Neues Buch von Emma Becker: "La Maison" - eine Rezension

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friederike
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Neues Buch von Emma Becker: "La Maison" - eine Rezension

Beitrag von friederike »

Emma Becker ist eine junge französische Autorin, Jahrgang 1988, die schon mit zwei "autofiktionalen" Romanen Erfolge hatte. Einen davon, "Mr." (in deutsch "Monsieur"), stark autobiographisch, habe ich vor längerer Zeit von einem Kunden geschenkt bekommen. Es schildert eine Affäre, die sie als 18jährige mit einem 47jährigen Freund ihres Vaters gehabt hat, einem wohlbestallten, aber alterndern Chirurg. Der Kunde hat sich genau an dieser Konstellation erregt: älterer. überlegener Mann und blutjunges Mädchen. Zu Ende gelesen habe ich dieses Buch nicht, allerdings lag dies eben nicht an dem Buch, sondern an dieser Person des Schenkers, der mich damals ziemlich abgestoßen hat. Nun also ist für September im Rowohlt-Verlag  "La Maison" angekündigt, "Das Haus" (offenbar wird der französische Titel in der deutschen Ausgabe beibehalten und nicht übersetzt), ihr dritter Roman, der in Frankreich schon ein großer Erfolg ist. "Emma Becker" ist übrigens ein "nom de plume", ein Künstlername, den sie von einer deutschen Großmutter entliehen hat. Sie hat ein Kind aus einer zerbrochenen Beziehung in Paris und lebt in Berlin.

Um es gleich zu sagen: "La Maison" ist ein wunderbares Buch, und auch ein wichtiges. Es gibt nicht viele Bücher über Prostitution, überhaupt über Sexualität und über Sex, die wirklich etwas zu sagen haben, etwas ausdrücken, unter die Haut gehen und die Akkorde zum Klingen bringen. Es ist sehr schwierig, über Sex zu schreiben, und nur sehr wenige Autoren und Autorinnen können es, und das gilt natürlich erst recht, wenn es über Prostitution geht. In der Mehrzahl der Fälle misslingt es zum peinlichen, voyeuristischen, sabbernden Anhäufen von "pikanten" Histörchen, Aneinanderreihen von angeblich abseitigen Freierwünschen und dergleichen mehr. Große Namen wie die Klassiker David Herbert Lawrence, Alberto Moravia, Vladimir Nabokov und Michel Houllebecq, die intensive Isabelle Fortier (Nelly Arcan), die Französinnen wie Christine Angot und Virginie Despentes haben gezeigt, dass man Sex literarisch schildern kann. Auch Cathérine Millet zähle ich zu dieser Klasse, deren luzide Schilderung einer Partouze, eines Gangbangs an einem heißen Sommertag am Waldrand sich einprägt (und auch ihre amüsante Schilderung ihres gescheiterten Einstiegs in die Prostitution). Es gibt sicher noch mehr Autoren (ich habe etwa den in einer eigenen Kategorie spielenden Marquis de S. ausgelassen), aber es sind nicht viele. Emma Becker hat sich mit "La Maison" einen Platz in diesem kleinen Kreis erobert.  

In "La Maison" erzählt Emma Becker von ihrer Zeit als Sexarbeiterin in zwei gehobenen Bordellen in Berlin, die als "La Manège" und "La Maison" vorgestellt werden. Im Juni 2014 fängt sie im "Manège" an, in der Schlüterstraße im charmanten Viertel Charlottenburg. Bald wechselt sie in das "La Maison". Sie nennt sich "Justine", nach der berühmten Romanfigur des Marqzus de Sade, bei dem Juliette die tugendhafte Schwester ist, die die entsetzlichsten Leiden erfährt, und Justine die wilde Hure, die mit wunderbarem Aufstieg belohnt wird. Zweieinhalb Jahre bleibt Emma Sexarbeiterin. Der Roman, wenn man das Buch so nennen möchte, stellt einzelne Episoden vor, Schlaglichter auf Erlebnisse und Erlebtes, Reflexionen über die Erfahrungen und Erinnerungen, die sie mitgenommen hat. Prostitution ist für eine Frau eine sehr tiefe Erfahrung, sie geht unter die Haut, sie will erlebt, verarbeitet, erinnert - und erzählt werden. Es ist ein Glücksfall, wenn es einer, die es erlebt hat, gelingt, diese Erfahrung so zu erzählen, dass es auch den Lesenden verständlich, erfahrbar wird und unter die Haut geht. Da ist die Episode mit dem armen Teufel, den wir alle kennen, dem Typ, den die Frauen einfach nicht wollen (Houllebecq hat diesen Typen auch eindringlich geschildert), der keine Frau ins Bett bekommt und schon gar nicht die Frau, von der er träumt, der vollständig frustrierte Typ, den unsere Feminist*Innen so gerne kriminalisieren wollen. Da ist die Episode von der Frau, die nach drei Jahren in der Sexarbeit zum ersten Mal wieder mit einem Mann schläft, den sie sich ausgesucht hat - wieder keine Beziehung, aber eben von ihr auf irgendeiner Plattform ausgewählt. Und noch viele andere mehr. All diese Geschichten geben Einblick und Verständnis davon, was Prostitution bedeutet, wie man sie erlebt, wie man sie liebt, aber auch erleidet. Und man versteht auch die Schönheit der Prostitution, man versteht, was Frauen daran anzieht, warum Frauen das machen und dabei bleiben trotz aller Hindernisse, Schranken und Hässlichkeiten, die die Gesellschaft aufbaut. Emma Becker kontrastiert ihre Erlebniswelt mit der französischen Situation des Prostitutionsverbots, sie ist eine konsequente Befürworterin der Liberalität und des deutschen Prostitutionsgesetzes von 2002.

Huren lügen, und auch Emma Becker. Angeblich hat sie im Bordell angefangen, weil ein Freund oder Bekannter sie herausgefordert hat, sie könnte das nicht. Angeblich hat sie zweieinhalb Jahre Sexarbeit gemacht, weil sie für dieses Buch, diesen Roman, wie sie es nennt, recherchieren wollte. Es kann sein, dass es Menschen gibt, die das glauben, wie es anscheinend für alles Menschen gibt, die es für bare Münze nehmen. Dabei schildert sie sehr wohl, wie sie auf Prostitution aufmerksam wird, wie sie die Huren stehen sieht, wie die Gedanken in ihr zu kreisen beginnen. Sie wird angezogen wie mit Magneten, und, als der Schritt getan ist, ist sie gerne Hure, das ist deutlich zu sehen. Warum braucht sie diese merkwürdige "Story" darumherum? Sie könnte uns offen sagen, dass sie Hure geworden ist, weil sie eine war. Jeder versteht, dass eine junge Autorin, die gerade ihre ersten schmalen Bücher veröffentlicht hat, davon noch nicht leben kann. Jede von uns versteht, dass sie von der Prostitution angezogen wird. Aber nun gut, das sind vielleicht Nuancen. Das Buch selbst ist ehrlich und es hilft uns allen. Auch der deutschen Ausgabe ist der Erfolg zu wünschen - nicht als noch ein Schmuddelbuch, sondern als ein Stück Literatur über Männer, über Frauen, und darüber. wie sie leben. 

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Kasharius
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Re: Neues Buch von Emma Becker: "La Maison" - eine Rezension

Beitrag von Kasharius »

Liebe @Friederike

Danke schön. Und an Dir ist eine tolle Rezensentin verlorengegangen. Aber die Abolis werden wieder schäumen von wegen Verharmlosung des (angeblichen) Elends...

Kasharius grüßt

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friederike
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Re: Neues Buch von Emma Becker: "La Maison" - eine Rezension

Beitrag von friederike »

Die Abolitionist*Innen haben es leicht. Sie leben in ihrer eigenen Traumwelt und lassen äußere Erkenntnisse nur durch den Filter, wenn sie in deren Weltbild passen.

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Kasharius
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Re: Neues Buch von Emma Becker: "La Maison" - eine Rezension

Beitrag von Kasharius »

@Friederike
:023

Kasharius grüßt

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deernhh
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Re: Neues Buch von Emma Becker: "La Maison" - eine Rezension

Beitrag von deernhh »

Liebe friederike,

ich danke Dir sehr für Deine tolle Rezension!
Sehr ausführlich und sehr gut geschrieben!
Danke sehr!

Liebe Grüße von Deiner Kollegin deernhh 🙂

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Veraguas
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Re: Neues Buch von Emma Becker: "La Maison" - eine Rezension

Beitrag von Veraguas »

Welches Problem auch immer in der Gesellschaft besteht-
der Staat weiss eine völlig irre Problemlösung die niemandem nützt, aber Arbeitsplätze im Beamtenapparat schafft. H.S.

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Morpheus
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Re: Neues Buch von Emma Becker: "La Maison" - eine Rezension

Beitrag von Morpheus »

Tolle Rezension... Danke!
Viele Leute hinterlassen Spuren, nur wenige Eindrücke!

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lust4fun
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Re: Neues Buch von Emma Becker: "La Maison" - eine Rezension

Beitrag von lust4fun »

Welt-Online holt ein Interview von 2020 wieder hervor. Immer noch gut!
https://archive.is/2023.08.15-032840/ht ... achen.html