"Schamlos? Sexualmoral im Wandel"

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Jason
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"Schamlos? Sexualmoral im Wandel"

Beitrag von Jason »

Liebe in Zeiten der Choleriker

Wer die Hände in den Schoß legt, muss nicht untätig sein: Eine Ausstellung in Leipzig befasst sich mit Sex und Moral. Ein formidabler Aufreger - damals wie heute.

Leipzig. Die gute Nachricht zuerst: Der Glaube an die große Liebe ist ungebrochen. "Sexuelle Verwahrlosung unter Jugendlichen ist ein Märchen", sagt Professor Kurt Starke - und die Balkendiagramme hinter ihm sagen das auch. Starke - in Rochlitz zur Schule gegangen und einer der renommiertesten Sexualwissenschaftler Deutschlands - spricht zur Eröffnung der neuen Ausstellung im Zeitgeschichtlichen Forum. "Schamlos? Sexualmoral im Wandel" heißt die, und dass Heranwachsende auch im Zeitalter ständig verfügbarer Pornografie Sex nicht ohne Liebe denken, sorgt für Erstaunen beim Publikum. Das ist zum größten Teil jenseits der 50, kichert bei Worten wie "Schamhaarrasur" aber wie eine Schulklasse, die ein Kondom über eine Banane rollen soll. Das ist die schlechte Nachricht: Unverkrampft über Sex sprechen - das klappt auch 60 Jahre nach Erscheinen des Kinsey-Reports nur bedingt.

Mondos und Muschi-Ohrringe

Umso wichtiger sind ambitionierte Schauen wie die in Leipzig: Einen Überblick über die Entwicklung von Sexualmoral und -erziehung in Deutschland soll sie geben. Von Mondos bis zu Muschi-Ohrringen gibt es allerlei Skurriles aus dem Geschlechtsleben der Deutschen zu bestaunen, in Räumlichkeiten, die mit Neonleuchten und Vorhängen an den Erwachsenenbereich einer Videothek erinnern. Wer Nackedeis erwartet, wird jedoch enttäuscht: Über die nüchterne Kopulationsanleitung in DDR-Aufklärungslektüre geht die Zeigefreudigkeit selten hinaus. Selbst in dem eigens der käuflichen Liebe gewidmeten Bereich dominiert das Anschauungsmaterial: Gummihandschuhe und Massageöl im 5-Liter-Kanister lassen wenig Raum für Romantik. 14,6 Milliarden Euro werden in Deutschland im Jahr mit Prostitution umgesetzt - fast so viel wie durch das deutsche Tankstellennetzwerk.

Dazwischen ist immer wieder die Meinung des Besuchers gefragt. Prostitution verbieten? Wie sind Sie aufgeklärt worden? Was verstehen Sie unter Gleichberechtigung? Debatten nicht nur abbilden, sondern führen, das will die Ausstellung. Schließlich ist das Intimleben der Deutschen schon immer gern öffentlich diskutiert worden. Ob nun der Kampf gegen "Schund und Schmutz" in den 1950er-Jahren oder der Streit um die Reform des Abtreibungsparagraphen 218 in den 1970er Jahren - in der Vergangenheit, so der Eindruck, ging es weniger darum, individuelle Antworten auf die Frage zu finden, wie wir leben und lieben wollen, sondern um gesellschaftliche Deutungshoheit. Da unterschieden sich Ost und West nur unwesentlich. So waren in der vermeintlich unverklemmteren DDR Prostitution und Pornografie verboten, ein "sauberes, anständiges" Leben oberstes Gebot. Vorehelicher Sex ging in Ordnung, solange er irgendwann tatsächlich in eine Ehe mündete. Heranwachsende waren hüben wie drüben verwirrt, das dokumentieren vergilbte Seelsorgeseiten: In der "Jungen Welt" zweifelt Ulrike: "Bin ich frigide?", in der "Bravo" gesteht Nicole: "Ich liebe Rummenigge."

Nein, "schamlos" ist diese Ausstellung sicher nicht, beschämend schon, etwa, wenn sich zeigt, wie alltagstauglich Sexismus immer noch ist: Da bewerben Fahrschulen ihr "pralles Angebot" mit einem Frauenarsch in Hotpants. Da zeigt die Junge Union Wittmund auf einem Wahlplakat eine Männerhand, die einer Frau ins Höschen grabscht: "Wir gehen tiefer." Tiefer sinken geht ja auch nicht. Und plötzlich weiß man wieder, warum eine Frau wie Alice Schwarzer ihre eigene Hall of Fame verdient hat: Zu sehen ist in Leipzig das "Stern"-Cover von 1983 mit dem Titel "Frauen sprechen über ihre Brüste". Dieser Form des Enthüllungsjournalismus setzte die feministische Zeitschrift "Emma" ihre eigene Version entgegen: "Männer sprechen über ihr Glied", dazu Bilder von männlichen Geschlechtsteilen, die - weniger gut ausgeleuchtet - ein wenig an radioaktives Gemüse erinnern. "Ist das eigentlich ne Lesbe, die Schwarzer?", fragt da ein Besucher im Vorbeigehen. Selbst wenn man gewillt ist, den abfälligen Tonfall zu überhören, bleibt die Frage: Ist das wichtig?

In Ost wie West jedenfalls tat man sich lange schwer mit Homosexualität. Zwar hatten Schwule und Lesben in der DDR auf dem Papier schon seit 1968 mehr Rechte als in der Bundesrepublik, nicht aber auf der Straße. Wer sich offen zur gleichgeschlechtlichen Liebe bekannte, musste mit Anfeindungen rechnen. Als sich in der "Lindenstraße" 1987 erstmals zwei Männer küssten, ließ Zuschauerpost nicht lange auf sich warten. Von "Mitleid" ist da die Rede und "unendlichem Ekel". Aufschlussreiches aus der Asservatenkammer deutscher Vorabendserien.

Wenn die bösen Buben locken

Was das angeht trägt "Schamlos?" tatsächlich aufklärerische Züge: Bloß weil die Bewohner der Kommune I beim Abwasch wie beim Sex das Rotationsprinzip bevorzugten und DDR-Bürger gerne unbekleidet in den Ostseedünen lagen, muss das noch lange nicht die Revolution bedeuten. Es ist der große Verdienst der Ausstellung, dass sie nicht nur einen ironischen Blick zurück, sondern auch die Frage aufwirft: Sind wir heute wirklich so viel weiter? Noch immer kollidieren staatliche und private Moralvorstellungen, etwa, wenn besorgte Eltern durch Dresden marschieren, um gegen die "Frühsexualisierung" von Schulkindern zu demonstrieren. Aufklärung ja, aber später und mit Fokus auf das "Normale" bitteschön. Da gibt es Eltern, die glauben, ihr Sohn könne schwul "werden", wenn er im Unterricht mit Details zur Homosexualität in Berührung kommt. Und wir lernen, dass Geschichte eben nicht geradlinig verläuft.

In Leipzig ist das eindrücklichste der insgesamt 900 Exponate ein besticktes Kissen: "Wenn dich die bösen Buben locken, bleib zu Haus und stopfe Socken", steht darauf. Das wird Kurt Starke nicht gemeint haben, als er von der Renaissance traditioneller Werte sprach. Die große Liebe lernt schließlich nicht kennen, wer in der Stube hockt.

Die Ausstellung "Schamlos? Sexualmoral im Wandel" ist noch bis zum 4. April 2015 im Zeitgeschichtlichen Forum in Leipzig zu sehen. Der Eintritt ist frei. www.hdg.de

erschienen am 19.11.2014 (Von Ulrike Nimz)

Quelle: http://www.freiepresse.de/NACHRICHTEN/K ... 041231.php

http://www.hdg.de/news-details/schamlos ... m-leipzig/
> ich lernte Frauen zu lieben und zu hassen, aber nie sie zu verstehen <