TAZ.de; Sexarbeit zur Belebung strukturschwacher Regionen

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Leu
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TAZ.de; Sexarbeit zur Belebung strukturschwacher Regionen

Beitrag von Leu »

http://taz.de/1/wahrheit/artikel/1/blowjob-to-go/

die wahrheit
Blowjob to go

Die Buhgebiete der Nation: Strukturschwache Regionen sind für die Gesellschaft das, was bei Männern die Hinterkopfhalbglatze ist. VON ROBERT NIEMANN
(Wenn sogar die Ziegen und Schafe weggezogen sind, liegt die männliche Sexualität am Boden. Foto: reuters)

Strukturschwache Regionen sind die Hartz-IV-Bezieher unter den Regionen - es geht ihnen schlecht, aber immer noch besser, als es ihnen eigentlich gehen dürfte.

In strukturschwachen Regionen ziehen immer zuerst die jungen Frauen weg. Das ließe sich noch verschmerzen. Doch dann folgen die Ziegen und Schafe. Danach liegt die Sexualität der männlichen Restbevölkerung endgültig am Boden, und auch die Männer gehen. Zurück bleiben die Alten, die Deppen und die Bürgermeister, die sich als Dagegenstemmer unermüdlich engagieren, für den Erhalt des Papierkorbs vor dem früheren Dorfkonsum zum Beispiel oder gegen die Ansiedlung von Wolfsrudeln.

Strukturschwache Regionen sind Heimat für Dinge wie das erste Zierkürbis-Museum Deutschlands, eine Reißzweckenmanufaktur oder die Außenstelle eines Bundesamts mit ungeklärtem Aufgabenbereich. In Reiseführern findet gelegentlich auch das Elternhaus Erwähnung von jemandem, der irgendwann einmal als Bremser Sechster bei einer Vierer-Bob-Junioren-Europameisterschaft geworden ist oder im Wald einen besonders großen Pilz gefunden hat. Landwirtschaftliche Flugzeuge lassen über strukturschwachen Regionen gelegentlich nicht mehr benötigte Herbizide ab; die Proteste halten sich, da von der Grundstimmung "Ist ja eh egal" getragen, in Grenzen.

In strukturschwachen Regionen stehen am Sonntag zur besten Gottesdienstzeit noch genau drei Fahrzeuge vor der Kirche: ein älterer Kombi des Organisten, ein Fahrrad des Pfarrers und ein Rollator für die Gemeinde. Die Bewohner leben von Transferleistungen, Flaschenpfand und davon, dass sie beim "Frauentausch" auf RTL mitmachen.

Fast immer gibts für strukturschwache Regionen ein von externen Experten erarbeitetes Entwicklungskonzept. Würde dieser Plan befolgt worden sein, so wäre manches vorpommersche 120-Seelen-Dorf längst weltweit führendes Wintersportzentrum, Ausrichter der Oscar-Preisverleihung oder Hauptsitz der Coca-Cola-Company. Missliche Umstände und inkompetente Politiker verhindern dies jedoch regelmäßig, so dass über Jahre und Jahrzehnte hinweg Fördermittel eingesetzt werden müssen. Schlauerweise aber selbstverständlich so, dass der Status als strukturschwache Region und damit die weitere Förderung nicht verloren gehen.

Als sehr praktisch hat sich auch der Umbau des Landratsbüros zur Festung, alternativ zum Lustschloss erwiesen, außerdem die Eröffnung einer Wasserskianlage, und zwar selbst dann, wenn sich im gesamten Landkreis bis auf ein paar Feuerlöschteiche mit dick Entengrütze drauf kein einziges Gewässer befindet. Hinzu kommen fast flächendeckend modernste Schützenvereinshäuser und neu gestaltete Ortszentren mit einer unverständlichen Edelstahlplastik inmitten eines Wasserspiels.

Im Bundesland Brandenburg, das überwiegend aus stillgelegten Truppenübungsplätzen besteht, werden strukturschwache Regionen erst einmal überdacht, und dann sieht man weiter. So ist Tropical Islands entstanden, eine Großraumschwimmhalle mit Tanzshow und Zikadenzirpen vom Band. Andere Bundesländer versuchen ihre strukturschwachen Landkreise an Nachbarländer zu verkaufen, oder sie siedeln dort Gewerbe an, die herkömmliche Leistungen in modernem Gewand anbieten, etwa den "Blowjob to go".

Am Ende aber hilft das alles nichts. Denn eine strukturschwache Region ist auf dem Atlas der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit das, was beim männlichen Körper die Hinterkopf-Halbglatze ist: Wenn du sie erst einmal hast, wirst du sie auch nicht wieder los.


(Sehr schön geschrieben, habe aber das Gefühl, dass aus solchen Regionen auch die SW wegziehen...)

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Ariane
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Beitrag von Ariane »

Habs heute in der Print-Ausgabe gelesen und schallend gelacht, weil als Glosse verstanden, die viel wahre Kerne enthält. Übrigens gibt es in Berlin ein Motorradmuseum am Alexanderplatz sowie Kanzleramt und Reichstag und man weiss derzeit nicht, wohin mit dem Personal. *g* Nur das mit den Ziegen und Schafen hab ich nicht verstanden.
Der Autor hat die strukturschwachen Regionen in Ostdeutschland im Visier, wahrscheinlich ist er über Berlin, Brandenburg und Sachsen-Anhalt noch nicht hinausgekommen. Es gibt andere Regionen mit ähnlichen Problemlagen, wie dem Ruhrgebiet oder auf europäischer Ebene Gegenden in Grossbritannien um Liverpool, Manchester und andere Städten herum, die um ihren industriellen Kern beraubt wurden, wo viele Nachfahren der Blue Collar Worker weiter ausharren, denn sie wissen nicht, wohin sie ziehen sollen.
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Leu
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Beitrag von Leu »

Herzlichen Glückwunsch zur Printausgabe! Ja, nach mehrmaligem Lesen ist mir auch aufgefallen, dass er explizit die ostdeutschen Gebiete meinen muss: im Gegensatz zu den anderen, europäischen Regionen geht es hier seit '94, nach einer kurzen, hoffnungsvollen Wachstumsphase stetig bergab, die Autobahnen werden permanent geflickt, weil man ja die billigere Variante bauen musste, das Verbrechen wächst (der TAZ ist auch schon aufgefallen, dass man in Thüringen kaum thüringische aber überall günstige italienische Küche hat, von echten Italienern), niemanden scheints zu interessieren und man bekommt 200 -300 km weiter weg, in einem anderen Bundesland Arbeit und ca 10-20% mehr Lohn (das ist der große Unterschied: es wird einem leicht gemacht wegzugehen).
Dann meinte er, dass die Frauen hier wegziehen, (was stimmt, denen weint auch die Presse nach, weil sie begriffen haben, was es bedeutet hat: es gibt keine Hoffnung auf Wachstum) und dass die Männer deshalb alle notgeil werden und deshalb Ziegen und Schafe vögeln, (eine Freundin von mir fand nebenbei gemerkt mal ein Gummieschaf in einem berliner Sexshop), und dass sich dann deswegen hier die Prostitution entwickeln würde.
Tatsächlich ändert sich aber das Gewand (hat er richtig erkannt): die deutschen SW ziehen weg (weshalb man schon über die die dableiben ins Grübeln kommt, (Kinder, Haus und Mann?) was illusionszerstörend wirkt) und die osteuropäischen Wanderarbeiterinnen kommen, teilweise auch die nur noch auf Durchreise und wenn sie im Westen nichts gefunden haben.
Jene sollen übrigens mit ohne Service und billigeren Preisen die Kunden verderben, was aber eher auf die Ballungsgebiete, wie auch Berlin zu.
Naja das Ruhrgebiet ect sind ähnlich, aber im Wesentlichen anders: hier harrt keiner aus. Das machts hoffnungsloser. *fg*

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Ariane
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Beitrag von Ariane »

Ich fand die Koinzidenz der Ereignisse amüsant, insbesondere, da ich die TAZ nicht abonniere, aber im Kaffeehaus alles inhaliere, was ein paar Buchstaben trägt.

Das Thema "Angleichung der Lebensverhältnisse" Ost/West ist auch ein Wahlkampf-Schlager; in der Praxis inkl. Lohnspreizung höchstens nach unten, also die Verteilung des Niedriglohn-Sektors ist gerecht verteilt (vorsicht sarkasmus!) und offenbar von staatlicher Seite erwünscht bzw. sieht es nicht danach aus, daß ernsthaft über Lohnuntergrenzen nachgedacht wird.

Es sind ja nicht nur Frauen, die wegziehen, ähnliches beobachtet man ja in allen Gegenden Europas, in ländlichen und strukturschwachen Regionen, um alte Industriekerne herum.

Es ist vor allem die Jugend, die wegzieht, auch Männer; jene, die mutig und verzweifelt genug sind und für ihr Leben eine Perspektive suchen, auch wenn viele von Haus aus keine Nomaden sind und lieber nicht ihre sozialen Bezugspunkte, Familie, Freunde aufgeben würden. So verweht es einen in alle Winde.
Ähnliches sieht man anhand der Wanderungsbewegungen im globalen Massstab.
Sexworker, auch deutsche Sexworker, sind ja nicht nur Sexworker, sondern verfolgen üblicherweise auch andere berufliche und private Perspektiven, zumeist an erster Stelle.

Die im Durchschnitt niedrigen Preise im P6 Business wie in einer Stadt wie Berlin ist ja schon ein Indiz für die verbreitete Armut und Arbeitslosigkeit.
Je besser die Qualifikation, desto höher die Mobilität, also dass man überhaupt geht; weshalb jeder Sexworker gut beraten ist, diese Tätigkeit nur als sekundäre Einnahmensquelle auszuüben bzw. sich die meiste Zeit weiterzuqualifizieren. Leider sind unsere oftmals hochgebildeten osteuropäischen Kolleginnen in Westeuropa im Nachteil; obwohl viele über einen Hochschulabschluss und Praxis verfügen (Lehrerinnen, Ingenieurinnen .....), machen die heimischen Arbeitsmärkte vor weiterer Konkurrenz dicht. Gerechtfertigt wird das ganze mit den unterschiedlichen Bildungsabschlüssen. Es ist eine Vergeudung von Potential, von Lebenszeit, von Know-How, volkswirtschaftlich betrachtet ein Armutszeugnis und politisch die blanke Katastrophe weil völlig verfehlte Steuerungspolitik der letzten 20 Jahre, ach schon weit früher hat es begonnen; menschenverachtend diese Logik, die ich bis heute nicht begriffen habe. Eine Art nationaler Protektionismus, den man sich vielleicht vor der Globalisierung noch leisten konnte.

Mir hat man früher bei Bewerbungen meist "Hochqualifikation" um die Ohren gehauen und abgewiesen, nur weil man Quer-Einstiege in andere Branchen versucht (Praxiserfahrung und Praktika in verschiedenen Bereichen war ebenfalls vorhanden, erstklassige Beurteilungen). Heisst das in diesem Land "bist du zu schlau, wirst du nicht gebraucht?" Welches Land kann sich diesen Luxus leisten und auch geringer Qualifizierte am langen Arm des Staates aushungern zu lassen?! Das ist für ein Skandal und auch ein Grund, warum viele Frauen in den Bereich Sexwork drängen; nicht nur ganz klar ökonomische Gründe, auch Resignation, da man im regulären Arbeitsmarkt kein Fuss fassen kann oder zur Selbstausbeutung verdonnert wird.

Ich glaube, ich habe von den allermeisten Kunden mehr Respekt in meinem Leben erfahren als von diesem Staat mit seinen Institutionen; insofern betrachte ich auch meine Kunden gewissermassen als meine Kumpanen, die mir mittels des Geldes ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen und die Freiheit, mich zu entwickeln. Umgekehrt danke ich es ihnen, indem ich ihnen die bestmögliche Zeit biete. Das ist ein fairer Tausch; ist zumindest meine Einstellung dazu.

Den letzten Satz lieber Leu hab ich nicht ganz verstanden bzgl. Ruhrgebiet und die letzten Bemerkungen.


Abb. Anlage Schaf; aufgenommen bei einer Stag-Party (so werden die Junggesellen-Abschiedsparties bei Engländern genannt; die weibl. Variante ist Hen-Party, beide Geschlechter feiern separat)
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Kosto
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Beitrag von Kosto »

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Ariane hat geschrieben: Nur das mit den Ziegen und Schafen hab ich nicht verstanden.




Eine seltsame Zwangsheirat soll da im Sudan stattfinden: Ein Mann soll eine Ziege heiraten. Weil er beim Sex mit ihr ertappt wurde! Außerdem soll er dem Besitzer der Ziege rund 50 Euro zahlen. Aussteuer bekommt er keine.
http://tinyurl.com/347gj9o

Leu
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Beitrag von Leu »

Die Aussteuer kann sie selbst mit Milch bezahlen. Mich wunderts, dass die Ziege nicht gesteinigt wird, immerhin wurde sie in einem islamischen Staat vergewaltigt.

Vielen Dank für das Foto Ariane. Durch die Muschel darunter kann ich die Größe abschätzen. =)
Mit "hier harrt niemand aus" meinte ich, dass das die Besonderheit der ostdeutschen Elendsgebiete ist: wer arbeitslos ist, braucht nur ein paar Hundert Kilometer wegziehen, nach Westdeutschland oder Österreich, und bekommt dort definitiv einen besser bezahlten (Saison-)arbeitsplatz.
Selbst die ostdeutschen SW ziehen hier weg. Tschechinnen und Ungarinnen machen hier nur kurz halt, auf der Durchreise quasi.
Ein ehemaliger Mitbewohner von mir, der zu den netten Leuten gehört, die in Stripbars gehen um mit den Stripperinnen zu reden... meinte jedenfalls, dass auch immer mehr von denen durch ganz Deutschland pendeln. Wenn man dann noch sieht, dass sehr viele junge Männer (Bauarbeiter hauptsächlich) auf Montage fahren, Familienväter selbst pendeln... hm dann geht 2 mal wöchentlich eine echte Völkerwanderung in Deutschland ab.
In England und dem Ruhrgebiet ist das nicht so krass. Wo sollen die Engländer auch hin?
Na, ich bin mal gespannt wie das alles weiter geht.