Machtwechsel im Milieu 18.09.2010 22:00 Uhr VOX

Berichte, Dokus, Artikel und ja: auch Talkshows zum Thema Sexarbeit werden hier diskutiert
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Ariane
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Machtwechsel im Milieu 18.09.2010 22:00 Uhr VOX

Beitrag von Ariane »

Am kommenden Samstag im TV
Machtwechsel im Milieu
Samstag, 18.09.2010 22:00 Uhr
http://www.sueddeutsche-tv.de/

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Marc of Frankfurt
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Anmerkungen zur Sexworker Freizügigkeit

Beitrag von Marc of Frankfurt »

Auch ohne die Doku schon gesehen haben zu müssen, denke ich über folgende Formulierung im Ankündigungstext nach:

> "Wenn Ana die Damen in erotischen Posen für die Kamera arrangiert, erlebt sie jedoch oft, dass die Damen gar nicht so freizügig sind, wie man denken sollte."


Wie darf man das interpretieren?

Es gibt zum Beispiel folgende Interpretationsmöglichkeiten.


1.) Sexworker machen das nicht gerne. Die meisten Sexworker sind Opfer...


2.) Die Fotographierten sind Prostituierte aber keine Pornodarsteller (nur manche sind beides, beides nennt sich zwar Sexworker aber Sexworker im engeren Sinne also Prostituierte ist eben doch nocheinmal etwas ganz spezielles...).

D.h. Sexworker i.e.S. sind bereit für Sex auf Abruf und das sogar mit einem anonymen Fremden, den sie nicht selbst gewählt haben, dafür aber gut selbst ausgewählt haben. Aber eben nur dann, wenn sie dafür angemessen gutes Geld bekommen und sie anonym und diskret hinter verschlossenen Türen ihrer Lust/Job nachgehen können.

D.h. an der Stelle, wo sie sich für den Zweck und die Jobnotwendigkeit der Werbung öffentlich machen müssen (auf Fotomaterial verewigen müssen), outing, zeigen müssen, pro-stituere, sich prostituieren müssen i.e.S., da schlägt dann auch wieder das Prostitutionsstigma voll zu. Da muß sich jede im Stigma-Management und Coming-out ungeschulte und ununterstützte Sexarbeiterin erst in die Situation eingewöhnen bzw. etwas überwinden...

Mal schaun wie die Fotographin in der Doku rüberkommt, ob man ihr zutrauen darf, diese Feinheiten und Hintergründe verstanden zu haben.


3.) Viele Menschen und selbst Prostituierte sind unsicher bei neuen ungewohnten Situationen mit unbekannten Menschen. Das betrifft im Besonderen natürlich auch auf den Bereich Sexualität zu. Viele Sexworker sind eben ganz normale d.h. also auch schüchterne Menschen, und eben nur teilweise und ganz selektiv inszeniert die in der Sexworker-Werbung zum Klischee konstruierten exhibitionistisch dauergeilen Nymphomanen. D.h. viele Sexworker sind auch bei der Arbeit immer mal wieder mit eigenen Unsicherheiten konfrontiert. Und das kann immer mal wieder zu kleinen Verletzungen führen, die sich über die Jahre ansammeln und zu Berufsfrust oder SWBO führen.

Hinzu kommt, dass selbstverständlich ein Großteil der Sexworker den Job nicht als Traumberuf und aus Berufung nachgeht, und auch nicht eine dafür angemessene und öffentlich oder vom Arbeitgeber finanzierte Ausbildung genießen durfte, sondern den Job aus Finanznot oder mangels anderer Möglichkeiten als effektive, rentable und flexible Job-Alternative ausgewählt hat...





Oder spielt der Ankündigungstext nur auf das Prostitutionsstigma und den Tabubruch Sexwork an, um Zuschauer für Einschaltquoten anzulocken?
Was meint ihr?





.
Zuletzt geändert von Marc of Frankfurt am 14.09.2010, 11:03, insgesamt 1-mal geändert.

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Beitrag von ehemaliger_User »

Es ist ein Klischee, dass SexdienstleisterInnen sehr freizügig sind. Abgeleitet von Frauen, die sich auf der Strasse anbieten.

Ausserhalb des Arbeitsplatzes haben meiner Meinung nach die DienstleisterInnen genauso ihre Schamgrenzen wie alle anderen Menschen auch - mal mehr, mal weniger. Da soll wohl dieser Text ausdrücken.
Auf Wunsch des Users umgenannter Account

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Ariane
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RE: Machtwechsel im Milieu 18.09.2010 22:00 Uhr VOX

Beitrag von Ariane »

Fotografie & Nacktheit & Vertrauen


Ich stimme euch völlig zu. Die selbstverständliche Scham nackt oder halbnackt vor einer kalten Kamera, einem fremden Fotografen zu posieren, gilt für die allermeisten Sexworker, in jedem Fall für mich. Selbst Exhibitionismus, das Ausziehen vor einer Kamera ist eingeübtes Verhalten und ist durchaus als professionelle Leistung zu betrachten. Die Schutzräume, die die Scham und Vertrauen benötigt, bieten im Regelfall keine Fotografen, insbesondere, die in der SW-Szene ihr Einkommen erzielen. Auch jene nicht, die sich professionell schimpfen. Ich spreche für mich und zig Frauen, die die gleiche Erfahrung gemacht haben.

Es geht darum, die Kontrolle über die Bilder zu haben und zu behalten z.B. während eines Shoots und muss gestehen, daß in Zusammenarbeit mit professionellen Photographen nie was rechtes herauskam, da es entweder Kunden-Trader-Angebote waren oder die Profis, zu 99% Männer, ihre besondere Note aufdrücken wollten bzw. frustriert waren, wenn man ihre Bedürfnisse nicht erfüllt hat. Dies zu einem üblicherweise hohen Honorar und unter unstimmigen Bedingungen, was den Ort, das Setting insgesamt betraf. Von den zusätzlichen Anreisekosten abgesehen.

Von den üblichen Verkrampfungen ganz zu schweigen. Ich habe mich, weil das Thema Photographie mich sehr stark beschäftigt, auch noch einmal mit der amerikanischen Photographin Meshee in Verbindung gesetzt, von der ich während der LV-Conference einen vorzüglichen Eindruck gewonnen hatte bzgl. ihres Selbstverständnisses im Umgang mit Sexworkern und der individuell abgestimmten Photographie und dem ausführlichen und individuellen Austausch über die Bedürfnisse des Escorts/Modells im Vorfeld eines Shoots. Ich habe sie um einen Auszug aus ihrem Vortrag gebeten und werde dies beizeiten übersetzt im SW-Only Bereich einstellen. Offenbar, so mein Eindruck, kennt Meshee die Szene und die Bedürfnisse von Escorts, Callgirls u.a. sehr genau, sonst würde sie kaum über so viel Einfühlungsvermögen verfügen, was ihr Selbstverständnis als professionelle Photographin im Umgang mit Escorts ausmacht.

Für sie würde ich gerne mal eine Photo-Shoot-Reise durch Europa organisieren, da ich sie kennengelernt habe und ihr Portfolio kenne und sie einschätzen kann, daß sie eben sorgsam mit ihren Kundinnen umgeht, eine Vertrauensbasis im Vorfeld aufbaut, in Verträgen alle copyright-rechtlichen Voraussetzungen zum Vorteil des Escorts selbstverständlich gewährt und darauf hinweist, das Ergebnis ihrer Arbeiten sich sehen lassen kann. Ihr Motto: "you want photography that is you and not what the photographer is looking for." DU möchtest Bilder, mit denen DU dich identifizieren kannst, die DU sind, nicht, was der Fotograf und die Konvention erstrebt. D.h. es gibt keine (unbewusste) Über- und Unterordnung im Verhältnis Modell-Fotograf und damit auch kein ausbeuterisches Verhältnis im vielschichtigen Sinne, also wie der Fotograf das Modell in SEIN Bild setzt, Individualität weitestgehend ausschaltet und es in die überwiegend homogene Bilder-Masse einwebt. (Ich stelle ihrem Statement ein ausdrückliches Meshee-Copyright hinzu. Nichtbeachtung bei inspirierten Nachahmern wird unerbittlich und rechtlich verfolgt.)

Am liebsten würde ich genau diesen Service anbieten, da es m.W. niemand anders tut; aber ich kann ja nicht alles machen und bin auch keine professionelle Fotografin mit entsprechendem Equipment. Bei Bedarf und Interesse stehe ich jedoch zur Verfügung, aus reiner Notwendigkeit.

Ihr seht, das Thema berührt mich sehr. Vielleicht ein eigenes Thema wert. :019
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Aoife
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Beitrag von Aoife »

Ach wenn es jetzt wohl wirklich ziemlich OT wird, möchte ich doch auf diesen thread verweisen: viewtopic.php?p=74818

Es gibt durchaus auch Europäer, die sich die Zeit nehmen zusammen mit dem model dessen Persönlichkeit herauszuarbeiten.

Liebe Grüße, Aoife
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