Dynamik der Tradition
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Dynamik der Tradition
Dynamik der Tradition
Studien zur historischen Kulturforschung
Herausgeber: Richard van Dülmen. Fischer, 1992, 312 Seiten
Das Buch ist eine Sammlung von Beiträgen verschiedener WissenschaftlerInnen.
Ich werde die Buchbesprechung Kapitel für Kapitel machen, da jeder Teil ein
eigenes spezielles Thema hat.
Das erste Kapitel ist von Susanna Burghartz.
Thema: Jungfräulichkeit oder Reinheit?
Der Begriff "Jungfräulichkeit" hatte bis zum 15.Jh. einen völlig anderen Inhalt als
er heute besitzt. Bis dahin konnte ein Mädchen mit einem jungen Mann Sex haben
und trotzdem "Jungfrau" bleiben, wenn der Mann ihr die Ehe versprochen hatte.
Für die Kirche war das eine "unerträgliche Situation", da sie über die Kontrolle
des Sexualtriebes sich mehr Macht über die Bevölkerung versprach.
So wurden die weltlichen Herrscher permanent unter Druck gesetzt, eine Ehe erst
dann als legal anzuerkennen, wenn das Paar die Kirche besucht hatte.
Das nützte wenig, bis Calvin nach der Pest behauptete, die Seuche sei eine
Strafe Gottes wegen dem unzüchtigen Leben der Leute.
Daraufhin gaben nach und nach mehr Herrscher dem Druck nach, und führten
den Kirchgang als Pflicht des Eherituals ein. Aber der Brauch des vorehelichen
Sexes, wenn der Mann der Frau die Ehe versprach, lies nicht nach, wie die
vielen Gerichtsurteil beweisen, die wegen Bruch des Eheversprechens durch den Mann, fast immer
von Frauen in die Wege geleitet wurden. Ein Mädchen war also immer noch "Jungfrau",
wenn sie beliebig lange und beliebig oft Sex hatte, mit der Einschränkung, dass
die Heirat irgendwann stattfand.
Meist hauten die Männer nach dem Sex einfach ab, weil es ihnen nur darum ging.
Damit die Frau ihren Titel "Jungfrau" behalten konnte, musste sie also ein Verfahren
gegen den Mann einleiten, denn bis dahin begann die "Ehe" mit dem Vollzug
des Geschlechtsaktes, nicht mit behördlichen Dokumenten oder dem Kirchgang!
Calvin wollte dem ein Ende bereiten. Er verfügte, dass eine Frau IMMER schuld
ist, wenn sie Sex mit einem Mann hatte, und er abhaute. Sie habe sich dann
so verhalten, dass der Mann mit ihr nicht zusammen sein wollte, sie also eine "Hure" sei.
Der Beweis, dass sie das nicht ist, wurde der Frau aufgebürdet.
Die Männer hingegen wurden nie belangt.
Aus den Akten der Zeit geht auch hervor, dass Sexarbeiterinnen bei ihrer Arbeit
immer oben auf dem Mann waren, während in der Ehe der Mann darauf bestand,
dass sie ihm nun untergeordnet sei, und sie also auch beim Sex unten liegen müsse!
Die häufigsten Kunden der Sexarbeiterinnen waren katholische Priester.
Noch im späten Mittelalter lebten viele Paare unverheiratet zusammen.
Die Religionsvertreter des 15. und 16. Jh. begründeten den Zwang zur Ehe damit,
dass ein verheirateter Mann nicht mehr zu Prostituierten gehen werde.
Frauen welche aus Eigeninitiative vom Mann Sex forderten, wurden meist enterbt,
denn sie wurden von den Familien als "unehrenhaft" betitelt.
Der Bourgeoisie passte in gewisser Weise der Ehezwang ins Geschäft,
da sie die Ehe als Instrument zur Konzentration finanzieller Mittel und
zur Macht ansahen.
Fortsetzung folgt, wenn ich das nächste Kapitel gelesen habe!
Nicole
Studien zur historischen Kulturforschung
Herausgeber: Richard van Dülmen. Fischer, 1992, 312 Seiten
Das Buch ist eine Sammlung von Beiträgen verschiedener WissenschaftlerInnen.
Ich werde die Buchbesprechung Kapitel für Kapitel machen, da jeder Teil ein
eigenes spezielles Thema hat.
Das erste Kapitel ist von Susanna Burghartz.
Thema: Jungfräulichkeit oder Reinheit?
Der Begriff "Jungfräulichkeit" hatte bis zum 15.Jh. einen völlig anderen Inhalt als
er heute besitzt. Bis dahin konnte ein Mädchen mit einem jungen Mann Sex haben
und trotzdem "Jungfrau" bleiben, wenn der Mann ihr die Ehe versprochen hatte.
Für die Kirche war das eine "unerträgliche Situation", da sie über die Kontrolle
des Sexualtriebes sich mehr Macht über die Bevölkerung versprach.
So wurden die weltlichen Herrscher permanent unter Druck gesetzt, eine Ehe erst
dann als legal anzuerkennen, wenn das Paar die Kirche besucht hatte.
Das nützte wenig, bis Calvin nach der Pest behauptete, die Seuche sei eine
Strafe Gottes wegen dem unzüchtigen Leben der Leute.
Daraufhin gaben nach und nach mehr Herrscher dem Druck nach, und führten
den Kirchgang als Pflicht des Eherituals ein. Aber der Brauch des vorehelichen
Sexes, wenn der Mann der Frau die Ehe versprach, lies nicht nach, wie die
vielen Gerichtsurteil beweisen, die wegen Bruch des Eheversprechens durch den Mann, fast immer
von Frauen in die Wege geleitet wurden. Ein Mädchen war also immer noch "Jungfrau",
wenn sie beliebig lange und beliebig oft Sex hatte, mit der Einschränkung, dass
die Heirat irgendwann stattfand.
Meist hauten die Männer nach dem Sex einfach ab, weil es ihnen nur darum ging.
Damit die Frau ihren Titel "Jungfrau" behalten konnte, musste sie also ein Verfahren
gegen den Mann einleiten, denn bis dahin begann die "Ehe" mit dem Vollzug
des Geschlechtsaktes, nicht mit behördlichen Dokumenten oder dem Kirchgang!
Calvin wollte dem ein Ende bereiten. Er verfügte, dass eine Frau IMMER schuld
ist, wenn sie Sex mit einem Mann hatte, und er abhaute. Sie habe sich dann
so verhalten, dass der Mann mit ihr nicht zusammen sein wollte, sie also eine "Hure" sei.
Der Beweis, dass sie das nicht ist, wurde der Frau aufgebürdet.
Die Männer hingegen wurden nie belangt.
Aus den Akten der Zeit geht auch hervor, dass Sexarbeiterinnen bei ihrer Arbeit
immer oben auf dem Mann waren, während in der Ehe der Mann darauf bestand,
dass sie ihm nun untergeordnet sei, und sie also auch beim Sex unten liegen müsse!
Die häufigsten Kunden der Sexarbeiterinnen waren katholische Priester.
Noch im späten Mittelalter lebten viele Paare unverheiratet zusammen.
Die Religionsvertreter des 15. und 16. Jh. begründeten den Zwang zur Ehe damit,
dass ein verheirateter Mann nicht mehr zu Prostituierten gehen werde.
Frauen welche aus Eigeninitiative vom Mann Sex forderten, wurden meist enterbt,
denn sie wurden von den Familien als "unehrenhaft" betitelt.
Der Bourgeoisie passte in gewisser Weise der Ehezwang ins Geschäft,
da sie die Ehe als Instrument zur Konzentration finanzieller Mittel und
zur Macht ansahen.
Fortsetzung folgt, wenn ich das nächste Kapitel gelesen habe!
Nicole
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RE: Dynamik der Tradition
Danke Nicole, dein Bericht über dieses erste Kapitel war sehr interessant und ich freue mich schon auf die nächsten.
Interessant finde ich wie schnell etwas zur "Tradition" erklärt werden kann wenn es in's Herrschaftskonzept passt ... Calvin ist ja nun wirklich nicht lange her, und schon tut man so als seien die auf seinem neurotischen Begehren gewachsenen Regelungen "schon immer" so gewesen.
Liebe Grüße, Aoife
Interessant finde ich wie schnell etwas zur "Tradition" erklärt werden kann wenn es in's Herrschaftskonzept passt ... Calvin ist ja nun wirklich nicht lange her, und schon tut man so als seien die auf seinem neurotischen Begehren gewachsenen Regelungen "schon immer" so gewesen.
Liebe Grüße, Aoife
It's not those who inflict the most, but those who endure the most, who will conquer. MP.Vol.Bobby Sands
'I know kung fu, karate, and 37 other dangerous words'
Misspellings are *very special effects* of me keyboard
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Das zweite Kapitel stammt von Pia Hornstein und Norbert Schindler.
Thema: Geschwätzgeschichte(n).
Untertitel:
ein kulturhistorisches Plädoyer für die Rehabilitierung der unkontrollierten Rede.
Mit viel Scharfsinn, schlüssiger Logik und profunden historischen Kenntnissen untersuchen
die beiden AutorInnen den Begriff "Geschwätz". Bevor ich diese Schrift gelesen hatte
war mir nicht klar, wie machtpolitisch dieses Wort geladen ist!
"Geschwätz" ist eine Wortschöpfung des Machtblockes in der westlichen Kultur.
Der Kontrastbegriff dazu ist "Schweigen".
Hornstein und Schindler zeigen, wie etwa zu Beginn der Neuzeit ab dem 15.Jh. der
Machtblock alles daran setzte, um die immer noch existierende Gemeinschaftsordnung,
welche vor allem in ländlichen Regionen stark war, zu zerstören, und aus einer
Gemeinschaft eine Gesellschaft zu formen.
Das spezifische an einer Gemeinschaft ist der wechselseitige Austausch an Informationen.
Das Fremdwort dazu ist "Kommunikation".
In einer kapitalistischen Gesellschaft hat der Machtblock aber gerade daran kein
Interesse, weil dies die Basis der Macht zerstören würde.
Hier wird die symmetrische Kommunikation durch die asymmetrische Information ersetzt.
Der Machthaber spricht, das Volk hört zu, gehorcht und schweigt !
Information ist einseitig.
Für Gesellschaften, in denen der Machtblock durch starke Tabus auf Affektkontrolle besteht,
ist "Geschwätz" eine Gefahrenquelle! Es findet unkontrolliert statt. Es ist ein Angriff auf
die sich anmaßende Autorität. Dabei kann der Machtblock mit keiner Definition
aufwarten, was denn eigentlich der Begriff beinhaltet!
Da in unserer Gesellschaft die Männer die Macht haben, bezeichneten sie die
unkontrollierte Rede der Frauen als "Geschwätz". Die AutorInnen zitieren dazu viele,
von Männern erfundene frauenfeindliche Redensarten zwischen dem 15. und 18. Jh.
Dabei kommt es zu unvermeidlichen Widersprüchen. Zum einen soll angebliche die
unkontrollierte Rede der Frauen wertlos sein, Geschwätz, zum anderen erfanden
die Männer ein Sprichwort das besagt: "willst du eine Frau nehmen, so zieh die Ohren
mehr als das Auge zu Rath". Hier nehmen Männer genau das wichtig, das "Geschwätz",
das sie zuvor als unwichtig und wertlos bezeichneten!
Wie gefährlich Männer die nicht kontrollierbare Reden von Frauen ansahen,
und die sie auch mit Gewalt verhindern wollten, läst sich aus einem Ausspruch Luthers erkennen:
"die Weiber führen das Schwert im Maul, darum muß man sie auf die Scheide schlagen".
Hier wird auch von der protestantischen Kirche die Männergewalt gegen Frauen gefördert!
Bis zum 15.Jh. hatten Frauen überall in der Öffentlichkeit freien Zugang.
Danach versuchten die Männer sie mehr und mehr ins Haus zu zwingen, und erfanden
alle möglichen Vorwände dazu. Der wichtigste war die "Keuschheit" .
Ab dem 16. Jh. erklärte der Machtblock der Männer die Ehe als einzig gültige
Lebensführung von Frau und Mann. Deswegen wurden Lebensgemeinschaften und
Sexarbeit heftig bekämpft. Männer erklärten, Frauenexistenz sei auf "Gattin" beschränkt.
Gleichzeitig war "Ehe" eine Institution zur Vermehrung des Reichtums:
Frauen konnten nicht mehr den Mann wählen, sonst wäre sie als "Hure" bezeichnet worden.
Auch eine Frau, die beim Sex oben sein wollte, war eine "Hure" , denn sie widersetzte
sich den Vorschriften des männlichen Christengottes, bei dem die Frau der Unterthan des
Mannes sein soll, er ist oben, sie ist unten.
Die Frau war ein Handelsgegenstand der den Besitzer wechselte, von vorigen, den Vater,
auf den nachfolgenden Besitzer, der Ehemann.
Dies erzeugte ein große Gefahr: die Frau war nun geneigt ausserhalb der Zwangsehe
sich Liebe und Zuneigung zu suchen. Um das zu verhindern, sperrten die Männer
Ihre Frauen ins Haus.
Problem dabei: die Aufgabe der Frau war ja die Küche, und um kochen zu können
musste sie auf den Markt, und dort konnte sie ausserhalb der Männerkontrolle reden!
Und sogar junge Männer kennen lernen! Oh wei!
Das gleiche Problem stellten die Spinnstuben dar, in denen sich nur Frauen trafen.
Während Männer die unkontrollierte Kommunikation bei Frauen als "Geschwätz"
bezeichnete, war das selbe unter Männern, z.B. beim Bierstammtisch keines.
Den Kirchenvertretern, als Teil des Machtblockes, erzeugte die Frauenkommunikation
großes Unbehagen, denn Frauen diskutierten natürlich auch, wie es denn möglich sei
ohne Sex mit einem Mann schwanger zu werden, ob der Joseph der Maria nicht doch
ein wenig nachgeholfen habe! Auf einem Pfingstmarkt 1527 haben Männer dieses
delikate Thema mit Fäusten "diskutiert" !
Zwingli wurde nachgesagt, dass er Sex mit einer "Kuh, manchmal auch einem Esel
oder einer Stute" gehabt habe. Bei den "Gerüchten" wurden fast immer die Bereiche
Sex und Religion verbunden. Einem Pfarrer wurde nachgesagt, er habe sein
"Evangelium hinter dem Hosenlatz", ein anderer soll auf das Evangelienbuch geschissen haben.
1533 erzählte eine Sexarbeiterin aus Augsburg herum, dass der jetzige Vorstand
des Klosters ihr die Ehe versprochen habe, und nach dem Sex abgehauen sei.
Hier sei noch einmal auf das Kapitel zuvor verwiesen, dass bis dahin eine "Ehe"
damit begann, dass eine Frau mit einem Mann Sex hatte, und bis zur offiziellen
Hochzeit war sie immer noch "Jungfrau" !
So hatten die Ehestandsgerichte viel zu tun, vor allem, da das Denunziantentum
vom Machtblock gefördert wurde. Die Kirche entwickelte sich von der Volkskirche
zur abstrakten Priesterliturgie. Bis zum 15.Jh glich ein Gottesdienst eher einem
Jahrmarktsgeschehen. Die Besucher kamen hauptsächlich um Freunde und
Verwandte zu treffen, Geschäfte abzuschließen, wobei auch Hunde und Katzen
daran teilnahmen. 1415 verbot der Stadtrat von Augsburg während der Messe
Esswaren zu verkaufen. 1537 klagte der Rat von Konstanz, dass man bei dem
Gebell der Hunde die Messe nicht verstünde.
Das profane war noch eng mit dem sakralen verzahnt. Heribert von Salurn
(1637-1700) wollte nicht glauben, dass Maria Magdalena eine Prostituierte gewesen war.
Er meinte, dass sie wohl wie die Frauen jetzt gewesen war, dass sie bis 9 Uhr
morgens im Bett war, und dann erst in die Kirche ging, um mit anderen Frauen
zu schwatzenl
In diesem Fall zeigt sich auch der IQ dieser Männer: Magdalena ging in die katholische
Kirche bevor es die Kirche gegeben hatte!
Im 18. Jh. wurde derselbe Vorgang, den Männern bei Frauen als "Geschwätz"
bezeichneten, mit der Bezeichnung "Werbemaßnahmen" gut geheißen, da die
vielen nutzlosen Waren, deren Verkauf zur Bereicherung der Konten des Machtblockes
dienten, durch umherziehende Händler an die Bevölkerung verkauft, das heißt,
aufgeschwätzt werden mussten.
Bis dahin war "Arbeit" eine Tätigkeit um die Dinge zu erzeugen, die zum Lebensgenuss
nützlich waren. Jetzt kehrte sich das ins Gegenteil um. Nun wurde Arbeit zum Selbstzweck.
Sie diente hauptsächlich dazu, dass die Reichen noch reicher werden.
Fortsetzung folgt.
Nicole
Thema: Geschwätzgeschichte(n).
Untertitel:
ein kulturhistorisches Plädoyer für die Rehabilitierung der unkontrollierten Rede.
Mit viel Scharfsinn, schlüssiger Logik und profunden historischen Kenntnissen untersuchen
die beiden AutorInnen den Begriff "Geschwätz". Bevor ich diese Schrift gelesen hatte
war mir nicht klar, wie machtpolitisch dieses Wort geladen ist!
"Geschwätz" ist eine Wortschöpfung des Machtblockes in der westlichen Kultur.
Der Kontrastbegriff dazu ist "Schweigen".
Hornstein und Schindler zeigen, wie etwa zu Beginn der Neuzeit ab dem 15.Jh. der
Machtblock alles daran setzte, um die immer noch existierende Gemeinschaftsordnung,
welche vor allem in ländlichen Regionen stark war, zu zerstören, und aus einer
Gemeinschaft eine Gesellschaft zu formen.
Das spezifische an einer Gemeinschaft ist der wechselseitige Austausch an Informationen.
Das Fremdwort dazu ist "Kommunikation".
In einer kapitalistischen Gesellschaft hat der Machtblock aber gerade daran kein
Interesse, weil dies die Basis der Macht zerstören würde.
Hier wird die symmetrische Kommunikation durch die asymmetrische Information ersetzt.
Der Machthaber spricht, das Volk hört zu, gehorcht und schweigt !
Information ist einseitig.
Für Gesellschaften, in denen der Machtblock durch starke Tabus auf Affektkontrolle besteht,
ist "Geschwätz" eine Gefahrenquelle! Es findet unkontrolliert statt. Es ist ein Angriff auf
die sich anmaßende Autorität. Dabei kann der Machtblock mit keiner Definition
aufwarten, was denn eigentlich der Begriff beinhaltet!
Da in unserer Gesellschaft die Männer die Macht haben, bezeichneten sie die
unkontrollierte Rede der Frauen als "Geschwätz". Die AutorInnen zitieren dazu viele,
von Männern erfundene frauenfeindliche Redensarten zwischen dem 15. und 18. Jh.
Dabei kommt es zu unvermeidlichen Widersprüchen. Zum einen soll angebliche die
unkontrollierte Rede der Frauen wertlos sein, Geschwätz, zum anderen erfanden
die Männer ein Sprichwort das besagt: "willst du eine Frau nehmen, so zieh die Ohren
mehr als das Auge zu Rath". Hier nehmen Männer genau das wichtig, das "Geschwätz",
das sie zuvor als unwichtig und wertlos bezeichneten!
Wie gefährlich Männer die nicht kontrollierbare Reden von Frauen ansahen,
und die sie auch mit Gewalt verhindern wollten, läst sich aus einem Ausspruch Luthers erkennen:
"die Weiber führen das Schwert im Maul, darum muß man sie auf die Scheide schlagen".
Hier wird auch von der protestantischen Kirche die Männergewalt gegen Frauen gefördert!
Bis zum 15.Jh. hatten Frauen überall in der Öffentlichkeit freien Zugang.
Danach versuchten die Männer sie mehr und mehr ins Haus zu zwingen, und erfanden
alle möglichen Vorwände dazu. Der wichtigste war die "Keuschheit" .
Ab dem 16. Jh. erklärte der Machtblock der Männer die Ehe als einzig gültige
Lebensführung von Frau und Mann. Deswegen wurden Lebensgemeinschaften und
Sexarbeit heftig bekämpft. Männer erklärten, Frauenexistenz sei auf "Gattin" beschränkt.
Gleichzeitig war "Ehe" eine Institution zur Vermehrung des Reichtums:
Frauen konnten nicht mehr den Mann wählen, sonst wäre sie als "Hure" bezeichnet worden.
Auch eine Frau, die beim Sex oben sein wollte, war eine "Hure" , denn sie widersetzte
sich den Vorschriften des männlichen Christengottes, bei dem die Frau der Unterthan des
Mannes sein soll, er ist oben, sie ist unten.
Die Frau war ein Handelsgegenstand der den Besitzer wechselte, von vorigen, den Vater,
auf den nachfolgenden Besitzer, der Ehemann.
Dies erzeugte ein große Gefahr: die Frau war nun geneigt ausserhalb der Zwangsehe
sich Liebe und Zuneigung zu suchen. Um das zu verhindern, sperrten die Männer
Ihre Frauen ins Haus.
Problem dabei: die Aufgabe der Frau war ja die Küche, und um kochen zu können
musste sie auf den Markt, und dort konnte sie ausserhalb der Männerkontrolle reden!
Und sogar junge Männer kennen lernen! Oh wei!
Das gleiche Problem stellten die Spinnstuben dar, in denen sich nur Frauen trafen.
Während Männer die unkontrollierte Kommunikation bei Frauen als "Geschwätz"
bezeichnete, war das selbe unter Männern, z.B. beim Bierstammtisch keines.
Den Kirchenvertretern, als Teil des Machtblockes, erzeugte die Frauenkommunikation
großes Unbehagen, denn Frauen diskutierten natürlich auch, wie es denn möglich sei
ohne Sex mit einem Mann schwanger zu werden, ob der Joseph der Maria nicht doch
ein wenig nachgeholfen habe! Auf einem Pfingstmarkt 1527 haben Männer dieses
delikate Thema mit Fäusten "diskutiert" !
Zwingli wurde nachgesagt, dass er Sex mit einer "Kuh, manchmal auch einem Esel
oder einer Stute" gehabt habe. Bei den "Gerüchten" wurden fast immer die Bereiche
Sex und Religion verbunden. Einem Pfarrer wurde nachgesagt, er habe sein
"Evangelium hinter dem Hosenlatz", ein anderer soll auf das Evangelienbuch geschissen haben.
1533 erzählte eine Sexarbeiterin aus Augsburg herum, dass der jetzige Vorstand
des Klosters ihr die Ehe versprochen habe, und nach dem Sex abgehauen sei.
Hier sei noch einmal auf das Kapitel zuvor verwiesen, dass bis dahin eine "Ehe"
damit begann, dass eine Frau mit einem Mann Sex hatte, und bis zur offiziellen
Hochzeit war sie immer noch "Jungfrau" !
So hatten die Ehestandsgerichte viel zu tun, vor allem, da das Denunziantentum
vom Machtblock gefördert wurde. Die Kirche entwickelte sich von der Volkskirche
zur abstrakten Priesterliturgie. Bis zum 15.Jh glich ein Gottesdienst eher einem
Jahrmarktsgeschehen. Die Besucher kamen hauptsächlich um Freunde und
Verwandte zu treffen, Geschäfte abzuschließen, wobei auch Hunde und Katzen
daran teilnahmen. 1415 verbot der Stadtrat von Augsburg während der Messe
Esswaren zu verkaufen. 1537 klagte der Rat von Konstanz, dass man bei dem
Gebell der Hunde die Messe nicht verstünde.
Das profane war noch eng mit dem sakralen verzahnt. Heribert von Salurn
(1637-1700) wollte nicht glauben, dass Maria Magdalena eine Prostituierte gewesen war.
Er meinte, dass sie wohl wie die Frauen jetzt gewesen war, dass sie bis 9 Uhr
morgens im Bett war, und dann erst in die Kirche ging, um mit anderen Frauen
zu schwatzenl
In diesem Fall zeigt sich auch der IQ dieser Männer: Magdalena ging in die katholische
Kirche bevor es die Kirche gegeben hatte!
Im 18. Jh. wurde derselbe Vorgang, den Männern bei Frauen als "Geschwätz"
bezeichneten, mit der Bezeichnung "Werbemaßnahmen" gut geheißen, da die
vielen nutzlosen Waren, deren Verkauf zur Bereicherung der Konten des Machtblockes
dienten, durch umherziehende Händler an die Bevölkerung verkauft, das heißt,
aufgeschwätzt werden mussten.
Bis dahin war "Arbeit" eine Tätigkeit um die Dinge zu erzeugen, die zum Lebensgenuss
nützlich waren. Jetzt kehrte sich das ins Gegenteil um. Nun wurde Arbeit zum Selbstzweck.
Sie diente hauptsächlich dazu, dass die Reichen noch reicher werden.
Fortsetzung folgt.
Nicole
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3. Kapitel:
Frauen und Männer im Kampf um Leib, Ökonomie und Recht.
Untertitel: Zur Beziehung der Geschlechter im Frankfurt der Frühen Neuzeit.
Von Rebekka Habermas.
Hierarchische Machtstrukturen des Patriarchats benötigen als Kern die Erziehung
des Volkes zur Verantwortungslosigkeit. Eine Person die selbst denkt und
verantwortlich ihrem Gewissen entsprechend handelt, ist für kapitalistisch-
patriarchalische Gesellschaften eine große Gefahr. Gleichzeitig erzeugt diese
typisch männliche Erziehung zur Verantwortungslosigkeit ein soziales Gift, welches,
entsprechend geschickt angewendet, sich gegen die Herrschaft selbst wendet.
Frau Rebekka Habermas zeigt in ihrer Untersuchung diese Zusammenhänge am
Beispiel der Situation von Frauen im Frankfurt der frühen Neuzeit (16.Jh - 18.Jh.).
Frankfurt war schon damals ein Zentrum für Handel und Messen. Während der
Jahrhunderte zuvor trafen sich Gaukler, Sexarbeiterinnen und Fliegende Händler
bei Konzilen und Treffen der katholischen Kirche. Nun wurde diese Rolle nach dem
16. Jh. von den Messestädten eingenommen, wie z.B. Frankfurt.
Durch das von Männern erfundene und durchgesetzte Verbot des freien Zusammenlebens
von Frau und Mann, der Ächtung der Sexarbeit, der Verbannung der Frauen ins Haus,
entweder in das des Vorbesitzers (des Vaters) oder des Nachbesitzers /des Ehemanns),
wurde die bis zum späten Mittelalter gebräuchliche Gemeinschaftsregel, dass eine
Ehe mit dem ersten Sex beginnt, als illegal erklärt. Frauen waren also mehr als
zuvor in einer Art Sklavensituation, Besitzobjekte der Männer, und ihrer Willkür ausgeliefert.
Die männliche Erziehung zur Verantwortungslosigkeit hatte für Frauen schwerwiegende
Folgen. Wenn sie nun eine Frau schwängerten, und mit ihr keine Ehe eingingen, hauten
sie einfach in die nächste Stadt ab, und ließen die Frau mit ihrem Kind alleine.
Gerade in der untersten Gruppe des neuzeitlichen Kastensystems europäischer Version,
war die Mobilität der Frau extrem eingeschränkt. Mit einem unehelichen Kind hatte sie
praktisch nur die Möglichkeit betteln zu gehen.
Die andere Möglichkeit war, den Mann vor Gericht anzuklagen. Die Richter waren
damals alles sehr reiche Männer aus der Kaste der Patrizier. Sie konnten die Belange
der Frauen auf Dienstmagdniveau nicht verstehen. Den Frauen ging es wesentlich
um das Recht auf leibliche Unversehrtheit, wenn der Mann sie prügelte, oder auf
finanzielle Sicherheit, wenn er sie mit einem Kind alleine lies.
Den Patrizierrichtern ging es um ein abstraktes Prinzip: der "Ehre".
"Ehre" konnten nur Männer besitzen, Frauen nicht.
So kam es oft zu Urteilen, welche den Absichten der Frauen entgegenstanden.
Ein Beispiel: ein Mutter wurde von ihrem Sohn verprügelt. Sie verklagte ihn, mit der
Absicht, dass das Gericht den Burschen zurechtweist. Die Richter jedoch warfen ihn
ins Gefängnis. Da zog die Mutter wieder vor Gericht, und bat, den Sohn doch frei zu lassen,
da er in Haus und Hof mithelfen musste.
Habermas führe mehrere Fälle an, wo Männer eine Frau schwängerten, und sie dann
mit dem Kind alleine ließen und in eine neue Stadt zogen, wo sie so weiter machten.
Mit der neuen Gesetz, dass die Ehe nur mit dem Kirchgang gültig war, war es
psychologisch für die Männer einfacher abzuhauen. Nach der alten Gemeinschaftsregel
wären sie durch den Vollzug des Sexaktes mit der Frau automatisch verheiratet gewesen.
Nahezu alle Gerichtsanhörungen gingen von Frauen aus, die von Männern
geschwängert wurden, geprügelt, oder verlassen. Männer die eine Frau schwängerten
wurden vor die Wahl gestellt: entweder heiraten oder ins Gefängnis!
Unterstützt wurde die juristische Praxis durch kirchliche Polemikschriften gegen
"ungezügelten Sex". Die Ehe soll der einzig legitime Ort von Sex sein.
Dabei stehe die Frau so weit unter dem Mann, wie der Mann unter dem christlichen
Männergott stehe. Sie sei reine Befehlsempfängerin und müsse ihren Pflichten
als Hausfrau und Muter nachkommen, und habe zum Geschlechtsverkehr dem
Ehemann immer ihre Vagina zur Verfügung zu stellen. Sex sei nicht zum Lustgewinn da,
sondern nur zur Fortpflanzung.
Interessant ist dabei die juristische Position der "Keuschheit" der Frau :
Sie ist KEIN Gut der Frau, sondern Besitz des Ehemannes, oder der Familie der Frau !
1700 wurde in Frankfurt das Gesetz verabschiedet und 1733 verschärft.
Deutlich wird das in einem Fall, den Frau Habermas vorstellt:
Ein Frau verliebte sich in einen Mann der nicht Mitglied ihrer Kaste war,
sondern darunter stand. Um die übliche Zwangsheirat durch die Familie,
zum Zweck der Vermehrung der Finanzen zu vermeiden, hauten die beiden ab
und heirateten sofort ausserhalb der Stadt. In einem anderen ähnlich gelagerten Fall
kamen beide aus den unteren Schichten der Frankfurter Gesellschaft.
In beiden Fällen wurde gegen den neu vermählten Ehemann Klage erhoben,
wegen des "Verbrechens" (!) die Heirat war ! Die Ehefrau, die aus freiem Willen
ihre Liebe wählte, galt als unmündig, auf der Stufe von Kindern und Geisteskranken.
(In der Schweiz wurden bis Anfang des 20.Jh. Frauen mit Geisteskranken gleichgestellt!).
Die Schizophrenität des Patriarchats zeigt sich hier in aller Klarheit:
zum einen besteht der Zwang zur Ehe, und zum anderen werden Personen genau
deswegen angeklagt weil sie eine Ehe eingehen. Die Maske fällt:
es geht hier um die Erziehung zur Unmündigkeit, zur Verantwortungslosigkeit,
zum Unterthanengeist.
Der Ehrbegriff ist ein rein männlicher. Keine der Frauen welche Männer wegen
Sexualdelikten anzeigten, erwähnten nur ein einziges Mal das Wort "Ehre" !
Den Frauen ging es um das Rechte auf leibliche Unversehrtheit und um das
ökonomische Überleben. Der Verlust ihrer Jungfernschaft war ihnen egal.
Nicole
Frauen und Männer im Kampf um Leib, Ökonomie und Recht.
Untertitel: Zur Beziehung der Geschlechter im Frankfurt der Frühen Neuzeit.
Von Rebekka Habermas.
Hierarchische Machtstrukturen des Patriarchats benötigen als Kern die Erziehung
des Volkes zur Verantwortungslosigkeit. Eine Person die selbst denkt und
verantwortlich ihrem Gewissen entsprechend handelt, ist für kapitalistisch-
patriarchalische Gesellschaften eine große Gefahr. Gleichzeitig erzeugt diese
typisch männliche Erziehung zur Verantwortungslosigkeit ein soziales Gift, welches,
entsprechend geschickt angewendet, sich gegen die Herrschaft selbst wendet.
Frau Rebekka Habermas zeigt in ihrer Untersuchung diese Zusammenhänge am
Beispiel der Situation von Frauen im Frankfurt der frühen Neuzeit (16.Jh - 18.Jh.).
Frankfurt war schon damals ein Zentrum für Handel und Messen. Während der
Jahrhunderte zuvor trafen sich Gaukler, Sexarbeiterinnen und Fliegende Händler
bei Konzilen und Treffen der katholischen Kirche. Nun wurde diese Rolle nach dem
16. Jh. von den Messestädten eingenommen, wie z.B. Frankfurt.
Durch das von Männern erfundene und durchgesetzte Verbot des freien Zusammenlebens
von Frau und Mann, der Ächtung der Sexarbeit, der Verbannung der Frauen ins Haus,
entweder in das des Vorbesitzers (des Vaters) oder des Nachbesitzers /des Ehemanns),
wurde die bis zum späten Mittelalter gebräuchliche Gemeinschaftsregel, dass eine
Ehe mit dem ersten Sex beginnt, als illegal erklärt. Frauen waren also mehr als
zuvor in einer Art Sklavensituation, Besitzobjekte der Männer, und ihrer Willkür ausgeliefert.
Die männliche Erziehung zur Verantwortungslosigkeit hatte für Frauen schwerwiegende
Folgen. Wenn sie nun eine Frau schwängerten, und mit ihr keine Ehe eingingen, hauten
sie einfach in die nächste Stadt ab, und ließen die Frau mit ihrem Kind alleine.
Gerade in der untersten Gruppe des neuzeitlichen Kastensystems europäischer Version,
war die Mobilität der Frau extrem eingeschränkt. Mit einem unehelichen Kind hatte sie
praktisch nur die Möglichkeit betteln zu gehen.
Die andere Möglichkeit war, den Mann vor Gericht anzuklagen. Die Richter waren
damals alles sehr reiche Männer aus der Kaste der Patrizier. Sie konnten die Belange
der Frauen auf Dienstmagdniveau nicht verstehen. Den Frauen ging es wesentlich
um das Recht auf leibliche Unversehrtheit, wenn der Mann sie prügelte, oder auf
finanzielle Sicherheit, wenn er sie mit einem Kind alleine lies.
Den Patrizierrichtern ging es um ein abstraktes Prinzip: der "Ehre".
"Ehre" konnten nur Männer besitzen, Frauen nicht.
So kam es oft zu Urteilen, welche den Absichten der Frauen entgegenstanden.
Ein Beispiel: ein Mutter wurde von ihrem Sohn verprügelt. Sie verklagte ihn, mit der
Absicht, dass das Gericht den Burschen zurechtweist. Die Richter jedoch warfen ihn
ins Gefängnis. Da zog die Mutter wieder vor Gericht, und bat, den Sohn doch frei zu lassen,
da er in Haus und Hof mithelfen musste.
Habermas führe mehrere Fälle an, wo Männer eine Frau schwängerten, und sie dann
mit dem Kind alleine ließen und in eine neue Stadt zogen, wo sie so weiter machten.
Mit der neuen Gesetz, dass die Ehe nur mit dem Kirchgang gültig war, war es
psychologisch für die Männer einfacher abzuhauen. Nach der alten Gemeinschaftsregel
wären sie durch den Vollzug des Sexaktes mit der Frau automatisch verheiratet gewesen.
Nahezu alle Gerichtsanhörungen gingen von Frauen aus, die von Männern
geschwängert wurden, geprügelt, oder verlassen. Männer die eine Frau schwängerten
wurden vor die Wahl gestellt: entweder heiraten oder ins Gefängnis!
Unterstützt wurde die juristische Praxis durch kirchliche Polemikschriften gegen
"ungezügelten Sex". Die Ehe soll der einzig legitime Ort von Sex sein.
Dabei stehe die Frau so weit unter dem Mann, wie der Mann unter dem christlichen
Männergott stehe. Sie sei reine Befehlsempfängerin und müsse ihren Pflichten
als Hausfrau und Muter nachkommen, und habe zum Geschlechtsverkehr dem
Ehemann immer ihre Vagina zur Verfügung zu stellen. Sex sei nicht zum Lustgewinn da,
sondern nur zur Fortpflanzung.
Interessant ist dabei die juristische Position der "Keuschheit" der Frau :
Sie ist KEIN Gut der Frau, sondern Besitz des Ehemannes, oder der Familie der Frau !
1700 wurde in Frankfurt das Gesetz verabschiedet und 1733 verschärft.
Deutlich wird das in einem Fall, den Frau Habermas vorstellt:
Ein Frau verliebte sich in einen Mann der nicht Mitglied ihrer Kaste war,
sondern darunter stand. Um die übliche Zwangsheirat durch die Familie,
zum Zweck der Vermehrung der Finanzen zu vermeiden, hauten die beiden ab
und heirateten sofort ausserhalb der Stadt. In einem anderen ähnlich gelagerten Fall
kamen beide aus den unteren Schichten der Frankfurter Gesellschaft.
In beiden Fällen wurde gegen den neu vermählten Ehemann Klage erhoben,
wegen des "Verbrechens" (!) die Heirat war ! Die Ehefrau, die aus freiem Willen
ihre Liebe wählte, galt als unmündig, auf der Stufe von Kindern und Geisteskranken.
(In der Schweiz wurden bis Anfang des 20.Jh. Frauen mit Geisteskranken gleichgestellt!).
Die Schizophrenität des Patriarchats zeigt sich hier in aller Klarheit:
zum einen besteht der Zwang zur Ehe, und zum anderen werden Personen genau
deswegen angeklagt weil sie eine Ehe eingehen. Die Maske fällt:
es geht hier um die Erziehung zur Unmündigkeit, zur Verantwortungslosigkeit,
zum Unterthanengeist.
Der Ehrbegriff ist ein rein männlicher. Keine der Frauen welche Männer wegen
Sexualdelikten anzeigten, erwähnten nur ein einziges Mal das Wort "Ehre" !
Den Frauen ging es um das Rechte auf leibliche Unversehrtheit und um das
ökonomische Überleben. Der Verlust ihrer Jungfernschaft war ihnen egal.
Nicole
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RE: Dynamik der Tradition
Nicole, erstmal danke für diese Ausführungen.
Der Name "Habermas" hat mich hellhörig gemacht und denke natürlich an Prof. Jürgen Habermas und die "Frankfurter Schule", welcher damals für uns vom SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund) extra Vorlesungen gemacht hat.
Ja und was stellt sich heraus, Rebekka Habermas ist seine Tochter.
Tja bei diesem Elternhaus .......
Gruß Jupiter
Der Name "Habermas" hat mich hellhörig gemacht und denke natürlich an Prof. Jürgen Habermas und die "Frankfurter Schule", welcher damals für uns vom SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund) extra Vorlesungen gemacht hat.
Ja und was stellt sich heraus, Rebekka Habermas ist seine Tochter.
Tja bei diesem Elternhaus .......
Gruß Jupiter
Wenn du fühlst, dass in deinem Herzen etwas fehlt, dann kannst du, auch wenn du im Luxus lebst, nicht glücklich sein.
(Tenzin Gyatso, 14. Dalai Lama)
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Viertes Kapitel
Titel: Frauen in Krise
Untertitel: Eheleben und Ehescheidung in der ländlichen Gesellschaft Bayerns
während des Ancien régime.
Von Rainer Beck
Bis zum 16.Jh konnten Frau und Mann ohne die Anwesenheit von Bürokraten und
Priestern heiraten. Das sah die Kirche als "Unordnung" an, die beseitigt werden müsse.
Beim Konzil von Trient 1563 beschlossen die Männer, dass nur noch Heiraten gültig seien,
die bei Anwesenheit von Priestern geschlossen wurden, und mit zusätzlicher
Staatskontrolle. Die Heirat selbst wurde als ökonomische Transaktion angesehen.
Die Mahnung eines Dorfpfarrers während einer Heiratszeremonie ist ein Beispiel dazu.
Er meinte dabei: "....du kannst dich mit deiner Ehe-Gattin betragen oder nicht,
du hast dein Nahrung oder Unterhalt oder nicht: der Kauff ist schon gemacht!...".
Ein Mann gab vor Gericht an, dass er seine Frau gleich nach der Hochzeit los haben
wollte: "was solt ich mit einer so alten thun, ich künt dich ja bey denen Juden verkauffen".
Der kirchliche Zwang zu einer "ewigen" Ehe erlaubte formal keine Scheidung.
Aber es gab doch Hintertürchen, und die wurden auch benutzt!
So gab es die Formel "Auflösung des gemeinsamen Haushalts" , wenn z.B. der Mann,
wie meist üblich, seine Frau verprügelte. Sie konnte dann bei ihrer Familie leben, oder
bei Freunden, war auf dem Papier aber immer noch verheiratet.
Von der Kirche wurden auch folgende Gründe anerkannt: Ehebruch (das war ein
Verbrechen!), Unzucht, Verführung zur Sünde und Grausamkeit.
In Bezug auf den letzten Punkt: 2/3 der Frauen bezichtigten den Ehemann der Gewalt.
50% der Frauen lebten zum Zeitpunkt der Klage nicht mehr beim Ehemann.
Die Männer beriefen sich dann vor Gericht meist auf das von der Kirche eingeräumte
Recht der Männer ihre Ehefrauen zu verprügeln, wenn sie ihrem Herrscher nicht gehorchten,
wie es in den Petrusbriefen gelehrt wird.
Kommentare wie diese waren vor dem Richter keine Seltenheit:
"...wan es sye Clägerin noch länger bey sich gedulten müsse, so wolle er sye so gar
zu Todt schlagen..." , oder : "...geschworen, sye zu erschießen, wenn sye ihm nicht
aus dem Aug gehe...". 1754 erklärte ein Mann vor Gericht, dass er "mit dem Stock
nachgeholfen habe", weil sie nicht arbeiten wollte. Gewalt gegen Frauen rechtfertigten
die Männer vor Gericht als "Erziehungsmaßnahmen", legitimiert durch die Bibel.
Wiguläus von Kreittmayr, der 1756 das Landrecht verfasste, schrieb, dass "die
männliche Direction und Herrschaft über die Ehefrau" auf göttliches Recht gegründet sei.
Der spanische Jesuit Sanchez, dessen Ansichten von den Juristen des 18.Jh.
übernommen wurden, meinte, dass Männer über Frauen herrschen,
und wo Herrschaft ist, da muss auch Zwang sein um die Herrschaft durchzusetzen.
Der Wallfahrtspriester Abraham a Santa Clara, Hofprediger von Wien und Wallfahrts-
Prediger im bayrischen Taxa, rät Männern zu einer gelegentlichen "Prügelkur".
Das renovierte Landrecht von 1756 erlaubte Männern eine "moderate castigatio",
eine mäßige Prügelstrafe gegenüber ihren Ehefrauen.
In Kirchenkreisen jener Zeit gab es den Ausdruck der "meisterlosen Weibern".
Das würde heute etwa den "herrenlosen Hunden" entsprechen.
Eine andere Möglichkeit für Frauen sich vom Mann zu trennen war, dass sie vor Gericht
zog, und ihren Mann beschuldigte impotent zu sein, oder keinen mehr hoch zu kriegen.
¾ der Klagen vor Gericht gingen von Frauen aus.
Das Problem ist im Kern direkte Folge der Kirchenvorschriften im Bereich Ehe.
Dem Mann schreibt die Kirche die Herrschaft über die Frau zu. Er bestimmt das Leben
ausserhalb des Hauses, und sie soll angeblich zumindest im Haus die Kontrolle haben.
Das kollidiert aber mit dem allgemeinen Herrschaftsanspruch des Mannes über
der Frau ! In den unteren Ständen war die Frau meist die Leidtragende, da oft das
Essen rar war, und der Mann seiner Frau nur wenig oder nichts zum essen übrig lies.
Wenn Frauen dann vor Gericht zogen um sich scheiden zu lassen, waren die Männer meist
ausser sich. Der Hauptgrund war nicht der Inhalt der Klage, der meist stimmte, sondern
die Tatsache, dass sie sich ihm nicht unterordnen wollte, und sich den männlichen
Befehlen widersetzte. So versetzte ein Ehemann seiner Frau Prügel, da sie nicht mit ihm
am Sonntag zur Messe gehen wollte.
Für die Kirche war Sex in der Ehe NUR für die Fortpflanzung gestattet.
Wenn durch den Sex selbst die Frau also nicht sofort schwanger wurde, dann war Sex
"Unzucht" , selbst in der Ehe! Eine Frau die beim Ehesex Lust empfand, war dadurch
automatisch eine Hure ! So wurde der Begriff des "keuschen Ehebetts" erfunden.
Diese in Gesetzen niedergeschriebenen Verhaltensvorschriften nutzten nun die
Frauen als Motiv sich scheiden zu lassen: sie zogen vor Gericht, und gaben an,
dass der Mann entweder keinen mehr hochbekomme, oder keinen Samenerguss habe.
Da sie aber nicht "in Sünde" leben wollten, müssten sie sich nun scheiden lassen!
Für Männer war das immer ein schwerer Schlag, in einer patriarchalen Gesellschaft
in der Öffentlichkeit als impotent beschuldigt zu werden.
Die Richter hörten dann: "er sei nit Mann", oder "nit im Stand
das eheliche Werk zu vollenden", oder "daß Beclagter nit mannbar sei".
Die Hälfte der Scheidungsanträge waren wegen Impotenz.
Nach Kirchenrecht war eine Heirat ohne vollzogenen Sex ungültig, nichtig!
Hier fand eine totale zeitliche Umkehrung der Eheprozedur statt.
Bis zum 15.Jh. war ZUERST der Sex von Frau und Mann, als Zeichen der "Vermählung".
Das galt als Beginn der Ehe, die danach amtlich niedergeschrieben wurde, und eventuell
auch in der Kirche gefeiert wurde. Ohne Sex gab es keine Heiratsversprechen.
Frauen die ohne Heirat Sex hatten, waren Sexarbeiterinnen.
Jetzt war es genau umgekehrt. Zuerst kam die kirchliche Prozedur, und dann erst der Sex.
Aber auch hier: ohne den Sex war die Kirchentrauung nichtig, gab es keine Ehe!
Man könnte das heute mit dem Kauf eines Fahrscheins zur U-Bahn vergleichen.
Zuerst muss der Mann sich ein Ticket kaufen = kirchliche Trauung.
Danach erst darf er die U-Bahn benutzen = Ehe,
muss das Ticket aber dazu vor dem Betreten der U-Bahn lochen =
Sex mit der Braut.
Eine U-Bahnfahrt ohne gelochtes Ticket ist ungültig und strafbar =
Eine "Ehe" ohne vollzogenen Sex ist ungültig und gegen die Kirchengesetze.
Wenn wir im Vergleich bleiben, früher konnte man noch in den Zug steigen, und
dann beim Zugschaffner ein Ticket kaufen.
Dieser vorgeschriebene Sex diente aber NICHT zur Lust, sondern NUR zur Fortpflanzung!
Wer unfruchtbar war, der durfte also erst gar nicht heiraten!
Ein vollzogene Heirat war dann keine. Die Partner konnten
sich trennen, ohne dass die starren Kirchengesetze der sogeannten
"unauflöslichen Ehe" gebrochen wurden, da substanziell wegen
fehlender Fortpflanzungsmöglichkeit keine Ehe geschlossen werden konnte.
Fortsetzung folgt.
Nicole
Titel: Frauen in Krise
Untertitel: Eheleben und Ehescheidung in der ländlichen Gesellschaft Bayerns
während des Ancien régime.
Von Rainer Beck
Bis zum 16.Jh konnten Frau und Mann ohne die Anwesenheit von Bürokraten und
Priestern heiraten. Das sah die Kirche als "Unordnung" an, die beseitigt werden müsse.
Beim Konzil von Trient 1563 beschlossen die Männer, dass nur noch Heiraten gültig seien,
die bei Anwesenheit von Priestern geschlossen wurden, und mit zusätzlicher
Staatskontrolle. Die Heirat selbst wurde als ökonomische Transaktion angesehen.
Die Mahnung eines Dorfpfarrers während einer Heiratszeremonie ist ein Beispiel dazu.
Er meinte dabei: "....du kannst dich mit deiner Ehe-Gattin betragen oder nicht,
du hast dein Nahrung oder Unterhalt oder nicht: der Kauff ist schon gemacht!...".
Ein Mann gab vor Gericht an, dass er seine Frau gleich nach der Hochzeit los haben
wollte: "was solt ich mit einer so alten thun, ich künt dich ja bey denen Juden verkauffen".
Der kirchliche Zwang zu einer "ewigen" Ehe erlaubte formal keine Scheidung.
Aber es gab doch Hintertürchen, und die wurden auch benutzt!
So gab es die Formel "Auflösung des gemeinsamen Haushalts" , wenn z.B. der Mann,
wie meist üblich, seine Frau verprügelte. Sie konnte dann bei ihrer Familie leben, oder
bei Freunden, war auf dem Papier aber immer noch verheiratet.
Von der Kirche wurden auch folgende Gründe anerkannt: Ehebruch (das war ein
Verbrechen!), Unzucht, Verführung zur Sünde und Grausamkeit.
In Bezug auf den letzten Punkt: 2/3 der Frauen bezichtigten den Ehemann der Gewalt.
50% der Frauen lebten zum Zeitpunkt der Klage nicht mehr beim Ehemann.
Die Männer beriefen sich dann vor Gericht meist auf das von der Kirche eingeräumte
Recht der Männer ihre Ehefrauen zu verprügeln, wenn sie ihrem Herrscher nicht gehorchten,
wie es in den Petrusbriefen gelehrt wird.
Kommentare wie diese waren vor dem Richter keine Seltenheit:
"...wan es sye Clägerin noch länger bey sich gedulten müsse, so wolle er sye so gar
zu Todt schlagen..." , oder : "...geschworen, sye zu erschießen, wenn sye ihm nicht
aus dem Aug gehe...". 1754 erklärte ein Mann vor Gericht, dass er "mit dem Stock
nachgeholfen habe", weil sie nicht arbeiten wollte. Gewalt gegen Frauen rechtfertigten
die Männer vor Gericht als "Erziehungsmaßnahmen", legitimiert durch die Bibel.
Wiguläus von Kreittmayr, der 1756 das Landrecht verfasste, schrieb, dass "die
männliche Direction und Herrschaft über die Ehefrau" auf göttliches Recht gegründet sei.
Der spanische Jesuit Sanchez, dessen Ansichten von den Juristen des 18.Jh.
übernommen wurden, meinte, dass Männer über Frauen herrschen,
und wo Herrschaft ist, da muss auch Zwang sein um die Herrschaft durchzusetzen.
Der Wallfahrtspriester Abraham a Santa Clara, Hofprediger von Wien und Wallfahrts-
Prediger im bayrischen Taxa, rät Männern zu einer gelegentlichen "Prügelkur".
Das renovierte Landrecht von 1756 erlaubte Männern eine "moderate castigatio",
eine mäßige Prügelstrafe gegenüber ihren Ehefrauen.
In Kirchenkreisen jener Zeit gab es den Ausdruck der "meisterlosen Weibern".
Das würde heute etwa den "herrenlosen Hunden" entsprechen.
Eine andere Möglichkeit für Frauen sich vom Mann zu trennen war, dass sie vor Gericht
zog, und ihren Mann beschuldigte impotent zu sein, oder keinen mehr hoch zu kriegen.
¾ der Klagen vor Gericht gingen von Frauen aus.
Das Problem ist im Kern direkte Folge der Kirchenvorschriften im Bereich Ehe.
Dem Mann schreibt die Kirche die Herrschaft über die Frau zu. Er bestimmt das Leben
ausserhalb des Hauses, und sie soll angeblich zumindest im Haus die Kontrolle haben.
Das kollidiert aber mit dem allgemeinen Herrschaftsanspruch des Mannes über
der Frau ! In den unteren Ständen war die Frau meist die Leidtragende, da oft das
Essen rar war, und der Mann seiner Frau nur wenig oder nichts zum essen übrig lies.
Wenn Frauen dann vor Gericht zogen um sich scheiden zu lassen, waren die Männer meist
ausser sich. Der Hauptgrund war nicht der Inhalt der Klage, der meist stimmte, sondern
die Tatsache, dass sie sich ihm nicht unterordnen wollte, und sich den männlichen
Befehlen widersetzte. So versetzte ein Ehemann seiner Frau Prügel, da sie nicht mit ihm
am Sonntag zur Messe gehen wollte.
Für die Kirche war Sex in der Ehe NUR für die Fortpflanzung gestattet.
Wenn durch den Sex selbst die Frau also nicht sofort schwanger wurde, dann war Sex
"Unzucht" , selbst in der Ehe! Eine Frau die beim Ehesex Lust empfand, war dadurch
automatisch eine Hure ! So wurde der Begriff des "keuschen Ehebetts" erfunden.
Diese in Gesetzen niedergeschriebenen Verhaltensvorschriften nutzten nun die
Frauen als Motiv sich scheiden zu lassen: sie zogen vor Gericht, und gaben an,
dass der Mann entweder keinen mehr hochbekomme, oder keinen Samenerguss habe.
Da sie aber nicht "in Sünde" leben wollten, müssten sie sich nun scheiden lassen!
Für Männer war das immer ein schwerer Schlag, in einer patriarchalen Gesellschaft
in der Öffentlichkeit als impotent beschuldigt zu werden.
Die Richter hörten dann: "er sei nit Mann", oder "nit im Stand
das eheliche Werk zu vollenden", oder "daß Beclagter nit mannbar sei".
Die Hälfte der Scheidungsanträge waren wegen Impotenz.
Nach Kirchenrecht war eine Heirat ohne vollzogenen Sex ungültig, nichtig!
Hier fand eine totale zeitliche Umkehrung der Eheprozedur statt.
Bis zum 15.Jh. war ZUERST der Sex von Frau und Mann, als Zeichen der "Vermählung".
Das galt als Beginn der Ehe, die danach amtlich niedergeschrieben wurde, und eventuell
auch in der Kirche gefeiert wurde. Ohne Sex gab es keine Heiratsversprechen.
Frauen die ohne Heirat Sex hatten, waren Sexarbeiterinnen.
Jetzt war es genau umgekehrt. Zuerst kam die kirchliche Prozedur, und dann erst der Sex.
Aber auch hier: ohne den Sex war die Kirchentrauung nichtig, gab es keine Ehe!
Man könnte das heute mit dem Kauf eines Fahrscheins zur U-Bahn vergleichen.
Zuerst muss der Mann sich ein Ticket kaufen = kirchliche Trauung.
Danach erst darf er die U-Bahn benutzen = Ehe,
muss das Ticket aber dazu vor dem Betreten der U-Bahn lochen =
Sex mit der Braut.
Eine U-Bahnfahrt ohne gelochtes Ticket ist ungültig und strafbar =
Eine "Ehe" ohne vollzogenen Sex ist ungültig und gegen die Kirchengesetze.
Wenn wir im Vergleich bleiben, früher konnte man noch in den Zug steigen, und
dann beim Zugschaffner ein Ticket kaufen.
Dieser vorgeschriebene Sex diente aber NICHT zur Lust, sondern NUR zur Fortpflanzung!
Wer unfruchtbar war, der durfte also erst gar nicht heiraten!
Ein vollzogene Heirat war dann keine. Die Partner konnten
sich trennen, ohne dass die starren Kirchengesetze der sogeannten
"unauflöslichen Ehe" gebrochen wurden, da substanziell wegen
fehlender Fortpflanzungsmöglichkeit keine Ehe geschlossen werden konnte.
Fortsetzung folgt.
Nicole
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Was das angebliche Problem mit "Prostitution" angeht trifft das nach wie vor zu.nicole6 hat geschrieben:Das Problem ist im Kern direkte Folge der Kirchenvorschriften im Bereich Ehe.
Dass die Kirche da etwas in den Hintergrund getreten ist, und der Staat, der zunächst im Auftrag der Kirche gehandelt hat inzwischen zum Selbstläufer geworden ist, kann daran Nichts ändern.
Jeder Versuch als sogenannte Autorität die Intimsphäre der Menschen zu regeln ist menschenrechtswidrig, gleichgültig ob als "Begründung" jetzt die Bibel, die Notwendigkeit angeblichen Menschenhandel zu bekämpfen, oder die in Aussicht gestellten Vorteile einer gewerberechtlichen Regelung in's Feld geführt werden.
Liebe Grüße, Aoife
It's not those who inflict the most, but those who endure the most, who will conquer. MP.Vol.Bobby Sands
'I know kung fu, karate, and 37 other dangerous words'
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5. Kapitel
Titel: Religiöse Praxis und Sinnesverwirrung.
Untertitel: Kommentare zur religiösen Melancholiediskussion.
von Edith Saurer.
In der Abhandlung von Frau Edith Saurer wird der Unterschied heraus gearbeitet, was
in einer Gesellschaft als "gesund", bzw. "krank" angesehen werden muss, und was
man als "normal" oder "anormal" definiert. Es zeigt sich, dass gesamte Kulturen krank
sein können, und diese Krankheit dann als "normales Benehmen" zur Verhaltensvorschrift
kristallisiert. Psychisch gesunde Menschen werden in solchen Kulturen somit im Kontrast
zur kranken Mehrheit als Außenseiter bezeichnet. Das Gesunde wird zur Randgruppe.
Die Männer der Kirchen bezeichneten "Melancholie" als eine der Todsünden.
Die Rückseite der Melancholiemünze war "religiöser Wahn".
Weitere Todsünden waren: Selbstsucht, Völlerei, Wollust und Trägheit.
"Trägheit" als Todsünde war so definiert: "...so viel möglich in behaglicher Ruh fortzuleben..."
"Wohllust" als Todsünde hatte zur Folge, dass es selbst in der Ehe streng verboten
war bei Sex Freude, Lust und Ekstase zu empfinden. Ein Orgasmus war somit das
schlimmste aller Übel.
Als Folge der schizophrenen Forderungen der Kirchen in Bezug auf das vorgeschriebene
Verhalten der Gläubigen, wobei die Nicht-Gläubigen den gleichen Vorschriften unterworfen
waren, nahm gegen Ende des 18, Jh. die Zahl an psychisch Kranken dramatisch zu.
1784 eröffnete somit in Wien mit dem "Narrenturm" die erste psychiatrische Abteilung
eines Krankenhauses in Europa.
Zur gleichen Zeit mehrten sich in Österreich zu Beginn des 18.Jh Berichte über
religiöse Wahnsinnige, was aber nicht nur auf Österreich beschränkt war.
Der französische Psychiater Phillipe Pinel berichtet über Männer welche Frau und Kinder
abschlachteten, um sie vor der sündigen Welt zu schützen. Nahezu all diese
Wahnsinnigen haben zuvor religiöse polemische Schriften gelesen. Für Pinel war die
Religion selbst das Übel der Zeit. Ihre Lehren seien ein zentraler Auslösepunkt
für psychische Störungen.
Die Protestanten leideten dabei mehr als die Katholiken, weil bei den letzteren die
vermeintlichen "Sünden" vom Priester nach der Beichte vergeben wurden.
Hier zeigt sich das mafiöse System der christlichen Kirchen: sie versprechen "Erlösung
von den Übeln", von "Übeln", die es ohne die Gehirnwäsche der Kirchen nicht geben würde.
Nachdem nun einmal die Irrenanstalten eingeführt waren, wurden sie oft benutzt
um unliebsame Konkurrenten unschädlich zu machen.
(Eine Praxis die heute noch in allen Diktaturen praktiziert wird!)
Giordana Charuty untersuchte Argumente aus dem 19. und 20, Jh. die benutzt wurden
um Personen einzuliefern: Eifersucht, Zusammenleben von Unverheirateten und
Erbschaftsangelegenheiten, was die Aufnahmeprotokolle in Wien belegen.
1788 wurde auch in Linz eine Irrenanstalt eröffnet.
Die Kirche selbst nannte als Gründe für das Auftreten des Wahnsinns:
Luxus, Reichtum, freier Sex und Religionslosigkeit.
Alle Ärzte der Irrenanstalten hatten eine andere Diagnose:
es sei die Existenz der Kirche mit ihren Religionsvorschriften, welche den Wahnsinn
hervorriefe. Besonders stark war der religiöse Wahn im Königreich Sizilien.
Die Wahnvorstellungen selbst wurden "religiöse Melancholie" benannt.
Als zwischen 1650 und 1750 in den Frauenklöstern die Nonnen vermehrt Bücher schrieben,
regten sich die Männer der Kirche auf. Es sei nicht Aufgabe der Frauen zu schreiben,
insbesondere sei es ihnen verboten religiöse Inhalte zu lehren.
Fortsetzumg folgt.
Nicole
Titel: Religiöse Praxis und Sinnesverwirrung.
Untertitel: Kommentare zur religiösen Melancholiediskussion.
von Edith Saurer.
In der Abhandlung von Frau Edith Saurer wird der Unterschied heraus gearbeitet, was
in einer Gesellschaft als "gesund", bzw. "krank" angesehen werden muss, und was
man als "normal" oder "anormal" definiert. Es zeigt sich, dass gesamte Kulturen krank
sein können, und diese Krankheit dann als "normales Benehmen" zur Verhaltensvorschrift
kristallisiert. Psychisch gesunde Menschen werden in solchen Kulturen somit im Kontrast
zur kranken Mehrheit als Außenseiter bezeichnet. Das Gesunde wird zur Randgruppe.
Die Männer der Kirchen bezeichneten "Melancholie" als eine der Todsünden.
Die Rückseite der Melancholiemünze war "religiöser Wahn".
Weitere Todsünden waren: Selbstsucht, Völlerei, Wollust und Trägheit.
"Trägheit" als Todsünde war so definiert: "...so viel möglich in behaglicher Ruh fortzuleben..."
"Wohllust" als Todsünde hatte zur Folge, dass es selbst in der Ehe streng verboten
war bei Sex Freude, Lust und Ekstase zu empfinden. Ein Orgasmus war somit das
schlimmste aller Übel.
Als Folge der schizophrenen Forderungen der Kirchen in Bezug auf das vorgeschriebene
Verhalten der Gläubigen, wobei die Nicht-Gläubigen den gleichen Vorschriften unterworfen
waren, nahm gegen Ende des 18, Jh. die Zahl an psychisch Kranken dramatisch zu.
1784 eröffnete somit in Wien mit dem "Narrenturm" die erste psychiatrische Abteilung
eines Krankenhauses in Europa.
Zur gleichen Zeit mehrten sich in Österreich zu Beginn des 18.Jh Berichte über
religiöse Wahnsinnige, was aber nicht nur auf Österreich beschränkt war.
Der französische Psychiater Phillipe Pinel berichtet über Männer welche Frau und Kinder
abschlachteten, um sie vor der sündigen Welt zu schützen. Nahezu all diese
Wahnsinnigen haben zuvor religiöse polemische Schriften gelesen. Für Pinel war die
Religion selbst das Übel der Zeit. Ihre Lehren seien ein zentraler Auslösepunkt
für psychische Störungen.
Die Protestanten leideten dabei mehr als die Katholiken, weil bei den letzteren die
vermeintlichen "Sünden" vom Priester nach der Beichte vergeben wurden.
Hier zeigt sich das mafiöse System der christlichen Kirchen: sie versprechen "Erlösung
von den Übeln", von "Übeln", die es ohne die Gehirnwäsche der Kirchen nicht geben würde.
Nachdem nun einmal die Irrenanstalten eingeführt waren, wurden sie oft benutzt
um unliebsame Konkurrenten unschädlich zu machen.
(Eine Praxis die heute noch in allen Diktaturen praktiziert wird!)
Giordana Charuty untersuchte Argumente aus dem 19. und 20, Jh. die benutzt wurden
um Personen einzuliefern: Eifersucht, Zusammenleben von Unverheirateten und
Erbschaftsangelegenheiten, was die Aufnahmeprotokolle in Wien belegen.
1788 wurde auch in Linz eine Irrenanstalt eröffnet.
Die Kirche selbst nannte als Gründe für das Auftreten des Wahnsinns:
Luxus, Reichtum, freier Sex und Religionslosigkeit.
Alle Ärzte der Irrenanstalten hatten eine andere Diagnose:
es sei die Existenz der Kirche mit ihren Religionsvorschriften, welche den Wahnsinn
hervorriefe. Besonders stark war der religiöse Wahn im Königreich Sizilien.
Die Wahnvorstellungen selbst wurden "religiöse Melancholie" benannt.
Als zwischen 1650 und 1750 in den Frauenklöstern die Nonnen vermehrt Bücher schrieben,
regten sich die Männer der Kirche auf. Es sei nicht Aufgabe der Frauen zu schreiben,
insbesondere sei es ihnen verboten religiöse Inhalte zu lehren.
Fortsetzumg folgt.
Nicole
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- Goldstück
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- Ich bin: SexarbeiterIn
RE: Dynamik der Tradition
Liebe @nicole6,
absolut interessante Beiträge! Das Buch ist offenbar schon über 20 Jahre alt! Aber trotzdem hochaktuell ...
LG,
Friederike
absolut interessante Beiträge! Das Buch ist offenbar schon über 20 Jahre alt! Aber trotzdem hochaktuell ...
LG,
Friederike
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- Wohnort: München
- Ich bin: ehemalige SexarbeiterIn
liebe Friederike,
gute Bücher sind eigentlich immer aktuell !
Und wenn es um historische Analysen geht, die von hoch
qualifizierten Leuten geschrieben wurden, dann um so mehr!
Es ist nun das erste Mal, dass ich den Inhalt eines Buches
so ausführlich beschreibe. Ich war anfangs skeptisch, ob
der lange Text überhaupt gelesen wird, habe es, wie man
nun sieht, aber trotzdem gemacht.
Nicole
gute Bücher sind eigentlich immer aktuell !
Und wenn es um historische Analysen geht, die von hoch
qualifizierten Leuten geschrieben wurden, dann um so mehr!
Es ist nun das erste Mal, dass ich den Inhalt eines Buches
so ausführlich beschreibe. Ich war anfangs skeptisch, ob
der lange Text überhaupt gelesen wird, habe es, wie man
nun sieht, aber trotzdem gemacht.
Nicole
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6. Kapitel
Titel: Ritual und Fest. Das Volk auf der Straße.
Untertitel: Figurationen und Funktionen populärer Öffentlichkeit
Zwischen Frühneuzeit und Moderne.
Von Wolfgang Kaschuba.
Die sogenannte "Volkskultur" wird im Gegensatz zur "Elitekultur" gesehen.
Während die Moden der Elite, wie der Name schon sagt, auf häufige Veränderung
angesehen sind, werden die Traditionen der Volkskultur meist als unveränderliche
Größen angesehen.
Nach aussen hin mag das auch so scheinen. Aber wenn man die Form in den
Bezug zum Kontext untersucht, so kann man zeigen, dass das Volk durchaus fähig ist,
alte Gewohnheiten durch den Bezug auf neue Kontexte mit nfrischem Inhalt zu füllen.
Das heißt, kulturelle Formen werden mit der Zeit durch neue Inhalte bereichert
und verändert. Es ist sogar so, wenn diese Veränderung nicht stattfindet, dann
stirbt diese Tradition aus!
Die aktive Umarbeitung der täglichen Erfahrungen in Kulturformen wurden für
Elitegruppen einer Gesellschaft anerkannt. Doch es gibt sie auch bei der Masse
des Volkes. Dabei wird der Begriff "Volk" nicht als eine graue Masse betrachtet,
sondern als eine in sich geschichtete Sozialstruktur.
Ungeachtet der unterschiedlichen Ansprüche jeder Gruppe, gibt es Interessen
und Lebensbedingungen die allen gemeinsam sind, wie ökonomische Zwänge
und politische Situationen.
Die Lebensbedingungen werden in Festen Gebräuchen und Ritualen kodifiziert,
wobei die Gesellschaftsmitglieder bewusst oder unbewusst die Symbolik
und die darin enthaltenen Wertvorstellungen nicht nur kennen, sondern auch
anerkennen. Die Obrigkeiten müssen diese Gebräuche anerkennen, um nicht
in die Gefahr zu laufen, gefährliche Volksaufstände hervor zu rufen.
Die Traditionen dienen auch zum Machterhalt!
Doch sie können auch unter gewissen Bedingungen gegen die Obrigkeiten
verwendet werden. Ein typischer Brauch war der sogenannte "Charivari",
bei dem in der Nacht die Jugendlichen des Dorfes herumzogen und mit Töpfen,
Kochlöffeln und Musikinstrumenten sehr viel Lärm machten und dabei ein
Katzengejaule anstimmten. Die Beteiligten sind auch meist verkleidet.
Dabei zogen sie vor Häusern, in denen unliebsame Personen wohnten,
streitende Eheleute, oder Machtinhaber welche sich dem Volk gegenüber
schlecht verhielten. Die Nacht garantierte dabei den Beteiligten Anonymität,
und nachdem alles friedlich verlief, konnten die Autoritäten legal nicht dagegen
unternehmen. Aber die Betroffenen waren trotzdem gewarnt.
In einem Fall wollte der Staat trotz einem sehr schlechten Erntejahr von den Bauern
den Zehnten verlangen. Als die Steuereintreiber ins Dorf kamen, waren alle Bauern
abwesend, d.h., hinter Büschen versteckt. Die Jugendlichen und Frauen jedoch
veranstalteten einen "Charivari", wobei die Frauen mit Stöcken auf die Steuereintreiber
losgingen und sie vertrieben. Die Staatselite hatte eine Niederlage erlitten.
Besonders peinlich war es, dass es die verachteten Frauen waren, von denen
die Steuermänner vertrieben wurden! Das wurde als schimpfliche Beleidigung angesehen!
Die Obrigkeiten müssen bei Gebräuchen auf die normalen Machtmittel verzichten,
damit sie nicht vollends als Terrororganisation gegen das Volk angesehen werden,
weil sie normalerweise als Retter und Beschützer der Leute angesehen
werden wollen. Die Symbolik des Brauches unterläuft hier den Machtapparat.
Die Charivaris können mit dem Karneval von heute verglichen werden.
Die Verkleidungen und der Tausch von Rollen führen nicht aus dem Alltag hinaus,
sondern im Gegenteil, sie beziehen sich direkt dazu! Die Machtkritik, die in diesen
Umzügen enthalten war, und immer noch ist, führte dazu, dass am 1. Januar 1809
die "Königliche Verordnung von Fastnachtslustbarkeiten in Württemberg"
verkündet wurde, welche Fastnachtsumzüge und Verkleiden verbot.
Auch Narrenzünfte wurden verboten. Die Verarschung der Machthabenden
in der Verkleidung des Narren war für die Obrigkeit unerträglich.
Durch den Karneval wurde die einseitige Information der Machtinhaber aufgebrochen,
das Schweigen des Volkes hatte ein Ende, die Leute starteten zur Kommunikation;>
sie zeigten der Machtelite was sie von ihr hielten.
Hier wird deutlich was der Autor zeigen wollte, dass ursprüngliche Traditionen,
wie hier der Karneval, dessen Sinn anfangs ein religiöser war, sich zwar wenig
in der Form änderte, aber durch den Kontext im Inhalt.
Ein anderes Beispiel sind die kirchlichen Prozessionszüge. Sie wurden im
ausgehenden 18. Jh. und 19. Jh. zunehmend von Arbeitern als Protestmärsche
gegen die Industriebosse und ihre Sozialpolitik verwendet.
Die Polizeireporte dieser Zeit schreiben auch von "Volkszügen", da die Arbeiter
formiert auftraten, jede Sparte mit ihren Fahnen und Symbolen, wie zuvor die
Zünfte, Handwerker und Gesellenformationen.
Ein Grund für die Zunahme an Protesten in der arbeitenden Bevölkerung
war die Strategie des Machtblockes zur Disziplinierung und Normierung
der Arbeit und des Verhaltens in der Gesellschaft.
Die Industrie legte keinen Wert auf das Erholungsbedürfnis der ArbeiterInnen,
und so wurden z.B. in Köln am Ende des 18.Jh. die jährlichen Feiertage
von vorher 35 auf 17 verkürzt! Volksfeste wurden von den Obrigkeiten
grundsätzlich als Gefahrenquelle für ihren Machtanspruch angesehen,
welche "die öffentliche Ordnung stören" ! Dazu zählten die Machtinhaber
auch noch Wirtshäuser, Spinnstuben, Kirchweihfeste, Maibaumaufrichten,
Karneval und die Charivaris.
(das war nun das letzte Kapitel)
Nicole
Titel: Ritual und Fest. Das Volk auf der Straße.
Untertitel: Figurationen und Funktionen populärer Öffentlichkeit
Zwischen Frühneuzeit und Moderne.
Von Wolfgang Kaschuba.
Die sogenannte "Volkskultur" wird im Gegensatz zur "Elitekultur" gesehen.
Während die Moden der Elite, wie der Name schon sagt, auf häufige Veränderung
angesehen sind, werden die Traditionen der Volkskultur meist als unveränderliche
Größen angesehen.
Nach aussen hin mag das auch so scheinen. Aber wenn man die Form in den
Bezug zum Kontext untersucht, so kann man zeigen, dass das Volk durchaus fähig ist,
alte Gewohnheiten durch den Bezug auf neue Kontexte mit nfrischem Inhalt zu füllen.
Das heißt, kulturelle Formen werden mit der Zeit durch neue Inhalte bereichert
und verändert. Es ist sogar so, wenn diese Veränderung nicht stattfindet, dann
stirbt diese Tradition aus!
Die aktive Umarbeitung der täglichen Erfahrungen in Kulturformen wurden für
Elitegruppen einer Gesellschaft anerkannt. Doch es gibt sie auch bei der Masse
des Volkes. Dabei wird der Begriff "Volk" nicht als eine graue Masse betrachtet,
sondern als eine in sich geschichtete Sozialstruktur.
Ungeachtet der unterschiedlichen Ansprüche jeder Gruppe, gibt es Interessen
und Lebensbedingungen die allen gemeinsam sind, wie ökonomische Zwänge
und politische Situationen.
Die Lebensbedingungen werden in Festen Gebräuchen und Ritualen kodifiziert,
wobei die Gesellschaftsmitglieder bewusst oder unbewusst die Symbolik
und die darin enthaltenen Wertvorstellungen nicht nur kennen, sondern auch
anerkennen. Die Obrigkeiten müssen diese Gebräuche anerkennen, um nicht
in die Gefahr zu laufen, gefährliche Volksaufstände hervor zu rufen.
Die Traditionen dienen auch zum Machterhalt!
Doch sie können auch unter gewissen Bedingungen gegen die Obrigkeiten
verwendet werden. Ein typischer Brauch war der sogenannte "Charivari",
bei dem in der Nacht die Jugendlichen des Dorfes herumzogen und mit Töpfen,
Kochlöffeln und Musikinstrumenten sehr viel Lärm machten und dabei ein
Katzengejaule anstimmten. Die Beteiligten sind auch meist verkleidet.
Dabei zogen sie vor Häusern, in denen unliebsame Personen wohnten,
streitende Eheleute, oder Machtinhaber welche sich dem Volk gegenüber
schlecht verhielten. Die Nacht garantierte dabei den Beteiligten Anonymität,
und nachdem alles friedlich verlief, konnten die Autoritäten legal nicht dagegen
unternehmen. Aber die Betroffenen waren trotzdem gewarnt.
In einem Fall wollte der Staat trotz einem sehr schlechten Erntejahr von den Bauern
den Zehnten verlangen. Als die Steuereintreiber ins Dorf kamen, waren alle Bauern
abwesend, d.h., hinter Büschen versteckt. Die Jugendlichen und Frauen jedoch
veranstalteten einen "Charivari", wobei die Frauen mit Stöcken auf die Steuereintreiber
losgingen und sie vertrieben. Die Staatselite hatte eine Niederlage erlitten.
Besonders peinlich war es, dass es die verachteten Frauen waren, von denen
die Steuermänner vertrieben wurden! Das wurde als schimpfliche Beleidigung angesehen!
Die Obrigkeiten müssen bei Gebräuchen auf die normalen Machtmittel verzichten,
damit sie nicht vollends als Terrororganisation gegen das Volk angesehen werden,
weil sie normalerweise als Retter und Beschützer der Leute angesehen
werden wollen. Die Symbolik des Brauches unterläuft hier den Machtapparat.
Die Charivaris können mit dem Karneval von heute verglichen werden.
Die Verkleidungen und der Tausch von Rollen führen nicht aus dem Alltag hinaus,
sondern im Gegenteil, sie beziehen sich direkt dazu! Die Machtkritik, die in diesen
Umzügen enthalten war, und immer noch ist, führte dazu, dass am 1. Januar 1809
die "Königliche Verordnung von Fastnachtslustbarkeiten in Württemberg"
verkündet wurde, welche Fastnachtsumzüge und Verkleiden verbot.
Auch Narrenzünfte wurden verboten. Die Verarschung der Machthabenden
in der Verkleidung des Narren war für die Obrigkeit unerträglich.
Durch den Karneval wurde die einseitige Information der Machtinhaber aufgebrochen,
das Schweigen des Volkes hatte ein Ende, die Leute starteten zur Kommunikation;>
sie zeigten der Machtelite was sie von ihr hielten.
Hier wird deutlich was der Autor zeigen wollte, dass ursprüngliche Traditionen,
wie hier der Karneval, dessen Sinn anfangs ein religiöser war, sich zwar wenig
in der Form änderte, aber durch den Kontext im Inhalt.
Ein anderes Beispiel sind die kirchlichen Prozessionszüge. Sie wurden im
ausgehenden 18. Jh. und 19. Jh. zunehmend von Arbeitern als Protestmärsche
gegen die Industriebosse und ihre Sozialpolitik verwendet.
Die Polizeireporte dieser Zeit schreiben auch von "Volkszügen", da die Arbeiter
formiert auftraten, jede Sparte mit ihren Fahnen und Symbolen, wie zuvor die
Zünfte, Handwerker und Gesellenformationen.
Ein Grund für die Zunahme an Protesten in der arbeitenden Bevölkerung
war die Strategie des Machtblockes zur Disziplinierung und Normierung
der Arbeit und des Verhaltens in der Gesellschaft.
Die Industrie legte keinen Wert auf das Erholungsbedürfnis der ArbeiterInnen,
und so wurden z.B. in Köln am Ende des 18.Jh. die jährlichen Feiertage
von vorher 35 auf 17 verkürzt! Volksfeste wurden von den Obrigkeiten
grundsätzlich als Gefahrenquelle für ihren Machtanspruch angesehen,
welche "die öffentliche Ordnung stören" ! Dazu zählten die Machtinhaber
auch noch Wirtshäuser, Spinnstuben, Kirchweihfeste, Maibaumaufrichten,
Karneval und die Charivaris.
(das war nun das letzte Kapitel)
Nicole
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Ich bin froh dass du deine Skepsis überwunden hast Nicole, ich habe deine Kapitelzusammenfassungen sehr genossen, vielen Dank!nicole6 hat geschrieben:Es ist nun das erste Mal, dass ich den Inhalt eines Buches
so ausführlich beschreibe. Ich war anfangs skeptisch, ob
der lange Text überhaupt gelesen wird, ...
Liebe Grüße, Aoife
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'I know kung fu, karate, and 37 other dangerous words'
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RE: Dynamik der Tradition
Wenn das so ist, dass von euch auch längere Ausführungen
"ertragen" werden, dann werde ich nochmals auf das Buch von
Peter de Rosa zurück kommen. Ich stellte hier im Forum schon
eine sehr kurze Zusammenfassung ein.
Da in seinem Buch aber sehr viel Material zum Thema Sex,
Ehe, und Sexarbeit zu finden ist, das ich in anderen Büchern
noch nie gelesen habe, sollte ich eigentlich noch einmal darauf
zurückkommen.
Nicole
"ertragen" werden, dann werde ich nochmals auf das Buch von
Peter de Rosa zurück kommen. Ich stellte hier im Forum schon
eine sehr kurze Zusammenfassung ein.
Da in seinem Buch aber sehr viel Material zum Thema Sex,
Ehe, und Sexarbeit zu finden ist, das ich in anderen Büchern
noch nie gelesen habe, sollte ich eigentlich noch einmal darauf
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RE: Dynamik der Tradition
@ nicole6
vielen Dank
und keinerlei Problem, wenn Texte länger sind.
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RE: Dynamik der Tradition
@Nicole,
was heißt denn hier "ertragen". Deine Ausführungen sind immer interessant und lesenswert.
Gruß Jupiter
was heißt denn hier "ertragen". Deine Ausführungen sind immer interessant und lesenswert.
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Wenn du fühlst, dass in deinem Herzen etwas fehlt, dann kannst du, auch wenn du im Luxus lebst, nicht glücklich sein.
(Tenzin Gyatso, 14. Dalai Lama)
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caro Jupiter,
ich denke, wenn etwas interessant ist, dann sind es nicht meine
Ausführungen, sondern die Inhalte der Bücher über die ich
hier berichte! Es scheint nun so, dass gewisse Inhalte die
mich interessieren, anscheinend auch für euch interessant sind!
Für mich ist das gut so. Du weist auch auch selbst aus eigener
Erfahrung, dass die Gewichtung und die Hierarchie der
Interessen bei Personen sehr verschieden sein können,
selbst wenn sie der gleichen Sozialgruppe angehören.
Und diese Gewichtung verschiebt sich auch mit dem Alter bei
der gleichen Person.
(Man nennt das dann auch "erwachsen werden" )
Nicole
ich denke, wenn etwas interessant ist, dann sind es nicht meine
Ausführungen, sondern die Inhalte der Bücher über die ich
hier berichte! Es scheint nun so, dass gewisse Inhalte die
mich interessieren, anscheinend auch für euch interessant sind!
Für mich ist das gut so. Du weist auch auch selbst aus eigener
Erfahrung, dass die Gewichtung und die Hierarchie der
Interessen bei Personen sehr verschieden sein können,
selbst wenn sie der gleichen Sozialgruppe angehören.
Und diese Gewichtung verschiebt sich auch mit dem Alter bei
der gleichen Person.
(Man nennt das dann auch "erwachsen werden" )
Nicole