"Karte und Gebiet", Roman von Michel Houellebecq

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rainman
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"Karte und Gebiet", Roman von Michel Houellebecq

Beitrag von rainman »

Wir ärgern uns oft, wenn Feinde des Sexworks ihre Pamphlete in den Medien veröffentlichen. Dass die Prostitution in Kunst und Gesellschaft aber auch bedeutende Fürsprecher hat, dafür ist der neue Roman von Michel Houellebecq "Karte und Gebiet" (Verlag Dumont, 416 Seiten, 22,90 Euro) ein gutes Beispiel. Ich zitiere nachfolgend eine kurze Passage aus einem Interview des "Kölner Stadt-Anzeigers (KStA) mit dem Autor (MH), erschienen am 12.4.2011 (S. 24):

KStA: "... In Ihrem Buch schreiben Sie nur noch über den Hintern von Afrikanerinnen beim Gebet oder den Aufpreis für Analverkehr bei Prostituierten. Neuerdings nennen Sie sie Escort Girls..."

MH: "Die gibt es in Ländern wie Frankreich, wo die Prostitution verboten ist, im Unterschied etwa zu Deutschland, wo es noch Bordelle gibt. In Paris arbeiten sie mit Telefon und Internet. Das mag ich eher. In dem Buch geht es dem Escort Girl auch gut."

KStA: "Hat die Prostitution also auch gute Seiten?"

MH: "Nur gute. Zum Glück gibt es sie." ...


Liebe Grüße, rainman

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Ariane
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Beitrag von Ariane »

Aaaaaaaaah danke Rainman für den Hinweis, bin ein grosser Houellebecq Fan, "Plattform" hatte mich schon ziemlich angeschossen, der Nachfolger (Stichwort Swingerclubs) weniger. Prostitution & Sex scheint eines seiner Lebensthemen zu sein; verstehe ich auch, es gibt kaum ein interessanteres Thema und die tollsten Leute treiben sich in dieser Szene rum. Muss das Interview gleich mal in meinem Blog erwähnen, ich hoffe es ist dir recht?! Finde es hinsichtlich der wenigen öffentlichen männlichen Fürsprecher ausserordentlich wichtig.
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rainman
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Beitrag von rainman »

Hallo Ariane,

aber sicher ist mir das recht. Ich habe indes nur die Passagen zitiert, in denen der Interviewer auf Prostitution zu sprechen kommt. In den übrigen Passagen geht es um Frankreich, Migration, Religion u.a.m. Den Roman selbst habe ich noch nicht gelesen. Das Escort Girl scheint darin aber eine bedeutende Rolle zu spielen.

LG rainman

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friederike
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RE: "Karte und Gebiet", Roman von Michel Houellebe

Beitrag von friederike »

Vielen Dank für den Hinweis - das Buch ist mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet worden, in Frankreich bedeutet das grosse Beachtung und der Autor erlangt Schulbuchstatus (hier auch?).

Mein Lieblingsbuch von Houellebecq ist "Particules élémentaires", auch hier kommt ein Escort girl vor. "Plateforme" fand ich schon schwächer. Sobald ich kann, werde ich "Karte und Gebiet" lesen.

Houellebecq hat es nicht leicht: er ist die Art von Dichter, denen es schlecht gehen muss, sonst verlieren sie ihre charakteristische Schärfe.

LG,
Friederike

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Ariane
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Beitrag von Ariane »

Danke Rainman.
Hab mir das Buch heute besorgt und hoffe, ich finde in den nächsten Tagen Zeit zum lesen.

Ja, Friederike, Elementarteilchen hat mir auch sehr gut gefallen. Houellebecq scheint ein Sezierer und Misantrop zu sein, ein genauer Beobachter seiner Zeit, ich verstehe das durchaus, da ich die Welt ähnlich wahrnehme und mich immer schon die Wut angetrieben hat, über Politik nachzudenken, auch die Motivation für viele meiner beruflichen Interessen. Daher bietet P6 für mich gewissermassen einen Ausgleich, genauso wie die Beschäftigung mit schönen Dingen.

Nach Erscheinen seines Buches Plattform erhielt Houellebecq Todesdrohungen von fundamentalistischer Seite und er zog es vor, seinen Wohnort ins Ausland zu verlegen. Mittlerweile scheint er wohl seit längerem eine Partnerin zu haben und irgendwo las ich mal ein Interview, wo er ganz zufrieden wirkte.
Ich denke, Dichter, Künstler, Intellektuelle wird man nicht qua Beruf oder Studium, sondern ist der Beobachtungsgabe geschuldet, die einen meist schon seit der Kindheit antreibt.
Dies heisst jedoch nicht, dass es einem deshalb schlecht gehen muss. Die Formen, sich auszudrücken, sind Weisen, sich einen Reim, einen Begriff von der Welt zu machen und sie im wahrsten Sinne zu verarbeiten.
Im Falle einer Depression kann man garnicht schreiben. Ich hoffe mal, dass er uns noch mit einigen Büchern beglücken wird. Interessant fand ich auch einmal ein Doppelinterview mit ihm und Brett Easton Ellis ("American Psycho"), der in weiten Teilen seine New Yorker Welt eins zu eins dokumentiert hat. Ich denke, in der Wahrnehmung sind sich die beiden sehr ähnlich. Ähnliche Antennen.

lg ariane
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friederike
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RE: "Karte und Gebiet", Roman von Michel Houellebe

Beitrag von friederike »

@ariane,

danke für den amerikanischen Hinweis - den Autor kenne ich noch gar nicht.

An Houellebecq zieht mich besonders seine Zivilisationskritik an, die diese bittere Schärfe hat: der Welt des äusseren Scheins, in der alle jung & schön & reich, fit und "gut drauf" sind, stellt er die Gegenwelt einsamer, dicklicher & nicht ganz so schöner Menschen gegenüber, die auf sich allein gestellt in den Grossstädten an ihren Internetbildschirmen sitzen und sich nach Liebe sehnen. Diese Schärfe, glaube ich, ginge verloren, wenn er auch noch den Nobelpreis erhielte (in Frankreich wird das diskutiert, erst in den letzten Tagen hat Houellebecq in einem Interview gesagt, dass auf Jahre hinaus kein Franzose eine Chance hat wegen des Nobelpreises an Le Clézio vor zwei Jahren). Als satter & etablierter Grossschriftsteller könnte er die poetische Kraft verlieren.

Es gibt andere Fälle, wo mit dem Erfolg die künstlerische Substanz geschwunden ist, Günter Grass zum Beispiel. Auch für Schriftsteller könnte das Theorem gelten, dass Kunst aus Leiden entsteht. Für Erotikkünstlerinnen gilt das hoffentlich nicht.

Lieben Gruss,
Friederike, Houellebecq-Fan.

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Arum
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Re: RE: "Karte und Gebiet", Roman von Michel Houel

Beitrag von Arum »

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friederike hat geschrieben: Auch für Schriftsteller könnte das Theorem gelten, dass Kunst aus Leiden entsteht.
Das würde der bürgerlichen Gesellschaft so passen...
Guten Abend, schöne Unbekannte!

Joachim Ringelnatz