"Beim Sex können wir Männer noch gut gebrauchen"
Die Zwillinge Louise und Martine Fokkens sind 70 Jahre alt und haben fast 50 Jahre in Amsterdam als Prostituierte gearbeitet. Im Interview erzählen sie von ihrem ersten Mal aus ihrem Leben. Von Holger Fritsche
Es ist sicherlich nicht die klügste Idee, sich mit den beiden wohl bekanntesten niederländischen Prostituierten mitten im Amsterdamer Rotlichtviertel de Wallen für ein Interview zu treffen. Überall werden Louise und Martine Fokkens erkannt. Zum Beispiel von einem Herren aus Österreich, dem es bei der zufälligen Begegnung fast die Sprache verschlägt. Vor 20 Jahren hätte er die Schwestern zum letzten Mal gesehen. Genau hier, inmitten der engen Gassen des weltberühmten Amsterdamer Viertels. Die Schwestern selbst sind vor einiger Zeit in einen Vorort von Amsterdam gezogen. Doch die Stadt und ihr Rotlichtviertel ganz loslassen, können und wollen sie nicht.
Die Welt: Louise, Sie haben sich 2009 zur Ruhe gesetzt. Vermissen Sie Ihr altes Leben?
Louise Fokkens: Natürlich ist es toll, hierher zurück zu kommen. Immer, wenn ich in Amsterdam bin und durch die Straßen laufe, die Männer nach einem schauen und man mit ihnen ins Gespräch kommt, fühle ich mich wieder jung. Aber ich habe ja nicht von heute auf morgen aufgehört. Das war ein Prozess. Ich konnte mich darauf einstellen und bin nun sehr zufrieden.
Die Welt: Warum haben Sie aufgehört?
Louise: Ich habe schon seit einiger Zeit Rheuma. Das macht einem das Arbeiten in unserem Beruf praktisch unmöglich. Irgendwann musste ich einsehen, dass es keinen Sinn mehr hat.
Die Welt: Martine, Sie arbeiten immer noch ein- bis zweimal die Woche. Warum hören Sie nicht auch auf?
Martine Fokkens: Das ist ganz einfach: Ich brauche das Geld (lacht). Ohne Geld geht es eben nicht. Von der staatlichen Rente kann ich nicht leben.
Louise: Und ist es nicht toll, dass man unseren Beruf auch noch in unserem hohen Alter ausüben kann (lacht).
Die Welt: Nach einer aktuellen Studie der EU steigt der Menschenhandel innerhalb von Europa stetig an, und in den Niederlanden steht eine Reform des Prostitutionsgesetzes auf der Agenda, wonach bezahlte sexuelle Handlungen künftig strafbar sein sollen.
Louise: Das ist die dümmste Idee, die wir je gehört haben. Das, was die Männer tun, ist doch menschlich. Jeder sollte für sich selbst bestimmen dürfen, ob er für Sex bezahlen möchte oder nicht. Und seien wir doch mal ehrlich: Zuhause müssen die Männer doch auch bezahlen, ein Kleid hier, ein Strauß Blumen oder Parfüm da. Das kostet doch auch alles Geld, oder etwa nicht? Die Politik muss die Kriminalität, die um das Geschäft herum besteht, bekämpfen.
Die Welt: Auch Ihre "Karriere" begann alles andere als freiwillig. Auch Sie wurden zur Prostitution gezwungen.
Louise: Das stimmt. Mein damaliger Mann Willem sagte zu mir: 'Das musst du jetzt zwei Jahre machen, länger nicht.' Natürlich blieb es nicht bei den zwei Jahren. Aber irgendwann kämpft man sich frei, man erkämpft sich sein eigenes Leben. Abseits von der Arbeit, zum Beispiel Zuhause mit den Kindern. Heute kann ich sagen, ich habe mein Leben gelebt.
Die Welt: Sie mussten teilweise anschaffen gehen, damit sich Ihr Mann einen Alfa Romeo kaufen kann. Ist das nicht erniedrigend?
Louise: Überhaupt nicht. Das gehörte damals zum Geschäft dazu. Das Auto war ein Statussymbol. Ich musste doch zur Arbeit gebracht werden und das geht doch nicht in irgendeiner alten Karre. Man musste doch sehen, dass ich eine gute Partie bin, und da gehörte das Auto eben dazu.
Martine: Wir haben immer versucht, alles mit Humor zu nehmen, in allem das Gute zu sehen. Nicht nur im Job, auch im normalen Leben.
Die Welt: Sie haben sich niemals für Ihren Beruf geschämt?
Louise: Niemals. Warum auch? Ganz im Gegenteil: Ich war immer stolz. Jedes Mal, wenn wir von anderen Frauen als Huren beschimpft wurden, habe ich bei mir gedacht: 'Weißt du überhaupt, was dein Kerl möchte? Kennst du seine Fantasien?' Sicherlich nicht. Ich aber schon. (lacht)
Die Welt: Können Sie sich noch an den verrücktesten Wunsch eines Kunden erinnern?
Martine: Ein Kunde hat mal mich mal gefragt, ob ich ihm mit meinen hohen Stiefeln ins Gesicht trete könne. Ich war einverstanden und sagte ihm, dass ihn das 250 Euro kosten würde. Er bezahlte ohne zu zögern, sagte mir aber, dass ich mich beeilen solle. Er sei gerade auf Einkaufstour für seine Frau und hätte nicht so viel Zeit. Also zog ich meine Overknee-Stiefel an, stieg aufs Bett und fing an zu treten. Er fing lustvoll an zu schreien und bedankte sich am Ende sogar bei mir.
Louise: Ich hatte mal einen Typen, der wurde beim Gedanken an Gartenzwerge total heiß. Der hatte mir eine rote Zipfelmütze mitgebracht, die ich aufsetzen musste, und während er an sich rumspielte und regelrecht in Trance geriet, rief er immer wieder "Ich bin der gefährliche, fiese, gemeine, spritzende Gartenzwerg". Als er fertig war, packte er seine Mütze wieder ein und ging glücklich davon.
Die Welt: Sie hatten auch gemeinsamen Sex mit Männern. Ist das nicht komisch?
Louise: Nein, überhaupt nicht. Das ist doch toll. Die Männer liebten das. Und in diesem Moment zählt nur, was der Kunde möchte. Das musst du erledigen. Es ist eher so, dass wir uns in diesem Moment gegenseitig beschützt haben. Das ist ein beruhigendes Gefühl.
Die Welt: Wenn Sie die heutige Zeit mit Ihrer Anfangszeit vergleichen, inwieweit hat sich das Geschäft verändert?
Martine: Früher hielten alle Frauen zusammen. Man gönnte sich etwas. Doch irgendwann fingen die Mädchen an, sich im Preis zu unterbieten. Das machte das Geschäft kaputt.
Louise: Früher haben wir auch viel mehr Wert auf unser Äußeres und unsere Kleidung gelegt. Wir hatten viel mehr an, als die Frauen heutzutage. Das war ein Spiel. Immer wenn wir etwas ausziehen sollten, musste der Mann bezahlen. Bis wir uns mal ganz ausgezogen haben, dafür mussten die ganz schön was hinblättern. Das war ein gutes Geschäft. Heute stehen die Mädchen schon mehr oder weniger nackt im Fenster. Nicht sehr clever, wenn Sie mich fragen.
Die Welt: Sie pflegten früher einen anderen Umgang mit Ihren Kunden?
Louise: Auf jeden Fall. Es geht in dem Beruf nicht alleine ums Körperliche. Die Mädchen von heute denken, wir setzten uns nackt ins Fenster und dann läuft es schon. Aber darum geht es nicht. Es geht um Gefühle.
Die Welt: Um gespielte Gefühle.
Louise: Nein, ganz und gar nicht.
Die Welt: Haben Sie sich schon mal in einen Kunden verliebt?
Louise: Ja, aber natürlich. Das lässt sich nicht vermeiden. Das ist ein tolles Gefühl. Wenn man merkt, dass man für einem Kunden auf einmal mehr empfindet, als das gewöhnlich der Fall ist. Dann freut man sich, wenn er beim nächsten Mal wieder vorbeikommt. Und dann ist es doch toll, wenn sich daraus mehr entwickelt.
Die Welt: Trotzdem sind Sie beide heute Single. Haben Sie die Nase voll von Männern?
Martine: Nein, auf gar keinen Fall. Im Leben nicht.
Louise: In Sachen Sex können wir die Männer immer noch gut gebrauchen. Ich bin nicht ernsthaft krank, bei mir funktioniert noch alles. Aber ich möchte keine Verbindlichkeiten mehr. Ich habe so viele Hobbys, meine Kinder, Enkelkinder, Ur-Enkelkinder. Ich möchte mich in meinem Leben nicht mehr einschränken. Ich brauche keinen Mann mehr, dem man seine ständige Aufmerksamkeit widmen muss, nur um ihm das Gefühl zu geben, er sei die Nummer Eins. Viele Männer können nicht loslassen. Und das will ich nicht. Ich lebe nach dem Motto: Freiheit gleich Freude.
Die Welt: Haben Sie die echte Liebe verlernt?
Louise: Nein, auf gar keinen Fall. Ich liebe die Liebe. Die werde ich niemals verlernen. Es ist eher so, dass wir durch unseren Beruf gelernt haben, was Liebe wirklich bedeutet?
Die Welt: Und was bedeutet sie?
Louise: Liebe bedeutet, Respekt voreinander haben. Einen Weg zusammen gehen. Geben und nehmen. Füreinander da sein. Sich aufopfern und nicht egoistisch sein.
Die Welt: Zum Schluss noch einmal weg von der Liebe, zurück zum Geschäft: Erinnern Sie sich an ihr erstes professionelles Mal?
Martine: Ja klar! (lacht) Mein allererster Kunde war ein Amerikaner. Ich stellte mich total dämlich mit dem Kondom an und fragte meine Schwester, die ja im gleichen Bordell arbeitete, ob sie mir helfen könne. Der Kerl fand das natürlich toll. Und als ich das Kondom dann endlich in Position hatte, kam er auch schon. Mir war das furchtbar peinlich. Ihm aber auch – wahrscheinlich war es auch sein erstes Mal. Er wollte am nächsten Tag wiederkommen, was er auch tat, und dann lief es um einiges besser.
Die Autobiografie "Guckt ihr nur! - Schaufenstergeschichten aus dem Leben zweier Huren" erscheint am 13. Mai 2013 im Blanvalet Taschenbuch Verlag, 222 Seiten, 9,99 Euro
Die Welt 13.05.2013