"Belle de Jour" von Jos. Kessel (Roman) & Luis

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friederike
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"Belle de Jour" von Jos. Kessel (Roman) & Luis

Beitrag von friederike »

Der Name "Belle de Jour" hat in 2009 noch einmal Aktualität gewonnen, als Dr Brooke Magnanti, eine britische Medizinerin, die anonym unter diesem Pseudonym ihr "Tagebuch eines Londoner Callgirls" als Bestseller vermarktet hatte, ihre Identität bekanntgab, um einer Enthüllung durch die Sensationspresse zuvorzukommen (siehe dazu ein eigenes Thema im Forum aus 2009). Ihr Pseudonym hatte sie dem Klassiker der Literatur von Joseph Kessel entliehen, der hier vorgestellt werden soll. Brooke war eine Leserin des Buchs von Joseph Kessel: sie hat dies anerkannt, indem sie in ihrem Tagebuch ihren Psychiater unter dem Namen des Altmeisters auftreten lässt: Joseph Kessel.

Dieses Thema hat mit dem "Tagebuch eines Londoner Callgirls" also nur am Rande zu tun.

1928 veröffentlichte der Abenteurer und Schriftsteller Joseph Kessel (1902-1979) einen kleinen Roman "Belle de Jour", der zu einem Skandalerfolg wurde. Selbstbestimmte Prostitution wurde damit zum ersten Mal als Möglichkeit vorgestellt. Joseph Kessel wurde 1962 in die äusserst prestigeträchtige Académie Francaise gewählt - trotz seines Engagements für die Prostitution.

Die 23jährige Severine Sérizy ist schön, reich und aus besten Kreisen, sie lebt in einer fashionablen Viertel von Paris in einer schicken Wohnung, hat Personal und einen gutaussehenden Ehemann, Dr. Pierre Sérizy, ein aufstrebender junger Chirurg. Ihr Tag ist gefüllt mit Tennisclub, Kaffeekränzchen, Shopping-Ausflügen und Besuchen in Schneiderateliers. Allerdings ist Pierre viel zu kultiviert, glatt und perfekt, um irgendetwas anderes als scheusslich langweilig zu sein. Die wohlanständigen Szenen im Ehebett lassen Severine kalt. Mit 23 ist sie im goldenen Käfig gefangen.

Es stellt sich heraus, dass eine Tennisfreundin heimlich in einer "maison de passe", einem Bordell arbeitet, um mit den reichen Freundinnen mithalten zu können. Wie ein gewaltiges Tier erwacht Severines Sexualität und fordert ihren Tribut, Severine kommt von dem Thema nicht mehr los. Ein zwielichtiger Freund ihres Mannes, Henri Husson, hat ihr Avancen gemacht, die sie harsch zurückgewiesen hat. Husson führt die Existenz eines reichen, alternden Playboys, den nur noch raffinierteste Stimulantien reizen können. Die Eroberung der stolzen Severine gehört dazu. Er versorgt sie mit Adressen geeigneter "maisons".

Severine arbeitet bald im Bordell von "Madame Anais", die ihr den Arbeitsnamen "Belle de Jour" aussucht - ein Wortspiel, wörtlich übersetzt "die Schöne des Tages", weil sie nur während Pierres Arbeitszeit im Hospital arbeitet, andererseits ist belle de jour das französische Wort für Buschwindröschen. Bei Madame Anais lernt Severine die rohe Sexualität kennen, nach der sie sich sehnt, und erlebt ihre ersten Höhepunkte. Sie einwickelt eine Beziehung zu dem jungen Zuhälter Marcel, die zunächst rein sexuell ist, dann aber von gegenseitigem Respekt getragen ist. Sverine ist nun glücklich, alles scheint in Ordnung, ihre Ehe mit Pierre entwickelt sich nun gut. Selbstverständlich darf Pierre nichts von ihren Ausflügen wissen.

Aber Husson erntet nun seine Erfolg. Er erscheint bei Madame Anais und deutet an, Severines Geheimnis seinem Freund Pierre zu verraten. Pervers geniesst er seine Erpressung, unter der Severine ihren Widerstand aufgibt und sich Husson im Bordell ausliefert. Um seinen Genuss weiter zu steigern, verweigert er Severine das Versprechen, zu schweigen. In höllischer Angst um ihre Liebe zu Pierre konsultiert sie Marcel, der sofort handelt und, während Severine im Fluchtauto sitzt, Husson bei einer Lunchverabredung mit Pierre mit dem Messer angreift. Unglücklich tritt Pierre dazwischen. Husson bleibt unverletzt, Pierre endet als querschnittsgelähmter Krüppel, Marcel wird gefasst. Severine wird nicht enttarnt und pflegt künftig ihren Mann. Soweit die Handlung.

Der im Stil eines konventionellen Salonromans geschriebene Roman war für die damalige Zeit ein Schock. Severine trennt Liebe und Sexualität und entscheidet sich freiwillig und sexuell selbstbestimmt, Prostituierte zu werden, und wird dabei zunächst glücklich. Ihr Verdienst ist für sie kleines Geld, sie ist weder Edel- noch Elendsprostituierte, ebensowenig übrigens wie ihre Kameradinnen bei Madame Anais.

Die Erzählung, wie Severine sich der Sexarbeit nähert, sich entscheidet und in ihrem neuen Beruf wohlfühlt, ist überzeugend und gibt im Grundmuster die Erfahrungen wieder, die offenbar auch viele Userinnen des Forums so oder ähnlich erleben. Trotzdem ist die Psychologie der Erzählung insgesamt nicht wirklich überzeugend. Dies liegt an den vielen Konzessionen, die Joseph Kessel den moralischen Vorstellungen seiner Zeit macht. Zusätzliche Umstände müssen herbei, um Severines Entscheidung zu erklären: ein Kindesmissbrauchsfall mit 8 Jahren und eine lebensbedrohliche Fiebererkrankung kurz vor ihrem Entschluss sollen das unerhörte Handeln eines doch "anständigen" Frau begründen.

Den Moralvorstellungen von 1928 ist auch geschuldet, dass ständig die eheliche Liebe zu Pierre herausgestellt wird. Diese Liebe bleibt aber blass und oberflächlich, wir erfahren nie, was sie an ihrem Mann ausser vielleicht seinem Status liebt. Deshalb glaubt man dem Autor auch nicht, dass die bourgeoise Severine aus Liebe zu ihrem Mann sich in ein Mordkomplott verwickeln lässt. Nach heutigen Massstäben würde man von dem Roman die Ehrlichkeit erwarten, dass es die Angst vor dem bürgerlichen Totalabsturz ist, die Severine soweit treibt. Mit einer solchen Wendung hätte der Roman eine ganz andere Kontur und Wucht - aber einen solchen grösseren Wurf hat sich Joseph Kessel wohl nicht zugetraut. Auch über andere schwierige Seiten der Prostitution geht der Roman unehrlich hinweg, wie Verhütung, Gesundheitsschutz und Behördenwillkür.

Trotz dieser Schwächen ist dies ein wichtiges, verdienstvolles und unbedingt empfehelnswertes Buch, das schon 1928 die freiwillige und selbstgewählte, auch positiv empfundene Prostitution als Möglichkeit beschreibt, und die sympathische Severine als Figur geschaffen hat.

Eine deutsche Ausgabe ist im Bellevue-Verlag, München erschienen. In Frankreich ist "Belle de Jour" als Taschenbuch ein Bestseller.

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friederike
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RE: Belle de Jour gibt es wirklich!!

Beitrag von friederike »

Aus irgendwelchen Gründen scheitert mein Versuch, einen eigenen Thread für das originale "Belle de Jour" zu eröffnen, und mein Beitrag landet immer wieder unter diesem Thema - wo er nicht hingehört. javascript:emoticon(':010')

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Beitrag von Zwerg »

Der Grund war meine (unfähige) Moderation...

Habs missverstanden :-( Jetzt steht der Thread alleine und ich hoffe, es passt so!

Liebe Grüße

christian

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friederike
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Beitrag von friederike »

Super! Vielen Dank :-)

Als nächstes möchte ich nämlich die Verfilmung des Buchs vorstellen - beides hat mit Brooke Magnanti eben wenig zu tun.

LG
Friederike

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Beitrag von Zwerg »

Ich werde mich zurück halten :-)

Obwohl es manchmal Spaß macht, für Verwirrung zu stiften

:smileinbox

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Marc of Frankfurt
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Beitrag von Marc of Frankfurt »

Tolle Beschreibung des Romans.

Hier ein Link zu den Verfilmungen in unserer Sammlung über Sexwork-Filmbesprechungen:
www.sexworker.at/phpBB2/viewtopic.php?p=31263#31263





Selbstouting von Sexworker Dr. Belle de Jour of Manchester:
viewtopic.php?p=69738#69738
Zuletzt geändert von Marc of Frankfurt am 13.06.2011, 15:04, insgesamt 1-mal geändert.

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Arum
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Beitrag von Arum »

          Bild
friederike hat geschrieben:
Als nächstes möchte ich nämlich die Verfilmung des Buchs vorstellen
Wunderbar!
Dieser erster Bericht macht darauf schon sehr gespannt!


LG,

Arum
Guten Abend, schöne Unbekannte!

Joachim Ringelnatz

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Beitrag von Ariane »

Kurzkritik: Severine ist eine privilegierte saturierte Bürger-Tussi, die sich aus lauter Langeweile aus ihrem goldenen Käfig begibt und auch wieder zurück findet. Meine Meinung. Aus ihrem Bewusstsein ist sie das Klischee einer Hure, und holt sich darauf einen runter, wie man es eben in feuchten Romanen so wiederfindet, aber ohne Bewusstsein. Weshalb Joseph Kessel ausgezeichnet wurde. Ich sehe hier keine moderne Frau, nur ein untervögeltes Mimös'chen. Die Rolle hat Catherine Deneuve exzellent gelöst und dargestellt.
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friederike
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Beitrag von friederike »

@ariane:

Dass Severine "untervögelt" ist, dürfte kaum strittig sein, ebensowenig wie die Schiefheit der Psychologie dieser Kunstfigur. (Der Film ist viel besser als das Buch ausnahmsweise, davon später mehr.)

Aber immerhin wird hier eine Frau dargestellt, die sich selbstbestimmt prostituiert, und das 1928. Dieser Teil des Romans ist durchaus glaubwürdig und realistisch, auch wenn Frau Schwarzer dies 80 Jahre später nicht wahrhaben will.

Lieben Gruss,
Friederike

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Beitrag von rainman »

Um aus einem ehelichen Verhältnis auszubrechen, muss man nicht unbedingt "untervögelt" sein. Das passiert auch Leuten - Männlein wie Weiblein - deren Geschlechtsleben als normal, ggf. sogar als exzellent bezeichnet werden kann. Bei seiner grundsätzlichen Abneigung gegen alles Bürgerliche kommt bei Bunuel natürlich auch die Ehe schlecht weg. Sorry, obwohl sonst ein stiller Verehrer dieses Künstlers, kann ich ihm in diesem Punkte nicht folgen. Prostitution kann nämlich niemals als alternative Lebensform (!) in der Gesellschaft existieren und die Sexarbeiterin kann und darf niemals in eine Konkurrenzsituation zur Ehefrau treten. Sonst können wir nämlich alle Bemühungen um eine Entstigmatisierung des Pay-Sex-Gewerbes von vornherein in der Pfeife rauchen.

Liebe Grüße

rainman

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Beitrag von Ariane »

@Friederike; dies ist ja auch nur meine persönliche Meinung und die formuliere ich manchmal sehr trocken. Ich kenne nur die filmische Fassung.

Rainman; ich glaube, dass es noch garnicht raus ist, ob Ehe und Treuemodell auch ein Zukunftsmodell bleiben werden, da man ja hinreichend erkennen kann, wie löchrig der Treueschwur gelebt wird. Zum anderen entscheiden auch heute immer noch viele Frauen nach sozialem Status, Vermögen etc. ihre Partnerwahl und suchen gezielt jemanden, der sie finanziell aushält und weniger jemanden, mit dem sie gemeinsame Interessen, Ideen und vor allem Liebe teilen. Das ist für mich eine Form der Prostitution; wobei ich die selbstbestimmte Sexarbeit ehrlicher finde.
Aus der Sicht der Ehefrau, und dies ist auch ein Grund der Stigmatisierung, ist die Prostituierte bereits eine Konkurrenz. Ein schöner Wortbeitrag gab es dazu zuletzt von einem Gast-Leser hier in der Strassenstrich Rubrik Felberstrasse, wenn ich mich nicht irre.
Für mich stellt sich die Frage, ob Prostitution überflüssig wäre, wenn wir in einer partnerschaftlicheren Gesellschaft leben würde, mit weniger Zwängen, Misstrauen, Kontrolle und dafür einem schuldfreieren Bewusstsein, insbesondere im Umgang mit Sexualität allgemein und der Anerkenntnis, dass der Mensch von Natur aus nicht auf Monogamie gepolt ist.

schönen gruss
ariane
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friederike
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Beitrag von friederike »

Liebe Ariane,

die "trockene Formulierung" ist natürlich ganz in Ordnung, ich finde sie auch gar nicht trocken, im Gegenteil. Deine Gedanken sind wieder spannend:

Nehmen wir "Severine" als eine reale Figur: ihr Auftritt in der Prostitution ist tatsächlich durch die völlige Abwesenheit des finanziellen Motivs charakterisiert (nicht nur dessen eingeschränkte Bedeutung). Sie ist auch nicht bereit, ihre "Parallelexistenz" als Ehefrau und Dame der Gesellschaft aufzugeben, ist also eher eine "Hobbyhure" als eine Vollprofessionelle. Aber wertet sie das in irgendeiner Weise ab? Die Feststellung, dass (manche) Frauen sich selbstbestimmt prostituieren, ist der wichtige Beitrag der "Belle de Jour"-Geschichte.

Es wäre eine Pointe, wenn wir die Dominanz des finanziellen Motivs zum Kriterium für "richtige" Prostitution machten.

Als ich im Nebenjob für mein Studium in Kneipen gekellnert habe, wäre ich nicht im Traum darauf gekommen, mich als Mitarbeiterin des Gastronomiegewerbes zu begreifen. Nun ist das anders: mein neuer Nebenjob betrifft mich geistig, seelisch und "bewusstseinsmässig". Dies trifft auf Severine ebenfalls zu, aber sie beschäftigt sich nicht in der Weise damit, dass sie sich selbst identitätsmässig als Hure versteht. Anders: würde Severine sich bei "SEXWORKER.AT" registrieren lassen? Sehr wahrscheinlich nicht. Das, glaube ich, ist Deine Kritik.

Aber Severine ist eine weitgehend literarische Figur aus 1928. Dafür ist sie vielleicht doch relativ modern.

LG,
Friederike

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Verfilmung von Luis Bunuel und Jean-Claude Carrière

Beitrag von friederike »

Hier nun die Vorstellung der Verfilmung "Belle de Jour":

Zunächst ncoh einmal die Angabe des Links zu den Verfilmungen in unserer Sammlung über Sexwork-Filmbesprechungen:
www.sexworker.at/phpBB2/viewtopic.php?p=31263#31263 ,
wie von Marc oben angegeben.

Der geniale spanische Filmregisseur Luis Bunuel (1902-1979) und sein kongenialer Drehbuchautor Jean-Claude Carrière (*1928) setzen bei ihrer Verfilmung von 1967 genau an den psychologischen Schwächen der Romanvorlage an. Zunächst wird die Mordkomplott-Story komplett entfernt und durch eine klassische Eifersuchtstat des Zuhälters Marcel ersetzt. Im Film versucht der verliebte ZUuhälter Marcel, Pierre zu erschiessen, um Severine zu gewinnen, und wird durch die Polizei auf der Flucht erschossen. Es bleibt rätselhaft offen, ob Pierre, der überlebt, ein Krüppel bleibt oder gesundet. Diese Version ist, was Severine betrifft, glaubwürdig.

Die Leistung des Films ist eine tiefe Studie der "Psychologie der Sexarbeit" - eine der sehr seltenen und bemerkenswerten Ausnahmen, dass eine Verfilmung tiefer schneidet als die Romanvorlage. Wie erklärt man in einem Film, was in den Tiefen der Persönlichkeit der Protagonistin vorgeht? Bunuel löst dies, indem er die Träume Severines in die Handlung aufnimmt und Traum und erzählte Handlung nahtlos eineinander übergehen lässt. Bunuel war ein Freund des surrealistischen Malers Salvadore Dali und liebt einprägsame, surrealistische Symbole einer Traumwirklichkeit. Man muss sich an die Übergänge zwischen Traum und Erzählung gewöhnen und daran, dass sich wie in einem Traum die tiefere Bedeutung des Dargestellten nicht unmittelbar erschliesst.

Im Film wird beispielsweise die rohe, brutale Kraft der Sexualität, der sich zu unterwerfen Severine ersehnt, von einer Stierherde dargestellt, die ihr im Traum erscheint. Severine hat eine deutliche masochistische Ader (beispielsweise träumt sie davon, von kraftvollen Kutschern angefasst zu werden). Anders als im Buch wird hier Severines Handeln psychologisch begründet und einleuchtend erklärt.

Der Zauber dieses Films liegt in der herausragenden Leistung der Schauspieler (Cathérine Deneuve als Severine, Michel Piccoli, Geneviève Page ...) und in der genauen Beobachtung der Figuren und ihrer Bewegungen. Beispielsweise erkennt, wer sich etwas auskennt, die Chefin des Bordells Madame Anais sofort wieder. Die Entwicklung Severines von der unsicheren, vor Aufregung steifen Anfängerin zur selbstsicheren Sexarbeiterin wird gezeigt. Wenn Severine ihr Geld "vorab" kassiert, wenn sie sich von einem vornehmen Kunden in einem einschlägigen Café ansprechen lässt, wenn sie einen gerne akzeptierten gast auf das Zimmer führt, wenn sie sich vor einem Gast auf dem Zimmer auszieht und bereitmacht: da wird der Akt der Prostitution so brillant mit schauspielerischen Mitteln analysiert, wie es Worte kaum nachbilden können.

1967 kam der Film mitten in den Umbruch, den die Einführung der Antibaby-Pille verursachte. Er löste eine enorme Diskussion aus, die die Rolle der Frau veränderte. Die selbstbestimmte Prostitution erschien zumindest als eine Möglichkeit der Frauen, ihre Sexualität zu leben.

Cathérine Deneuve war damals mit 23 Jahren genau so alt wie ihr Rollen-Ich und wurde mit diesem Film weltberühmt. Ihre Kleiderausstattung hatte der junge Yves Saint-Laurent entworfen, der damit weltweite Aufmerksamkeit erregte. "Belle de Jour" ist ein hocherotischer Film, der ohne eine einzige explizite Sex-Szene auskommt.

In der "Cinemathek" der Süddeutschen Zeitung ist der Film als DVD erhältlich, ebenso in der im Link angegebenen Fassung. Die deutsche Synchronisation wartet mit einem merkwürdigen Patzer auf: die Bordellbetreiberin Madame Anais spricht sich "Ana-is" aus, weil zwei Punkte über dem i (ein Trima) andeuten, dass a und i nicht verschliffen werden. Ohne das Trima wäre "ai" in der französischen Aussprache in "ä", Madame "Anä" - und das genau bringt die deutsche Fassung. Seltsam, denn die Synchronisierer hätten doch nur ins französische Original hineinhören müssen.

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Beitrag von rainman »

Bravo, Friederike!!!

Ich hoffe, Du erlaubst mir noch den einen oder anderen Nachsatz, vor allem im Hinblick auf den Surrealismus bei Bunuel. Er soll Deine wohlgelungene Interpretation etwas vertiefen, nicht berichtigen. Aber erst will ich heute noch die beiden Krimis sehen (mein Sonntagsvergnügen!).

LG rainman

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Beitrag von rainman »

So, jetzt bin ich wieder da!

Der Film "Belle de Jour" zählt für mich zu den herausragendsten Kunstwerken seiner Art, die ich je gesehen habe und das nicht nur wegen des brillant abgehandelten Themas, sondern auch wegen der raffinierten formalen Gestaltung. Ich habe ihn dreimal gesehen, bin aber davon überzeugt, dass ich beim vierten Male noch unglaublich viele Einzelheiten entdecken würde, die mir bis jetzt entgangen sind. Friederike hat ja schon darauf aufmerksam gemacht, dass Bunuel stark dem Surrealismus verpflichtet war und surreale Kunstwerke mit ihren Traumbildern sind immer spannend.

Ich empfinde die ganze Handlung, mit Ausnahme von Anfang und Schluss, durchgehend als Traum, was aber nichts heißen soll, denn bei den Surrealisten hat der Traum die gleiche Qualität wie die Wirklichkeit. Aber nur so ist für mich die Schlussszene logisch erklärbar, in der sich der blinde und gelähmte Pierre aus seinem Rollstuhl erhebt als sei außer Spesen nichts gewesen. Hier endet nämlich der Traum. Und warum? Weil Severine das so will! Nur so kann sie sich nämlich den Enthüllungsversuchen des bösen Husson wirksam entziehen! Das ist Surrealismus.

Der Preis dafür ist, dass Severine zurück muss in die öde Welt der Bürgerlichkeit (Symbol: die leere Kutsche, in der sie am Anfang mit ihrem Mann gesessen hatte), einer Welt, der sie zu entfliehen versuchte. Sie wird damit zur tragischen Figur.

Insgesamt betrachtet möchte ich sagen: In Joseph Kessels Roman lebt Severine ihren Traum, in Luis Bunuels Film träumt sie ihr Leben.

Liebe Grüße

rainman

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Beitrag von Arum »

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rainman hat geschrieben: Bunuel stark dem Surrealismus verpflichtet war
Mehr präzise ausgedrückt: Bunuel war schon seit 1929 Mitglied der surrealistischen Gruppe. Er hat den Surrealismus entscheidend mitgeprägt.

Zu Belle de jour liesse sich noch sagen, dass der Film laut seinem Biographen Francisco Aranda an drei Stellen von der französischen Filmzensur verstümmelt worden ist. So zum Beispiel in der Szene mit dem chinesischen Kunde: in der veröffentlichten Fassung werden nicht die ohnmächtige Severin und das durchblutete Handtuch aus dem Original gezeigt, was Schlimmes vermuten lässt. Bunuel war selber wütend darüber, musste die Einschnitte aber hinnehmen. Die deutsche Zensur sei da übrigens noch schlimmer gewesen. So sei der Film in seiner veröffentlichten Fassung laut Aranda 'fast trügerisch'.

Im übrigen liesse sich fragen, in wie weit Bunuel hier nun wirklich die Prostitution befürwortet: war eines seiner Hauptanliegen doch die sexuelle Heuchelei und Bigotterie des Bürgertums anzuprangern. Es würde mich daher nicht wundern, hätte er die Prostitution eher als ein Teil des Problems betrachtet und auch als solches darstellen wollen.
Heisst aber nicht, dass man den Film auch unbedingt so lesen soll. Künstlerabsicht und Rezeption eines Kunstwerks klaffen immer irgendwie aus einander.
Guten Abend, schöne Unbekannte!

Joachim Ringelnatz

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Beitrag von ehemaliger_User »

Belle de Jour

Montag, 28. Februar 2011 um 20.15 Uhr

Wiederholungen:
04.03.2011 um 02:25

ARTE

Regie: Luis Buñuel
Kamera: Sacha Vierny
Schnitt: Walter Spohr
Darsteller: Catherine Deneuve (Séverine Serizy, "Schöne des Tages), Françoise Fabian (Charlotte), Geneviève Page (Madame Anaïs), Jean Sorel (Pierre Serizy), Michel Piccoli (Henri Husson), Pierre Clémenti (Marcel)
Autor: Jean-Claude Carrière nach einem Roman von Joseph Kessel, Luis Buñuel
Produktion: Five Film Rome, Paris Film Production
Produzent: Raymond Hakim, Robert Hakim
Ton: Pierre Davous
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Beitrag von friederike »

Hast Du es angeschaut? Ich konnte nicht, ich habe gearbeitet.

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Sinamore
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Beitrag von Sinamore »

Habe "Belle de Jour" noch nicht gesehen, aber jetzt habe ich umso mehr Lust darauf. Hmm..heute gibts einen gemütlichen Filmabend:-)

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Beitrag von friederike »

Liebe Sina,

viel Vergnügen, Dein Urteil & Deine Meinung würden mich interessieren!

LG,
Friederike