Eine miese Doku und deren Verriss im "SPIEGEL"

Berichte, Dokus, Artikel und ja: auch Talkshows zum Thema Sexarbeit werden hier diskutiert
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Snickerman
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Eine miese Doku und deren Verriss im "SPIEGEL"

Beitrag von Snickerman »

Ausnahmsweise mal gute Nachrichten vom "SPIEGEL":
Die NDR-Doku "7 Tage im Bordell" wird von der Redakteurin regelrecht auseinandergenommen und als Anhäufung von Vorurteilen entlarvt:
http://www.spiegel.de/kultur/tv/misslun ... 07755.html
Besonders die "dramatisierenden" Kommentare aus dem Off werden dabei als Stimmungsmache bloßgestellt.

Sehr gut ein Post dazu:
"Betroffenheitssoße

Tja, das kommt davon, wenn in einer TV-Redaktion lediglich sich Leute herumlümmeln,
die täglich ihre Entrüstungsfrikadellen mit geschmorten Moralingürkchen und Betroffenheitssoße als Leibspeise zu sich nehmen.
Zum Nachtisch wird dann Pathosparfait mit glacierten Larmoyanzträubchen gereicht."

Besser (und lustiger) hätte ich es selbst nicht audrücken können!
Ich höre das Gras schon wachsen,
in das wir beißen werden!

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Marc of Frankfurt
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Wenn Welten aufeinandertreffen

Beitrag von Marc of Frankfurt »

Kann es sein, dass der Spiegel aufgrund unserer Proteste zu seinem letzten Aufmacher www.sexworker.at/phpBB2/viewtopic.php?p=131865#131865 jetzt mal genauer hinschauen läßt?



___

NDR-Journalistin Linda Luft und die Kamerafrau Brid Roesner besichtigen für die Doku-Reihe "7 Tage"... ein Bordell

Der Reporterin fällt es erkennbar schwer, den Job im Billig-Puff (Discountervariante, wo Sex für 38,50 Euro) als selbstbestimmte Entscheidung, als gewählte Sexarbeit zu sehen. Ihre Schlussfolgerungen: "So ein Leben hält man offenbar nur aus, wenn man verdrängt. Wegsteckt. So lange, bis von einem selbst nichts mehr übrig bleibt."

Leider sind die Fragen, die die Reporterin in diesem fremden Mikrokosmos stellt, nicht unvoreingenommen, sondern naiv bis pomeranzenhaft: Liebe und Sex, sind das zwei unterschiedliche Sachen?

Wirkliche Gespräche mit den Frauen im Bordell kommen nicht zustande, weil die Reporterin in erster Linie mit Staunen befasst ist.

Dazwischen erzählen die Prostituierten pragmatisch und unbefangen, teilweise durchaus heiter von ihrer Arbeit, doch der begleitende Autorinnen-Kommentar aus dem Off überstülpt sie mit melodramatischen, projizierten Interpretationen.

Der pathetische Off-Kommentar: "Geld ist für die Huren auch Morphium. Geld betäubt."

Nach sieben Tagen Recherche stehen Erkenntnisse, die auch die bravste Pfarrhaushälterin nicht überraschen dürften: "In einem Bordell wird alles nur behauptet." Und "Die Frauen sind die ewig Willigen, Männer haben das Sagen."

Als junges Mädchen könne man im Bordell besser Geld verdienen als eine 30- oder 40-jährige, sagt Bordellchefin Isabella Neubauer (von der Off-Stimme natürlich als "Puffmutter" bezeichnet), die früher selbst anschaffte. "Irgendwann Ende 20 kriegst du kalte Augen, kaltes Gesicht. Man kriegt dann die Hurenaugen."

Von Anja Rützel
Spiegel.de


http://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/7 ... ge775.html


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Emma-Gutversteckt
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RE: Eine miese Doku und deren Verriss im "SPIEGEL"

Beitrag von Emma-Gutversteckt »

Jetzt werde ich bestimmt gleich verbal zerrissen...

Ich fand die Doku eigentlich gar nicht so schlecht. Diese Fragen, die die Dame stellt, mögen für uns blöd klingen, aber genau das werde ich (von den Leuten, die noch nie etwas damit zu tun hatten) auch gefragt, wenn mein Job zur Sprache kommt.

Die normale Frau stellt sich dieses Geschäft im Regelfall fürchterlich vor, weil sie es nicht kennt und nur diverses Zeug aus den Medien aufgeschnappt hat, das ja bekanntlich meistens eher als Schrott zu betrachten ist.
Wie soll sie es besser wissen? Und warum sollte sie nicht all das fragen, was sie wirklich interessiert, wenn sie schon mal die Möglichkeit dazu hat?

Von diesem "Entsafter" kann man halten, was man will... Solange die Frauen das freiwillig machen, ist es zu akzeptieren bzw. wenigstens zu tolerieren. Als ich erstmals die Werbung dafür gesehen habe, stürmten blitzartig recht gruselige Bilder durch mein Hirn - und von daher kann ich der Dame nicht verübeln, dass auch sie das Ding kritisch betrachtet und hinterfragt hat. (Immerhin fragt sie wenigstens.)

Die Frauen werden von ihr nicht abgewertet (jedenfalls nicht absichtlich) und alles in allem, fand ich das Filmchen recht human und menschlich - vor allem im Vergleich zu den meisten anderen "Dokumentationen".

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Beitrag von ehemaliger_User »

Was um alles in der Welt sind "Hurenaugen"?

Frau Luft hat doch nicht so genau hingeschaut, sonst wäre ihr aufgefallen dass Kunden im Bordell nicht das Sagen haben.
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Sissi_Salzburg
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Beitrag von Sissi_Salzburg »

Wenn es schon Hurenaugen gibt ; spricht man dann auch von Hurenvaginas (Ich hoffe der plural ist korrekt?) ! Konnte bis jetzt keine Veränderung meiner Körperteile feststellen ? Liebe Grüsse aus Salzburg Sissy

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La Marfa
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RE: Eine miese Doku und deren Verriss im "SPIEGEL"

Beitrag von La Marfa »

Ich kenne das Bordell-Geschäft nicht aus persönlicher Anschauung. Allerdings trifft einiges davon schon auch meine Erwartungen, nämlich dass es alle 3 offensichtlichen Haltungen gibt: Frauen, die das grundsätzlich aus freiem Willen machen / begonnen haben, Frauen, die das aus irgendeinem Zwang oder innerer Zwangslage heraus machen, und Frauen, die jede einzelne Handlung in so einem Betrieb nur aus ihrem eigenen Wunsch heraus machen resp. selbstbewusst ablehnen.
Allerdings glaube ich auch, dass es letzteres eher nur theoretisch gibt.

Männer sollen in einem Bordell nicht das Sagen haben?
Nun zunächst kann sich das ja auf männliche Betreiber beziehen - ich vermute, das ist die Mehrheit (gibt es dazu eigentlich Zahlen?), und ich vermute, dass durchaus dirigistische Tendenzen herrschen, um es möglichst neutral auszudrücken.
Daneben kann es sich auf die Freier beziehen. In einem Betrieb, in dem die Frauen mit erstmal sanften Hinweisen auf erwünschte Verhaltensweisen aufmerksam gemacht werden, ist es ganz sicher so, dass die Freier in einer Machtposition über den Huren stehen.

Dass es zunehmend so ist, nämlich dass die Freier in wachsendem Maße mit Beschwerden erhört und die Huren entsprechend nur reagieren (nacharbeiten) können, bekam ich von einer entfernten Bekannten bestätigt, die das selber so erlebt hat.

Das kann natürlich ein Einzelfall sein??! Und ich bin eben was normale Bordellbetriebe angeht kein insider.

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Kasharius
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Beitrag von Kasharius »

@La Marfa

mir gefallen Deine durchaus kritischen Beiträge hier immer besser, da sie auch mich zur Selbstreflektion animieren. Das ist keine Abwertung der anderen postings. Wie ich schon sagte: ICH LIEBE SEXWORKER AT...

Die NDR-Doku hatte irgendwie den Charme eines Schülerpraktikums, obwohl ich den Ansatz journalistisch nicht uninteressant fand. Süß, wie Frau Luft im Bordell Staub saugt oder Betten bezieht oder eine Hure tiefenpsyhologisch nach dem Sinn ihrer Tatoos befragt. Aber die Kommentare aus dem Off entwerteten dann alles irgendwie.....


Kasharius grüßt

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La Marfa
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RE: Eine miese Doku und deren Verriss im "SPIEGEL"

Beitrag von La Marfa »

Das Problem bei eigentlich allen massenmedialen Publikationen zum Thema Prostitution ist, dass es eben auch nur ein Geschäft ist und sie die Massen bewegen wollen. Was will die Masse? Die Sensation und den Thrill am Sexwork, die Unterhaltung und ein bisschen Anregung für das Schlafzimmer, zumindest glauben das die Unterhalter.

Jede Dame, die ein wenig Kritizität ihrem Beruf gegenüber hat und deren Kritikfähigkeit gegenüber den Medien größer ist als ihre Sucht nach 5 Minuten Ruhm, die wird kaum jemals in den Medien auftauchen.

Ich wurde z.B. auch schon häufig von Medien und Produktionsfirmen angefragt. Aber selbst wenn diese zunächst noch glaubten, sie könnten in ihrem Produkt meine kritischen Sentenzen wegschneiden, sank ihr Interesse stets dann unter Null, wenn sie meine Bedingungen erfuhren. Um nämlich Herrscherin meiner Aussagen zu bleiben und nicht zum Content zu verkommen, lauten diese
- bindende Zusagen für
1. Mitsprache bei der Endfassung soweit sie mich betrifft,
2. Vernichtung von nicht-verwendetem überschüssigem Material
3. Zeitlich begrenzte Verwendung der verabschiedeten Endfassung (z.B. für 5 Jahre)
4. Kein Neuschnitt der verabschiedete Endfassung
5. Keine Verwendung des Materials in anderen Kontexten, Formaten, Sendeanstalten
6. Kein Verkauf des Materials

Auch wenn man jedem anderen Unternehmen diesen Respekt zollen würde, bei unsereins ist so viel Unbequemlichkeit und Unabhängigkeit dann doch nicht gewünscht, auch wenn zuvor noch so sehr darüber schwadroniert wurde, dass man ja gerade jemanden wie mich ... bla fasel

Dann muss man sich nicht mehr wundern, was bei solchen Produktionen herauskommt.

La Marfa

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Marc of Frankfurt
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Problemlagen beim SW Karriere-Management

Beitrag von Marc of Frankfurt »

Das Auge als Fenster der Seele:


Das interessante ist hier, dass der Begriff "Hurenaugen" von der Betreiberin und Ex-Sexarbeiterin Isabella Neubauer eingeführt wird. Sie hat irgendwann den Sprung in die nächst höhere logische Geschäftsebene geschafft www.sexworker.at/phpBB2/viewtopic.php?p=130972#130972 und sich damit von dem Zwang "jung und sexy" sein zu müssen befreien können, was ihre eigene Wirtschaftstätigkeit und Verdienstsitutation betrifft. Sie hat Karriere gemacht als Managerin, was in unserer Branche unter dem zusätzlichen Stigma der Zuhälterei steht.

Für die Mehrheit der Arbeiter kann es diese Karriere nicht geben. Es kann immer nur wenige Chefs oder Gewinner geben im Kapitalismus, selbst wenn alle rein Theoretisch die Chance hatten. D.h. die Mehrheit der Arbeiter ist irgendwann desillusioniert und steckt in der sog. Prostitutions-Falle, die schlicht eine Altersfalle ist. Aber sie wirkt so grausam, weil es gesellschaftlich organisierte Altersvorsorge für Sexworker nicht gibt (Künstlersozialkasse, Hurenaltenheim wie in Mexiko City www.sexworker.at/phpBB2/viewtopic.php?p=24972#24972 ), weil unser Beruf nach wie vor teilweise in einer Grauzone existiert. Dann stirbt vmtl. irgendwann die Hofnung, Zukunftszuversicht und die Seele und das ist erkennbar im erloschenen Augenfeuer. Der mediale Kampf gegen Prostitution als ein regelrechter Sündenbock-Diskurs leistet dazu seinen eigenen Beitrag.

Die meisten Sexworker werden dann Aussteigen, bis auf diejenigen, die das nicht finanzieren können und für die dann die anfangs lukrative und gute Arbeit sich in ihr Gegenteil verkehrt. Das ist ein schleichender Mechanismus, der viel zu wenig thematisiert wird, auch weil wir viel zu wenig Sozialforschung in unseren eigenen Reihen betreiben.

Es gibt doch kaum einen anderen Beruf, der auf folgender uns allen gut bekannten Sicherheitsregel beruht: "Arbeite nur wenn es dir gut geht und du dich stark fühlst. - Achte auf dein Bauchgefühl". Daran können wir klar festmachen, dass Sexarbeit kein "Beruf wie jeder andere" ist, sondern ganz speziell und extrem schutzbedürftig ist. Diese Regel nur bei gutem Bauchgefühl zu arbeiten funktioniert ab einer gewissen "Altersgrenze" nicht mehr wirtschaftlich. Dann wird aus dem Happy Hooker allein aufgrund der Biologie in Verbindung mit der Wettbewerbssituation quasi die "Zwangsprostituierte" verstrickt in den Verhältnissen, die bekanntlich selten pro Sexworker sind.

Nur als gut organisierter Solosexworker kann man das vermeiden oder herauszögern, wenn man sich fortbildet BDSM, Massage, Sexualassistenz, Altersvorsorge, Zusatzqualifikationen, Unterstützernetzwerk... Aber im Bordell ist die Konkurrenz des "freien Marktes" gnadenlos wie man auch hier im Forum in einem parallelen Thema nachlesen kann wo ansatzweise sowas wie "Zickenkrieg" aufkeimt. Die Politik hat den (Arbeits)markt für uns Sexworker nicht geschützt wie all die sonstigen Märkte und Arbeitsmärkte, für die seit EU-Erweiterung 2004 bis 2014 Protektionismus gilt d.h. eingeschränkte Arbeitnehmerfreizügigkeit. Und der Sexdienstleistungsmarkt ist immer auch gleichzeitig ein Arbeitsmarkt.

All sowas gehört m.E. in eine gute Prostitutionsregulierung, also ins Prostitutionsgesetz und seine geplanten oder nötigen Erweiterungen www.sexworker.at/phpBB2/viewtopic.php?p=132861#132861 . Aber je komplexer die Fragestellungen sind, desto stärker müßte unsere Lobby sein, um dergleichen auch durchgesetzt zu bekommmen.

Vermutlich hat die Chefin den Begriff Hurenaugen auch deshalb drauf, weil sie teilweise die Fronten gewechselt hat. Sie ist jetzt Mittlerin und somit auch auf der Seite der Kunden angelangt, um ihren Betrieb in der Gewinnzone zu halten. Sie weiss ohne selbst betroffen zu sein, dass Kunden promisk ständig neue Frauen suchen ("Frischfleisch"). Und sie weiss von sich und ihren Mitarbeiterinnen, dass die aktive Hochverdienstphase der meisten Sexworker nur wenige Jahre sind ("Shelf-Life"). Das sind Aspekte und Marktgesetze, die schwer mit der Menschenwürde vereinbar sind, und besonders sensible-intelligente Organisation von Sexarbeit und Bordellbetrieb erfordern. In einer sozialen Marktwirtschaft oder in frauengeführten Kleinbetrieben in geschützter Marktlücke (Berliner Etagenbordell) mag das möglich sein. Aber das "Soziale" wurde grobflächig mit Agenda 2010, Neoliberalismus und Globalisierung zumeist wegrationalisiert.


Heute zeigt uns der Blick in die modernen Fleischmärkte die Marktrealität für Wanderarbeiter_innen www.sexworker.at/phpBB2/viewtopic.php?p=132841#132841

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La Marfa
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Re: Problemlagen beim SW Karriere-Management

Beitrag von La Marfa »

          Bild
Marc of Frankfurt hat geschrieben:Das Auge als Fenster der Seele:


Aber sie wirkt so grausam, weil es gesellschaftlich organisierte Altersvorsorge für Sexworker nicht gibt (Künstlersozialkasse, Hurenaltenheim wie in Mexiko City www.sexworker.at/phpBB2/viewtopic.php?p=24972#24972 ), weil unser Beruf nach wie vor teilweise in einer Grauzone existiert. Dann stirbt vmtl. irgendwann die Hofnung, Zukunftszuversicht und die Seele und das ist erkennbar im erloschenen Augenfeuer. Der mediale Kampf gegen Prostitution als ein regelrechter Sündenbock-Diskurs leistet dazu seinen eigenen Beitrag.

Die meisten Sexworker werden dann Aussteigen, bis auf diejenigen, die das nicht finanzieren können und für die dann die anfangs lukrative und gute Arbeit sich in ihr Gegenteil verkehrt. Das ist ein schleichender Mechanismus, der viel zu wenig thematisiert wird, auch weil wir viel zu wenig Sozialforschung in unseren eigenen Reihen betreiben.

Es gibt doch kaum einen anderen Beruf, der auf folgender uns allen gut bekannten Sicherheitsregel beruht: "Arbeite nur wenn es dir gut geht und du dich stark fühlst. - Achte auf dein Bauchgefühl". Daran können wir klar festmachen, dass Sexarbeit kein "Beruf wie jeder andere" ist, sondern ganz speziell und extrem schutzbedürftig ist. Diese Regel nur bei gutem Bauchgefühl zu arbeiten funktioniert ab einer gewissen "Altersgrenze" nicht mehr wirtschaftlich. Dann wird aus dem Happy Hooker allein aufgrund der Biologie in Verbindung mit der Wettbewerbssituation quasi die "Zwangsprostituierte" verstrickt in den Verhältnissen, die bekanntlich selten pro Sexworker sind.

Nur als gut organisierter Solosexworker kann man das vermeiden oder herauszögern, wenn man sich fortbildet
Ich denke nicht, dass die meisten einen guten und aktiven Ausstieg nehmen, ebenso wie man das durch passende Maßnahmen auch nicht ganz vermeiden, sondern nur herauszögern kann, jedenfalls nicht, solange man selber Solosexworker bleibt.

Aber das ist unter den derzeitigen Umständen ganz sicher eines der stark änderungsbedürftigen Übel.

La Marfa

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Beitrag von ehemaliger_User »

Meine Beobachtungen der letzten Jahre in Bordellen in der Metropolregion Stuttgart:
  • Sexarbeiterinnen bestimmen, (auch den Leistungsumfang) was passiert, nicht die Freier. Das ist in Laufhäusern heute noch so.
  • Immer dann, wenn Club- oder Wohnungsbetreiber_innen, die selbst nicht (mehr) in der Sexarbeit tätig sind, das Sagen haben wird bei "Reklamationen" meist den Freiern recht gegeben.
  • Die reklamierenden Freier scheuen die direkte Auseinandersetzung mit der Sexdienstleisterin, sie beschweren sich bei den Betreiber_innen.
  • Betreiber_innen (ausser in Laufhäusern) spielen sich gegenüber ihren weiblichen Gästen als "Arbeitgeber" auf - kommunizieren gegenüber ihren männlichen Gästen nur auf Aushängen, sie hätten mit dem eigentlichen Geschäft der Sexarbeiterinnen nichts zu tun.
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La Marfa
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RE: Eine miese Doku und deren Verriss im "SPIEGEL"

Beitrag von La Marfa »

Interessantes Feedback, entrüstend und erschreckend.

Uns passiert es immer eher, dass Gäste versuchen, uns Damen zu spalten oder mit "ich kenne die Chefin" zu drohen. Wir haben aber allen Kolleginnen verdeutlicht, dass sie daraufhin die Gäste gerne auslachen dürfen. Soweit kommt es noch, dass in unserem Haus Gäste über Kolleginnen stünden!

Wir haben aber jüngst auch bei uns im Norden in einem Haus anderes von Ferne beobachten können.

Ich finde es furchtbar, wenn man sich als Betreiberin auf die Seite der Freier stellt, und nicht auf die Seite der Kollegin, die man immerhin im eigenen Haus "beherbergt" und die man gewisslich besser kennen sollte, als einen Gast.

La Marfa

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Beitrag von Lucy »

also wenn man als selbstständig arbeitende dame in einem bordell tätig ist, steckt sie IMMER den rahmen ab, in dem sich der gast bewegt und lehnt ab, was sie nicht möchte, u.a. auch den gast an sich. wenn das dem bordell nicht passt, geht die dame einfach, es gibt genügend adressen, wo sie selbstbestimmt arbeiten kann. jetzt kommt mit sicherheit der einwand, daß das nicht jede kann. klar, kann nicht jede. ich konnte es aber immer, es stand bei mir auch kein "freund" hinten dran und ich hatte keine geldnot.

weiterhin habe ich einen blick in den spiegel riskiert, um zu sehen, ob ich kalte hurenaugen habe. nein. ich guck wie früher auch.

das gäste öfters versuchen, kolleginnen gegeneinander auszuspielen, ist bekannt und man bleibt halt trotzdem bei der eigenen linie und schon stimmt die richtung.

wie ich diese vorurteile hasse.

lg lucy

ich schreibe in vergangenheitsform, weil ich ende des letzten jahres meine tätigkeit eingestellt habe.

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Beitrag von La Marfa »

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Lucy hat geschrieben:
wie ich diese vorurteile hasse.
Echt jetzt? Meinst du mich? Ich sagte ausdrücklich, dass ich keine direkt-eigenen Erfahrungen mit dem Bordellgeschäft habe, aber eine Bekannte meine Vermutungen (ungleich Vorurteile) mit ihren Erlebnissen untermauerte.

Fazit: Verschiedene Menschen, verschiedene Situationen, verschiedene Erlebnisse.

Ich freu mich sehr für dich und jede Kollegin, die Druck, egal wie sanft, nie erleben musste.

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Beitrag von ehemaliger_User »

La Marfa: es geht noch weiter: In den meisten FKK-Clubs können männliche Gäste 10er-Karten kaufen, mit ca. 20 % Nachlass. Weibliche Gäste nicht, auch wenn sie noch zusätzlich Übernachtungskosten von 20 - 30 EUR / Tag bezahlen müssen.

Ich kenne Frauen, die im Jahr über 25.000 EUR an Eintritt und Übernachtungskosten in einem einzigen Club bezahlen.

Lucy, leider kennen viele Frauen ihre Rechte nicht. Und scheuen sich, einen Ort, an dem für sie der Verdienst stimmt, zu verlassen. Und das nutzen manche Betreiber_innen einfach aus.

Beispiel aus einer mündlichen Hausordnung, nur für Sexarbeiterinnen:
  • High-Heel-Pflicht
  • Primäre und sekundäre Geschlechtsteile müssen sichtbar sein
  • Kaugummiverbot
  • Im Raucherraum max. 4 Frauen
  • Frauen dürfen nicht zu zweit oder mehreren zusammensitzen
  • Blick aufs Telefon in der Handtasche verboten
  • Spielverbot an Spielautomaten
  • Anwesenheitspflicht mindestens 11 Std, wer 15 min nach Öffnung nicht "einsatzbereit" ist muss bis Ender der Öffnungszeit anwesend sein, das können 12 - 15 Std sein!
  • Alkoholverbot, ausser männlicher Gast zahlt Schampus (ab 150 EUR / Flasche)
Das sind aber alles Regeln, die mit Sexarbeit nichts zu tun haben sondern einfach nur mit Ausnutzung der schwächeren Marktposition.
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Beitrag von Lycisca »

Anwesenheitspflichten etc. sind unangemessen, da stimme ich dir voll zu. Aber das Spielverbot und Alkoholverbot wären mit Sorgfaltspflichten (Schutz vor Ausbeutung) zu argumentieren

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RE: Eine miese Doku und deren Verriss im "SPIEGEL"

Beitrag von Emma-Gutversteckt »

Ich will nicht bestreiten, dass diese Regeln teilweise recht extrem sind, aber ganz ohne wird es nicht funktionieren.

Wie soll man einen Betrieb führen (egal, ob groß oder klein), wenn es keine derartigen Regeln gibt?

Wenn jede Frau kommen kann wie sie will, hat man (in großen Läden) morgens vielleicht 5 Frauen, zu den Stoßzeiten plötzlich 50 und spät in der Nacht auch nur noch 10. Wenn ein Gast in einem kleinen Laden anruft und nach "Petra" fragt, dann kann man als Betreiber doch nicht sagen: "Tja, sie sagt dass sie dann und dann da ist, versuch dein Glück." Dann kommt der Gast und "Petra" ist gar nicht da, weil sie lieber irgendwas anderes machen wollte, schon früher gegangen ist oder was auch immer. Das kann einmal, vielleicht auch zweimal passieren, aber dann kommt dieser Kunde nicht wieder.

Kleidungsvorschriften sind wichtig. Die wenigsten Männer gehen in den Puff, weil sie da komplett bekleidete Frauen sehen wollen, die nicht vernünftig aufgestylt sind.

Alkohol in Maßen ist okay, aber was ist, wenn einzelne Frauen ihr Maß nicht kennen?

Wenn Handys erlaubt sind, dann wird erfahrungsgemäß auch mal heimlich 'ne Sms geschrieben, die Regeln weichen auf und irgendwann klingelt es sogar während des Aktes bei ihr in der Handtasche.

Durch das Internet kann ein Laden ganz extrem schnell einen schlechten Ruf bekommen und das kann sich in der heutigen Zeit niemand mehr erlauben, weil die Konkurrenz enorm groß ist. Das ist nicht schön, aber ist eben auch eine der Folgen, die die Legalisierung mit sich brachte.

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Beitrag von ehemaliger_User »

Die Clubbetreiber_innen stellen ihren Betrieb nach aussen, speziell gegenüber den Ordnungsbehörden, so dar, als ob sie sich komplett aus dem Geschäft der Frauen heraushalten würden.

Bestimmte Regeln müssen sein, keine Frage. Eine selbständige Messehostess kann auch nicht auftreten wie und wann sie will.

Ich darf in unserem Maschinenbaubetrieb z.B. Mitarbeiter max. 10 Std am Tag beschäftigen und muss sicherstellen, dass nach mehr als 6 Stunden Anwesenheit 30 min Mindestpause einzuhalten sind. Und zwar nicht am Arbeitsplatz, sondern in speziellen Räumen.

Solche Mindeststandards sollten meiner Meinung nach auch in Bordellen gelten. In ordentlichen Laufhäusern ist das alles kein Thema. Da gibt es "männerfreie Zonen" - und die Frauen können kommen und gehen wann sie wollen.

In Fellbach gab es das FKK-haus. Die Betreiberin hat ihren freien Mitarbeiterinnen viele Freiheiten zugestanden - und es hat auch funktioniert.

In Stuttgart gibt es einen FKK-Club. Dort können die Frauen kommen und gehen wann sie wollen, das Haus stundenlang verlassen, ganz nackt oder weniger nackt rumlaufen, sich in einen separaten Raum zurückziehen - und der Laden ist immer voll (obwohl es sich nicht um eine Wellness-Oase handelt und die Einrichtung ziemlich heruntergekommen ist).
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RE: Eine miese Doku und deren Verriss im "SPIEGEL"

Beitrag von Kasharius »

An Hand dieser Diskussion läßt sich gut ersehen, wie vielschichtig der Begriff "Selbstbestimmung" in Bezug auf Sexarbeit ist. Diese Differenziertheit möchte ich in Form von Fragen zuverdeutlichen suchen:

Wie und Warum habe ich mich dafür entschieden, Sexarbeit auszuüben?

Bin ich im Rahmen dessen frei darin, Art und Weise meiner Sexarbeitertätigkeit allein zu bestimmen, ohne daß ich Sanktionen Dritter befürchten muß; gilt dies insbesondere auch für die Gestaltung der Preise, die ich für meine Tätigkeit fordere?

Kann ich, ohne Sanktionen Dritter zu befürchten, jederzeit die SExarbeit unterbrechen oder beenden?


Diese Fragen stellen sich hier jenseits Straf- oder sonstiger Rehtsnormen; so sollen sie verstanden werden.

Noch etwas: Auch in der NDR-Doku wurde wieder fälschliherweise behauptet, SW würden ihren Körper verkaufen.

Gegenstand eines Kaufvertrages ist die Übergabe und Übereignung des Kaufgegenstandes s. einerseits und die Bezahlung des Kaufpreises andererseits vgl. § 433 BGB.
Dieses Wesensmerkmal auf SW zu übertragen ist rechtlich und tatsächlich falsch, den der Körper der/des SW bleibt hier immer Egentum des/der Betreffenden.

Es handelt sich vielmehr um einen Dienstvertag nach § 611 BGB in Verbindung mit ProstG. Geschuldet, wenn Vertragsschluss erfolgt ist,sind die jeweils vereinbarten sexuellen Handlungen. Gerade nicht geschuldet ist ein Erfolg (!), anders beipielsweise beim Werkvertrag gemäß § 631 BGB. Die sexuellen Handlungen müssen zwar lege artis, nach den Regeln der Kunst erbracht werden, nicht eingetretender Erfolg berechtigt den Kunden aber gerade nicht zur Rückforderung des Entgeltes. Was lege Artis ist ergibt sich aus der allgemeinen Verkehrsanschauung und der konkret vereinbarten Handlung z.B. Handentspannung, franz. mit Verkehr etc.

So ist das wohl...


Kasharius grüßt :006

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La Marfa
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RE: Eine miese Doku und deren Verriss im "SPIEGEL"

Beitrag von La Marfa »

Ich glaube nicht, dass in der Wertung der Öffentlichkeit ein Dienst(vertrags)verhältnis besser aussieht als ein Kauf(vertrags)verhältnis, weil das sprachlich sogar Richtung Dienstbarkeit besetzt werden könnte / würde.

La Marfa