"Rocco und seine Brüder" (Rocco e i suoi fratelli) ist ein Filmklassiker des grossen Regisseurs Luchino Visconti aus dem Jahr 1960. Visconti, ein italienischer Hochadeliger (er führte den Titel eines Herzogs von Modrone, seine Familie hat 200 Jahre über Mailand geherrscht und besitzt heute noch mehrere Palais und Schlösser), ist einer der ganz Grossen des internationalen Films. Für die Enge des Zeitgeistes hatte Visconti nichts übrig: als souveräner Künstler beschrieb er die Welt seiner Zeit und richtete auch sein Leben vorurteilsfrei ein. Seine Homosexualität lebte er völlig natürlich aus.
Der Film spielt in der Wirtschaftswunderzeit nach dem 2. Weltkrieg. Norditalien modernisiert sich und entwickelt eine machtvolle Industrie, während Süditalien in bleierner Schläfrigkeit verharrt. Eine sizilianische Familie - die Mutter und fünf mehr oder weniger erwachsene Söhne, einen Vater gibt es nicht - zieht nach Mailand, um an der modernen Zeit teilzuhaben. Sie landen in einer Souterrainwohnung in einer Mietskaserne und müssen versuchen, Arbeit zu finden. Ihre Welt bricht auseinander, die Traditionen und die sozialen Bindungen in der Familie, die sie gewohnt sind, sind in der fremden und kalten Welt verloren (es herrscht ein in Sizilien unbekannter Winter).
In einem der oberen Stockwerke gibt es Lärm: lautstark wird das Mädchen Nadia von ihrem Vater verstossen und aus der Wohnung geworfen, weil sie sich prostituiert hat. Die sizilianische Familie im Keller nimmt sie erst einmal auf und stattet sie mit einem Mantel aus.
Einer der Brüder, Simone, wird Boxer, ein Tip, den ihm Nadia gegeben hat. Er ist erfolgreich, verdient Geld, aber ihm fehlt die für einen Berufssportler nötige Disziplin. Anstatt mit einflussreichen Promotern und Strippenziehern zum Dinner zu gehen, zieht er mit der Strassendirne Nadia los. Die beiden werden ein Paar, aber Simones Stern sinkt rasch infolge seines Lebenswandels.
Eine Szene am Bahnhof: Rocco, Simones jüngerer Bruder, kehrt von seinem 14monatigen Militärdienst zurück. Zufällig trifft er Nadia. Auch Nadia kehrt zurück: sie hat wegen ihrer Prostitution eine ebenso lange Gefängnisstrafe verbüsst, wegen ihrer wiederholten Rückfälligkeit konnte sie keine Bewährungsstrafe mehr bekommen. Rocco und Nadia verlieben sich ineinander, und Nadia will nun für ihre gemeinsame Zukunft die Prostitution aufgeben. Auch Rocco ist inzwischen Boxer geworden, und während Simone nur noch ein Verlierer ist, gewinnt Rocco aufgrund seiner Zielstrebigkeit und Disziplin die Meisterschaft.
In der traditionellen Welt Siziliens steht Simone, dem älteren, jedoch trotz seines selbstverschuldeten Misserfolgs und Versagens der Vorrang zu. In seinen Augen gehört Nadia ihm, und er macht sein Recht geltend. Nun versagt Rocco: er kann sich nicht aus seiner alten Welt und von den Bindungen seiner Familie lösen. Simone überrascht die beiden und vergewaltigt Nadia, um seine Rechte zu beweisen - und Rocco lässt es zu. Er lässt auch zu, dass Simone Nadia mit sich nimmt und sie in ein Bordell steckt, in dem Nadia gedemütigt ihr altes Leben wieder aufnimmt. Rocco erklärt ihr, dass er sich nach den Regeln seiner Welt verhält.
Aber Simone bleibt ein Versager, der sich auch in der Halbwelt von Kriminalität und Rotlichtmilieu nicht halten kann. Schonungslos stellt Nadia ihn bloss und demütigt ihn mit ihrer Verachtung. In der Konfrontation greift Simone zum Messer und ersticht sie, die ihm noch im Sterben ihren Hass entgegenschreit. Die Polizei erledigt den Rest. Die Familie ist unwiderruflich zerbrochen, die sizilianische Welt ist in der modernen Industriegesellschaft ebenso gescheitert wie Rocco an seinem menschlichen Versagen gegenüber seiner Geliebten.
Das Hauptthema dieses Films ist eine scharfe Analyse der italienischen Gesellschaft der Nachkriegszeit, deren Gegensätze auch heute am Scheitern des italienischen Staates abzulesen sind. Eine archaische Gesellschaft versagt vor dem Umbrüchen der neuen Zeit: nicht nur mentalitätsmässig, sondern auch moralisch.
Die grosse Figur in diesem Film ist Nadia. Nadia kommt aus dem starken Norden und hat die Kraft, sich in der modernen Welt zu behaupten. Sie ist Simone und Rocco an Tatkraft überlegen, aber ihre Überlegenheit ist auch eine moralische. Die Prostituierte ist die überstrahlende Figur dieses Films und wird von Visconti mit Sympathie und überragender Würde gezeichnet. Die Rolle wird von der französischen Schauspielerin Annie Girardot hinreissend gespielt. Sie versteht es, Nadia die erotische und menschliche Anziehungskraft und Leuchtkraft zu verleihen, die diese Rolle verlangt und sie verständlich macht - sowohl ihre Prostitution als auch ihre Rolle als liebende Frau. Annie Girardot ist kürzlich, am 28. Februar 2011 achtzigjährig gestorben.
In Artikeln und Berichten über diesen Film wird vor allem der junge Alain Delon erwähnt, der den Rocco darstellt. Alain Delon war zweifellos ein Mann von katzenhafter Schönheit und auch kein schlechter Schauspieler. Aber der Applaus steht in diesem Film Annie und dem Regisseur Visconti zu.
Mit der Souveränität des Aristokraten setzt sich Visconti über die Vorurteile der 50er und 60er Jahre hinweg und zeichnet ein natürliches und sehr positives Bild der Prostituierten. Mit irgendwelchen Feigenblättern und Verbeugungen vor Moralwächtern hält er sich nicht auf. Herausgekommen ist ein beeindruckendes Filmkunstwerk.
"Rocco und seine Brüder", Film von Luchino Viscont
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Liebe Fredrike,
vielen Dank für den Tip und die ausführliche Interpretation und Beschreibung.
Den Film muss ich mir unbedingt sehen.Zumal mich im Moment die Geschichte und die derzeitige politische Entwicklung in Italien sehr interessieren.
Gruß, Fraences
vielen Dank für den Tip und die ausführliche Interpretation und Beschreibung.
Den Film muss ich mir unbedingt sehen.Zumal mich im Moment die Geschichte und die derzeitige politische Entwicklung in Italien sehr interessieren.
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Wer glaubt ein Christ zu sein, weil er die Kirche besucht, irrt sich.Man wird ja auch kein Auto, wenn man in eine Garage geht. (Albert Schweitzer)
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Liebe Fraences,
danke zurück - ich habe vergessen zu erwähnen: auf DVD in amazon erhältlich.
Für die, die sich für Italien und dessen Historie interessieren, ist Visconti ein ungemein aufschlussreicher (filmischer) Erzähler, allein wegen der aussergewöhnlichen Rolle seiner Familie. Zum Beispiel ist sein "Der Leopard" auf gleicher Höhe wie die geniale Romanvorlage des Fürsten Tomaso di Lampedusa (wieder ein Fürst).
Wenn Du den Film gesehen hast, würde mich Dein Urteil sehr interessieren.
Schöne zwei Stunden, und liebe Grüsse,
Friederike
Lieben Gruss,
Friederike
danke zurück - ich habe vergessen zu erwähnen: auf DVD in amazon erhältlich.
Für die, die sich für Italien und dessen Historie interessieren, ist Visconti ein ungemein aufschlussreicher (filmischer) Erzähler, allein wegen der aussergewöhnlichen Rolle seiner Familie. Zum Beispiel ist sein "Der Leopard" auf gleicher Höhe wie die geniale Romanvorlage des Fürsten Tomaso di Lampedusa (wieder ein Fürst).
Wenn Du den Film gesehen hast, würde mich Dein Urteil sehr interessieren.
Schöne zwei Stunden, und liebe Grüsse,
Friederike
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