de Fries. Ich meine das nicht abwertend sondern hege durchaus Sympatie für diese Dame und ihre fundierten Aussagen:

http://www.taz.de/%2144800/


Guten Abend

Kasharius

Behinderten-Sexualassistentin de Vries
"Die sind ja eigentlich so wie ich"
Es ist etwas ganz Natürliches - und ein Tabu: Auch behinderte Menschen haben Lust. Die Sexualassistentin Nina de Vries spricht über ihre Arbeit mit Behinderten.
Interview: ARIANE LEMME

taz: Frau de Vries, Sie arbeiten seit 13 Jahren als Sexualassistentin. Wie sind Sie dazu gekommen?
Nina de Vries: Ich habe mit erotischen Massagen angefangen, Tantramassagen für ganz "normale" Leute. Da kamen dann aber irgendwann auch Anfragen von Körperbehinderten, und für mich war das nichts Besonderes oder Spektakuläres. Ich habe einfach gemerkt, dass das für mich interessanter ist. Mittlerweile arbeite ich hauptsächlich mit Menschen, die schwere geistige Behinderungen haben.

Sexualassistenz, ist das Therapie oder Prostitution?
Unter Prostitution verstehen Leute verschiedene Sachen, aber im Großen und Ganzen wird Prostitution in unserer Gesellschaft oft als etwas nicht sehr Schönes betrachtet, als etwas Grobes, Benutzendes. Den Begriff "Therapie" kann man leichter annehmen. Ich distanziere mich aber trotzdem nicht per se von dem Wort "Prostitution", weil ich glaube, dass es auch in der "normalen" Prostitution viele Frauen und Männer gibt, die das gern und gut machen. Bei Sexualassistenz ist aber ganz wesentlich, dass ich genau weiß, wo meine Grenzen liegen, und mich auch daran halte. Ich muss authentisch sein, also etwa sagen können, ich möchte pauschal keinen Geschlechtsverkehr anbieten.

Was also ist Sexualassistenz?

Sexualassistenz ist eine sexuelle Dienstleistung, die mit Bewusstheit ausgeführt wird. Es ist keine Therapie, denn wenn ich das behaupte, dann gehe ich über den Klienten hinweg. Ich versuche immer, zu vermitteln, dass die Klienten bestimmen, was passiert. Wenn jemand eine Stunde lang nur meine Hand auf seinem Bauch haben möchte, ist das auch okay. Für einen Autisten kann es eine Höchstleistung sein, das zuzulassen!

Kann man also sagen dass Sexualassistenz eine Dienstleistung ist, die auf einer Art Beziehungsebene stattfindet?
Für mich trifft es eher der Begriff "Begegnung": denn Beziehung ist ja oft nur eine Idee, die eigentlich bedeutet, dass ich jemanden einordne und besitzen möchte. Deshalb frage ich meine Klienten auch nie, wie es ihnen seit dem letzten Treffen ergangen ist. Das heißt aber nicht, dass deshalb Sorgfalt und Freundlichkeit keine Rolle spielen. Wichtig ist, dass so wenig Automatismen wie möglich die Begegnung bestimmen, nach dem Motto: Letztes Mal war es so und so, also wird es nun wieder so funktionieren.

Welche Rolle spielt Mitleid bei Ihrer Arbeit?
Das ist eine Falle, der man sich absolut bewusst sein sollte. Natürlich kann man nicht all sein Mitleid abstellen. Aber ich kann mich fragen: Wo fange ich an, mich einzumischen, vielleicht auch unrespektvoll zu werden? Aber Mitleid ist auch etwas Anerzogenes, gerade vor dem christlichen Hintergrund. In meiner Kindheit hießen Menschen mit Behinderung auch noch "die Unglücklichen". Bei meiner Arbeit geht es mehr um Mit-fühlen als um Mit-leiden. Bei Mit-leiden setze ich voraus, dass der andere leidet, und das kann ich gar nicht wissen letztendlich.

Wie gehen Sie mit Mitleid oder auch mit eigenen Vorurteilen um?
Ich habe eher Schwierigkeiten, mich bei Menschen mit einer Körperbehinderung normal zu verhalten. Denn die sind ja eigentlich so wie ich, nur haben sie eben einen Körper, bei dem wir alle genau wissen, wenn du in so einem Körper steckst, dann wirst du dein ganzes Leben lang mitleidig angeguckt. Mich macht das befangen, ich will dann immer alles richtig machen. Da verhalte ich mich dann eher mal unecht. Menschen mit einer geistigen Behinderung haben einfach eine so andere Wahrnehmung, dass ich da entspannter bin. Sexualassistenz geht auch schief, wenn Leute das aus einem mitleidigen Impuls heraus machen und sagen: Für diese Menschen möchte ich was tun! Das ist überheblich, und die Klienten leiden dann darunter. Aber Mitleid steckt natürlich total in uns drin, diese Gesellschaft ist geprägt von der christlichen Kirche, die ja oft auch die Pflege von Behinderten übernommen hat.

Wie ist denn in den Einrichtungen christlicher Träger der Umgang mit der Sexualität der Bewohner?
Das kann ich natürlich pauschal nicht sagen, denn dort, wo ich hinkomme, gibt es ja bereits eine gewisse Offenheit dem Thema gegenüber. Oft geht es ja einfach darum, jemandem zu zeigen, wie er masturbieren kann, weil er nicht in der Lage ist, das selbst herauszufinden. Aber es gibt auch Leute, die dir haargenau auseinandersetzen, dass Sexualassistenz eine absolut schlechte Sache ist, dass so etwas unmoralisch ist. Ich habe da eine pragmatische Einstellung. Es geht doch schließlich um Menschen, die leiden.

Das sind Vorbehalte aus christlicher Sicht. Welchen anderen Vorurteilen sehen Sie - und Ihre Klienten - sich ausgesetzt?
Da gibt es die Bewegung Emanzipierte Körperbehinderte. Die sind manchmal allergisch gegen so was wie Sexualassistenz. Für die ist das nur eine weitere Sonderregelung, die ein integriertes Zusammenleben weiter verhindert. Ich kann das auch sehr gut nachvollziehen. Aber nichts zu machen und zu warten, bis die Gesellschaft so weit ist, dass keine Sonderregelungen mehr nötig sind - dazu bin ich zu pragmatisch. Gemäß dem Normalitätsprinzip sollte das dann natürlich eine normale Prostituierte machen. Aber bei Menschen mit schweren geistigen Behinderungen halte ich es für angebracht, wenn das jemand ist, der sich damit auskennt.

Woran scheitert die Integration von Menschen mit Behinderung?
Oft fehlt einfach die Bereitschaft, anzuerkennen, dass da jemand anders ist. Das hängt mit unserem Leistungsdenken zusammen. In Italien etwa gibt es keine Sonderpädagogik, die haben das in den 70er-Jahren schon abgeschafft. Der Lehrer muss sich da eben einfach mehr einfallen lassen. Hier fehlt oft eine Bereitschaft zu Unbequemlichkeiten, man sagt dann: Schmeiß die doch alle zusammen in eine Sonderschule, das ist einfacher! Durch die Trennung wird auch eine Art Defizit erst geschaffen, da werden die einen zu hoch qualifizierten Sozialpädagogen, und die anderen haben dann die Rolle "Behinderte". Das ist dann deren Qualifikation, deren "Job"!

Menschen mit Behinderung verfügen oft nur über sehr wenig Geld, in den Behindertenwerkstätten verdienen sie kaum mehr als ein Taschengeld. Eine Stunde bei Ihnen kostet 80 Euro. Wie können Ihre Kunden das zahlen?
Ich vereinbare seit Jahren auch individuelle Preise. Eigentlich sollte es hier eine Finanzierungsregelung geben. Es geht hier um Menschen, die in allen Bereichen des Lebens Assistenz brauchen, also selbstverständlich auch in diesem Bereich. Dass es keine finanzielle Unterstützung für diese Dienstleistung gibt, erklärte mir eine SPD-Abgeordneten mal damit, dass eine öffentliche Debatte über Sexualassistenz die Intimsphäre der Betroffenen beeinträchtigen würde. Das fand ich krass, denn natürlich ist das sehr wichtig, die Intimsphäre zu respektieren. Aber ohne diese Dinge zu besprechen, ändert sich nichts. Um mit Menschen arbeiten zu können, die schwerst mehrfachbehindert sind und sich nicht verbal ausdrücken können, die aber trotzdem signalisieren, dass sie Unterstützung in dem Bereich brauchen, muss ich auch über intime Dinge sprechen, bei den Betreuern nachfragen können.

Studien belegen, dass Menschen mit Behinderung oft Opfer von Missbrauch sind, manche werden aber auch selbst zu Tätern. Kann Sexualassistenz da helfen?
Es gibt tatsächlich unglaublich viel Missbrauch von Menschen mit Behinderung. Das hat aber mit dem Umgang mit Sexualität in unserer Gesellschaft allgemein zu tun, der ja sehr verklemmt ist, dass Sexualität stark von Beziehungen abhängt. Dadurch entstehen Situationen, in denen jemand seine Machtposition ausnutzt, einfach weil er so frustriert ist. Ich arbeite öfter mit Männern und auch gelegentlich mit Frauen, die übergriffig geworden sind, und das kann eine gute Lösung darstellen.

Es sind deutlich mehr Männer als Frauen, die Sexualassistenz in Anspruch nehmen, obwohl es ja auch männliche Sexualassistenten gibt. Woran liegt das?
Frauen verbinden Sexualität schneller mit Beziehungen. Männer können nach einer Massage eher daliegen, ihre Frau anrufen und sagen, ich komme etwas später. Meiner Meinung nach ist viel davon auch biologisch induziert.

Sie behaupten, dass die Definition von Behinderung als Defizit tragische Folgen für die gesamte Gesellschaft hat.
Ja, denn durch diese Definition entsteht ja diese enorme Angst vor Behinderung. Je älter man wird, desto realer wird die Gefahr, dass einem das selbst auch passieren kann. Wir können einen Unfall haben, dement werden. Und wir wissen alle, wie in unserer Gesellschaft damit umgegangen wird. Wenn du nicht mitkommst, dann halte das bitte versteckt! Das sieht man jetzt auch an der Diskussion über Depression, die ich allerdings als ein bisschen unecht empfinde. Da, wo ich herkommen, in Holland, ist das anders. Wenn dort Schriftsteller interviewt werden, dann erzählen die oft sehr freimütig, dass sie es ohne Antidepressiva nicht schaffen würden, dass sie depressiv sind. Das sind oft Leute, die hoch kreativ und erfolgreich sind.
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Nina de Vries wurde 1961 in Holland geboren und absolvierte dort neben einer Massage- auch eine therapeutische Ausbildung. 1990 zog de Vries nach Berlin, arbeitete zunächst als Künstlerin, 1992 für ein Jahr als Erzieherin in einem Rehabilitationszentrum. Dort machte sie erstmals intensivere Erfahrungen in der Arbeit mit Behinderten. Seit 13 Jahren bietet sie sexuelle Dienstleistungen für behinderte Männer und Frauen an, Geschlechts- und Oralverkehr gehören nicht zu ihrem Angebot. 2002 bildete sie am Institut zur Selbst-Bestimmung Behinderter (ISBB) erstmals SexualbegleiterInnen aus. Seitdem hält sie Vorträge und Workshops in Deutschland, Österreich und der Schweiz und hatte bereits Lehraufträge an der Fachhochschule Potsdam und der Universität in Bologna. Nina de Vries lebt heute in Potsdam
edit by ehemaliger_User: Text eingefügt und Link berichtigt

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RE: Artikel: Sexworker als Therapeut

Beitrag von annainga »

schön, dass du auf diese artikel verweist.
wenn du die zeit dazu findest, wäre es schön, sie mit kompletten text (und eventuell auch mit hervorhebungen) zu kopieren.
wir machen das hier oft so, damit die texte auch noch zu lesen sind, wenn der link nicht mehr funktioniert.

lieben gruß, annainga

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Beitrag von Kasharius »

@annainga und ehemaliger_User,

danke Euch beiden. Der Text von profamilia ist arg lang...?

Soll der hier wirklich vollständig eingestellt werden...? Ich meine: Eine PDF Datei kann man sich doch abspeichern - oder?


Kasharius der Forums... na wisst schon...

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RE: Artikel: Sexworker als Therapeut

Beitrag von annainga »

ja, hast recht @Kasharius, 76 seiten sind für einen beitrag etwas viel. das ist etwas für pyhsische archive. bei pro familia kann man es anfordern und dann werde ich es für madonna weiterreichen, die broschüre ist ausgesprochen interessant.

lieben gruß, annainga

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Beitrag von Kasharius »

@annainga

gute Idee. Kann sein daß ich demnächst in Berlin auf einer Tagung etwas dazu aus juristischer sicht etwas beisteuern werde...

hast du den schon solche (juristischen) Grenzerfahrungen gemacht; soll heißen kontakt zu behinderten Gästen gehabt die sich gar nicht bzw. nur schwer erkennbar mitrteilen konnten.

Wenn Du nicht aus dem Nesthäckchen ...äh Nähkästchen plaudern willst verstehe ich dsas natürlich. Lieben Gruß

Kasharius

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Beitrag von Kasharius »

Und hier ein sehr guter Artikel aus der Süddeutschen Zeitung von Anfang des Jahres zum Thema:

Tabu Sex und Körperbehinderung "Freier mit Behinderung betrachten uns als Menschen"

29.01.2012, 11:49
Von Sarah Ehrmann

Für Menschen mit schwerer Behinderung ist nichts wie für Gesunde - auch der Sex nicht. Trotz zaghafter Schritte hin zur sexuellen Befreiung bleibt ihr Bedürfnis ein Tabu. Vielen bleibt nur der Weg zu Prostituierten.

Die Entscheidung war Matthias Vernaldi nicht leicht gefallen. Er - und eine Nutte. Er, der evangelische Theologe, der linke Intellektuelle, der Umweltaktivist. Er, der Mann im Rollstuhl. Doch "dann siegten meine Gefühle über meine Moral" erinnert sich der 52-Jährige heute, mehr als zehn Jahre danach in seiner Altbauwohnung in Berlin-Kreuzberg und lächelt schief. Afrikanische Skulpturen auf dem Sideboard, ein ausgestopfter Steinkauz neben blauen Schmetterlingen hinter Glas, am wuchtigen Tisch der kleine bewegungslose Mann mit dem lichten Vollbart und der blauen Decke über den von Muskelschwund dünn gewordenen Beinen.
ROTLICHTMILIEU VON EXPO ENTTÄUSCHT

Zu Besuch bei einer Prostituierten: Für viele behinderte Menschen steht das Bedürfnis nach Zuneigung im Vordergrund - um genitalen Sex geht es erst in zweiter Hinsicht. (© DPA)

Ein Mann geht ins Bordell, eigentlich nicht weiter erwähnenswert, gehörte Vernaldi nicht zu den geschätzten sieben bis neun Millionen Menschen mit Behinderung in Deutschland. Und wäre Behinderung und Sexualität nicht immer noch ein so tabubehaftetes Thema, egal ob es um Beziehungen zwischen Menschen mit Behinderung oder um käufliche Liebe geht.

Um so lässig damit leben zu können, wie Eric Toledano und Olivier Nakache es im Kinofilm Ziemlich beste Freunde zeigen, der momentan die deutschen Kinocharts anführt und eine Debatte über Selbstbestimmung und falsch verstandenes Mitleid losgetreten hat, muss man als Betroffener schon großes Glück haben. Im Film landen der querschnittsgelähmte Philippe und sein aufgedrehter Assistent Driss bei zwei asiatischen Masseurinnen in einem Studio. Als es von der bloßen Massage zum Zusatzprogramm übergeht, sagt Driss nur einen Satz: "Nicht tiefer gehen, kümmer' dich um seine Ohren." Ein Lacher mit ernstem Hintergrund: Philippes Ohren sind die letzte Bastion der Lust in einem ansonsten gefühllosen Körper.

"Scheußlich" sei es bei ihm gewesen, sagt Vernaldi über seinen ersten Bordellbesuch. Die Blicke. Die Frauen, die sagten, sie gingen nicht mit einem Behinderten mit. Die eine, die dann mechanisch ihr Programm abspulte, das Vernaldi schließlich abbrach. Und doch ging er wieder hin. "Typische Midlife-Crisis", sagt er. Damals ärgerte er sich darüber, dass Prostituierte es sich doppelt bezahlen ließen, mit ihm als Körperbehinderten aufs Zimmer zu gehen und ihn dann mit Streicheln abspeisen wollten, obwohl er nach normalem Geschlechtsverkehr gefragt hatte.

Vernaldi ist ein klugerGesprächspartner, ein guter Zuhörer. Und so lud er irgendwann einfach ein, um zu reden - Menschen mit Behinderung, Prostituierte und Sozialarbeiter der Hurenorganisation Hydra. Sie redeten lange. Stellten fest, dass der Austausch fehlte, Wünsche mit Vorurteilen kollidierten. Vernaldi gründete Sexybilities, eine Initiative der Arbeitsgemeinschaft für selbstbestimmtes Leben schwerstbehinderter Menschen.
Vorkämpfer der sexuellen Revolution

Vernaldi brachte Menschen mit und ohne Behinderung zusammen, zu seinen legendären Partys kamen oft 500 Gäste. Immer wieder hört er seither die Begriffe Kämpfer, Befreiungsbewegung, sexuelle Revolution für Menschen mit Behinderung, doch er hört sie nicht gerne. "Das ist doch zu groß", sagt er nüchtern und bittet seinen Assistenten, ihm die Espressotasse zum Mund zu führen.

In einer Zeit, in der die morgendliche Erektion eines Behinderten seinen Betreuern noch eher als anstrengende Begleiterscheinung des Alltagsgeschäft denn als ernstzunehmendes sexuelles Bedürfnis galt, wuchs Vernaldi in einer linken Landkommune auf. Heute lebt er in der Stadt, in der sich in den vergangenen zwanzig Jahren ein deutschlandweit einzigartiges Modell der sexuellen Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung entwickelt hat.
Bordell für besondere Bedürfnisse

Hier hat die Spastikerhilfe Berlin 1992 das erste Konzept zum liberalen Umgang in betreuten Einrichtungen herausgebracht; hier wurde die Holländerin Nina de Vries 2003 zur Pionierin einer Sexualassistenz, die sinnliche Berührungen wie Streicheln, Küssen, Massieren, manchmal mit Handstimulation bis zum Orgasmus einschließt; hier entflammte auch die Diskussion über geringe Einkommen in Behindertenwerkstätten, die kaum ausreichen, diese Berührstunden öfter als zweimal im Jahr zu finanzieren.

In Berlin liegt auch, ein wenig versteckt neben der grellen Leuchtreklame des "Big Sexyland" in Schöneberg, das Edelbordell "Agentur Liberty". Inhaberin Kerstin Berghäuser hat selbst acht Jahre als Prostituierte gearbeitet und hatte dabei immer wieder Freier mit Behinderung - Kleinwüchsige, Blinde, Kriegsveteranen, die ihre Prothese zum Sex neben dem Bett abstellten. Für sie selbst sei das eine Abwechslung gewesen, "auch wenn man sich erstmal dran gewöhnen musste, dass ein Kleinwüchsiger, der gerne Sex im Stehen mag, dazu auf dem Bett stehen muss, und ich davor".

Doch 15 der 50 Frauen im "Liberty" arbeiten inzwischen ganz selbstverständlich auch mit Menschen mit Behinderung, die im Übrigen heute nicht mehr für den Sex bezahlen als Freier ohne Behinderung. "Man sieht die Behinderung irgendwann nicht mehr, man sieht den Menschen", sagt Berghäuser. Als sie sich selbstständig machte und das Bordell um eine zweite Etage erweiterte, nutze sie die Barrierefreiheit im ersten Stock - und wandte sich auf der Homepage dezidiert an Menschen mit Behinderung. Drei- bis viermal die Woche kommen diese nun in die geräumigen Zimmer, wo die Türen breiter und die Betten niedriger sind und neben dem Whirlpool ein Kran steht. "Die Nachfrage nimmt zu", sagt sie.
Von der Krankenschwester zur Prostituierten

Hier hatte Marlene, groß, blond, Anfang Dreißig, eine der älteren im Bordell, oft einen Freier mit Glasknochen, der kaum einen Meter groß war. "Der Enno war so klein und zerbrechlich" sagt sie, "wir wollten ihn auf eine leere Getränkekiste in den Pool setzen, aber die kam immer wieder an die Oberfläche, weil er zu leicht war." Statt peinlich berührt zu sein, hätten sie zusammen über die Situation gelacht, erzählt sie. Ihren Job als Krankenschwester hat Marlene irgendwann aufgegeben - "ich bin Perfektionistin; 60 Patienten am Ende des Tags nicht gerecht geworden zu sein, hat mich fertig gemacht". Berührungsängste mit Menschen mit Behinderung hatte sie dank ihrer Arbeitserfahrung nie. "Was soll's", sagt sie, "ob man jetzt ein Kittelchen anhat oder nicht - so groß ist der Unterschied nicht."

Dass die Gäste manchmal sabbern, sich über ein Rutschbrett ins Bett ziehen oder Körper haben, die durch Muskel- oder Knochenschäden deformiert sind, ist ihr egal. "Bei den Behinderten, da hab' ich das Gefühl, ich hab' was Gutes getan, jemanden glücklich gemacht, da bin ich mit mir im Reinen." Da ginge es zwar auch um Sex, meist müssten die Frauen aktiver sein, weil die Männer bewegungseingeschränkt seien, aber die Ebene der Begegnung sei eine andere: "Freier mit Behinderung sind oft Stammgäste, wie Familie. Die nehmen uns ernst, sind interessiert betrachten auch uns als Menschen", sagt Marlene. Und irgendwie, sagt Kerstin Berghäuser, sind wir doch beides Randgruppen, die Prostituierten und die Menschen mit Behinderung. Das verbindet.

Wer zu Marlene, Sofia oder Celine ins Liberty kommen kann, der ist entweder selbst noch einigermaßen mobil, oder hat unterstützende Betreuer, die dann in einem kleinen Räumchen bei Cola und Zeitschriften warten. Doch die Realität vieler Menschen mit Behinderung ist auch heute noch fast immer ein zäher Kampf um winzige Schritte zu Selbstständigkeit und Akzeptanz. Noch heute wagt es die Gesellschaft nicht wirklich, über die sexuellen Bedürfnisse der "Perfekt Imperfekten", wie Rasso Bruckert sie in seinem Fotobildband genannt hat, ernsthaft nachzudenken. Zwar hat sich Deutschland mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention 2009 verpflichtet, die geforderte Inklusion umzusetzen, also ein Zusammenleben aller, in dem jeder die gleichen Rechte hat - ein Recht auf Sexualität ist darin zwar nicht verankert, kann aber indirekt aus dem Recht auf Reproduktion abgeleitet werden. Das Tabu aber ist dadurch nicht verschwunden.
Assistierter Sex

Institutionen und Einzelkämpfer wie Matthias Vernaldi setzen sich daher für ein Minimum an Privatsphäre in den Einrichtungen ein. Dabei steht das Bedürfnis der Betroffenen nach Zuneigung ganz oben, um harte Prostitution und genitalen Sex geht es erst in zweiter Hinsicht. Es geht um Liebe, die nicht von den Eltern kommt, und um ein Freischwimmen von Überbehütung durch andere. Leicht ist diese Befreiung aus einer zugeschriebenen Unmündigkeit nicht. Erst recht nicht für jene, die nicht sprechen können.

Sebastian Knorr hat eine laute Stimme, er kann brüllen, tief und kehlig, es kommt von ganz tief drinnen. Doch wer Knorr zum ersten Mal trifft, versteht ihn dennoch nicht. Denn er kann kein einziges Wort sagen, der 42-Jährige ist schwerst mehrfachbehindert. Eine Sauerstoffunterversorgung während der Geburt machte ihn zum Spastiker. Sein Kopf ist klar - aber sein Verstand dringt nicht nach außen. Nur anhand von Symbolsprachebögen kann er sich verständlich machen. Ute Blume blättert die Seiten durch, "willst du über Arbeit sprechen?", Sebastian Knorr verkrampft sich. Das ist ein Nein. "Über die Gruppe?" Er lächelt. Das ist ein Ja. Dann gehen die Fragen weiter, er zeigt Ja oder Nein. Mehr geht nicht.

"Wenn die Menschen, die mich behüten und versorgen, ein Thema nicht ansprechen wollen oder können, dann hab ich auch keine Chance mich dazu zu äußern." Knorr hat diesen Satz nie gesagt, sein Satz ist es dennoch. Er hat ihn erarbeitet zusammen mit Betreuerin Ute Blume von der Spastikerhilfe Berlin und sie hat ihn vorgetragen in einer Fachtagung in München im vergangenen Jahr. Knorr war mit auf der Bühne. "Wir haben gemeinsam vorgetragen", sagt Ute Blume, und Knorr strahlt sie mit seinen blauen Augen an.

Aufgeklärt wurde Knorr nie. Seiner eigenen Sexualität begegnete er erst als junger Mann, als er in eine Einrichtung der Spastikerhilfe zog. "Dort wurde ganz offen über ein Tabuthema gesprochen", hat Knorr transkribieren lassen, und: "Ich nahm alles mit - Gesprächskreise, Singletreffs, Sex-Picknicks, einfach alles, denn ich war durstig nach diesen verbotenen anrüchigen Dingen."
Sexualassistenz zweimal jährlich

In der Einrichtung kam er auch in Kontakt mit Sexualassistenz. Wenn man Knorr nach den Stunden mit seiner Sexualassistentin fragt, bekommt er wieder diesen seligen Blick. Schön seien die, übersetzt Ulrike Blume. Wenn die Berlinerin kommt, bringt sie Musik mit, nimmt sich Zeit, lacht mit Sebastian Knorr, massiert ihn, hat Sex mit ihm. Was genau das bedeutet, wissen nur die beiden, denn Knorr erzählt es nicht, und seine Betreuer kommen nicht ins Zimmer, wenn Besuch da ist. Regelmäßig sehe er sie, schreibt Knorr, das heißt zweimal im Jahr. "Nicht, weil ich es mir nicht öfter leisten kann, wie viele meiner Betreuer gerne glauben, sondern weil es mir genügt."

Für Knorr stellen die Stunden mit der Sexualassistentin eine Ergänzung dar. Sein wirkliches Leben spielt sich woanders ab: Bei Gülhan, seiner Freundin und Arbeitskollegin, die ebenso schwerbehindert ist, wie er. Unterhalten können sie sich nur, wenn ein Betreuer mit den Symboltafeln hilft, privat treffen sie sich dreimal im Jahr. Doch all das nimmt Sebastian Knorr hin, mit einem seligen Lächeln: "Liebe, Nähe und das Gefühl, zu einem Menschen zu gehören, sind die wichtigsten Dinge in meinem Leben. Ich könnte ohne sie nicht mehr leben", steht dazu im Protokoll.

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RE: Artikel: Sexworker als Therapeut

Beitrag von annainga »

"Da ginge es zwar auch um Sex, meist müssten die Frauen aktiver sein, weil die Männer bewegungseingeschränkt seien, aber die Ebene der Begegnung sei eine andere: "Freier mit Behinderung sind oft Stammgäste, wie Familie. Die nehmen uns ernst, sind interessiert betrachten auch uns als Menschen", sagt Marlene. Und irgendwie, sagt Kerstin Berghäuser, sind wir doch beides Randgruppen, die Prostituierten und die Menschen mit Behinderung. Das verbindet."

damit drückt der text das aus, weshalb mir sexarbeit dieser art leicht von der hand geht.

deine frage @Kasharius ist ok, es geht ja um ein sachliches thema.
es ist wirklich auf eine andere art schwierig, wenn man sich schlecht verständigen kann und wenn es um geistige behinderung geht, kommen weitere bedenken dazu.

in so einem fall machte der betreuer den termin aus und sagte mir, dass er und sein klient 2 jahre an dem thema dran sind, dass er eine frau, die sex mit ihm macht, buchen will. also kam sexualassistenz nicht in frage, sondern eine "normale" prostituierte. sie waren erst im rotlichtviertel der stadt, aber dort waren beide überfordert und verwirrt. sie entschieden sich für einen hausbesuch und das war dann ich.

als mich der betreuer anrief (weil der kunde am telefon unverständlich ist), war ich überrascht wie lange die an einem sextreffen herumbasteln und überlegte nicht lange, sondern machte den termin aus.

oder ein anderer termin, der war echt witzig:

kunde xy lebt in einer betreuten wohngemeinschaft und bucht mich. als ich ankomme, werde ich in die gemeinschaftsküche geführt, alle grinsen mich an und eine mitbewohnerin fragt mich nach sexpraktiken, wenn doch schon mal eine vom fach hier sei. kunde xy hat mich da lauthals angekündigt und eine halbe wg-party draus machen wollen, sogar die handwerker, die im flur was ausbesserten, bekamen alles mit und es mag nicht jedermanns sache sein, aber ich fand das ziemlich lustig und natürlich.

ein kunde aus dem seniorenzentrum sollte keinen besuch erhalten dürfen, denn der organisatorische aufwand wäre zu groß. er hat mir stolz erzählt, wie er um sein recht gekämpft hat, sexarbeiterinnen auch später zu empfangen und dafür zu sorgen, dass die tür auch nach 22 uhr nochmals höflich aufgesperrt wird.

lieben gruß, annainga