Der Traum der Kelten von Roger Casement

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fraences
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Der Traum der Kelten von Roger Casement

Beitrag von fraences »

Heiliger im Herzen der Finsternis

Nobel, aber nicht nobelpreiswürdig: Mario Vargas Llosas Roman "Der Traum des Kelten" erzählt das Leben von Roger Casement.

Zu den dunkelsten Kapiteln der europäischen Kolonial- und Kapitalismusgeschichte gehört die Kautschukproduktion zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Dirigiert von mächtigen "Kautschukbaronen", Börsenspekulanten und Händlern in weißen Kragen, geschützt von korrupten Richtern, Präfekten und der Kolonialverwaltung (bis hinauf zum belgischen König Leopold II.), trieben Aufseher in den entlegenen Dschungelgebieten des Kongo und Amazonas Eingeborene mit Nilpferdpeitschen, Messern und Pistolen zur Sklavenarbeit. Wer die schwere, selbstverständlich unbezahlte Tätigkeit verweigerte, wurde ausgepeitscht oder erschossen; Minderleistern wurden Nasen, Hände und Geschlechtsteile abgehackt, Frauen und Kinder in so genannten "Maisons d"Otrages" als Geiseln festgehalten und zur Prostitution gezwungen.

Dass diese Gräuel aufgedeckt und schließlich, wenn auch nur zögernd, abgestellt wurden, war vor allem ein Verdienst von Roger Casement (1864–1916), eines in Irland geborenen Diplomaten in englischen Diensten. Seine Untersuchungsberichte über die Verbrechen im Belgisch-Kongo und im brasilianisch-peruanischen Grenzgebiet lösten eine Welle der Empörung in Europa und Amerika aus. Schriftsteller wie George Bernhard Shaw und Arthur Conan Doyle, liberale Journalisten, Kirchenmänner, empfindsame Salondamen und selbst US-Präsident Wilson unterstützten die Kampagne. Nicht ohne Erfolg: Die korruptesten Beamten und übelsten Sadisten, Psychopathen, wie sie Casements Freund Joseph Conrad in seinem "Herz der Finsternis" beschrieben hatte, wurden aus dem Verkehr gezogen, die Peruvian Amazon Company wurde 1912 liquidiert. Der Preisverfall auf dem Kautschukmarkt durch die asiatische Konkurrenz ließ ehemals glanzvolle Urwaldmetropolen wie Manaus und Iquitos endgültig wieder an die Natur zurückfallen.

Als Casement für seine Verdienste 1911 geadelt wurde, gab er nichts mehr auf britische Orden: Seine Erfahrung mit kolonialer Barbarei in Afrika und Südamerika (und wohl auch die Hinwendung zum katholischen Glauben) hatten ihn zum glühenden irischen Nationalisten gemacht. Im Ersten Weltkrieg warb er in deutschen Gefangenenlagern – mit wenig Erfolg – Rekruten für den Freiheitskampf gegen die Engländer an. 1916 wurde er beim Versuch, auf einem deutschen U-Boot Waffen für den Osteraufstand nach Irland zu schmuggeln, verhaftet und wegen Spionage, Sabotage und Hochverrat zum Tode verurteilt. Selbst Kampfgefährten und Freunde gingen auf Distanz zu dem Kollaborateur, vor allem als "geheime Tagebücher" auftauchten, die Casement in den Verdacht der Homosexualität rückten. Am 3. August 1916 wurde er, körperlich und seelisch zerrüttet, hingerichtet. Spät rehabilitiert, wird er heute in Irland als Nationalheld verehrt.

Mario Vargas Llosas Casement-Roman erschien, kurz bevor er mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde. "Der Traum des Kelten" – der Titel erinnert an das gleichnamige Versepos, in dem Casement sich 1906 zu seinen irisch-gälischen Wurzeln bekannt hatte – rechtfertigt allerdings weder die hohe Auszeichnung noch das Gerangel um die deutschen Buchrechte (die nach einigem Hin und Her zwischen Suhrkamp und Rowohlt nun doch wieder bei seinem alten Verlag Suhrkamp landeten). Vargas Llosa, der in seinem Werk immer wieder großartige, fiebrig heiße Bilder für das Leiden der Indios unter Ausbeutung, Korruption und den Terror einer entfesselten Soldateska gefunden hat, erzählt die Tragödie merkwürdig uninspiriert. Der Rechercheaufwand ist beeindruckend: In drei Kontinenten durchkämmten der Autor und seine zahlreichen Helfer Archive und Bibliotheken. Aber die Last der Fakten, der biografisch-dokumentarische Gestus, hölzerne Dialoge und ermüdende Gespräche mit Missionaren und Gefängnisgeistlichen über Gott, Irland und die Menschenrechte engen die erzählerische Freiheit stark ein. Von wegen Magischer Realismus: Streckenweise liest sich dieser "Traum" wie eine leicht verkitschte Hagiographie. Nicht umsonst liest Casement in seiner Todeszelle die "Nachfolge Christi" und stirbt heroisch wie ein Märtyrer.

Casement ist für Vargas Llosa ein makelloser Held, wenn nicht Heiliger. Verhöhnt als "Negerfreund", naiver Schwächling, Vaterlandsverräter und Päderast, gepeinigt von Malaria, Arthritis, Ekel und Depressionen, bleibt er allzeit der aufrechte Idealist, Gentleman und "wahre Weltbürger", der um der Wahrheit und Gerechtigkeit willen auf Geld, Macht und persönliches Glück verzichtet. Manchmal erscheint Casement sogar wie ein verkapptes Selbstporträt des enttäuschten Politikers Vargas Llosa. Heute wie damals, im Kongo wie in Peru, ist es immer die alte, "immer gleiche Geschichte": Das Paradies der Eingeborenen wird durch die "Erbsünde" europäischer Habgier und Grausamkeit zerstört. "Wir erhalten Befehle und sorgen für deren Einhaltung", entgegnet ein Aufseher auf Casements moralische Vorhaltungen. "Wir sind die Exekutivgewalt einer Politik, die ohne unser Zutun gemacht wird".

Casements homosexuelle Neigungen werden nur diskret gestreift; bis heute ist umstritten, ob die "Black Diaries" eine Fälschung des britischen Geheimdiensts waren. Vargas Llosa neigt einer dritten Hypothese zu: Die sexuellen Abenteuer in Casements Tagebüchern entsprangen der tropisch überhitzten Fantasie eines verhinderten Schriftstellers, der fern der Zivilisation seine Befreiung erlebte. In seinem eigenen Roman ist von Lust und Leidenschaft allerdings wenig zu spüren. "Der Traum des Kelten" ist eine Romanbiografie, wie sie auch Vargas Llosas Kollege und Erzfeind Grass hätte schreiben können: Nüchtern, bieder und ein bißchen langweilig erzählt, politisch korrekt und nobel in ihrer Gesinnung, aber nicht sehr nobelpreiswürdig.
– Mario Vargas Llosa: Der Traum des Kelten. Roman. Aus dem Spanischen von Angelica Ammar. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 447 Seiten, 24,90 Euro.

http://www.badische-zeitung.de/literatu ... 70819.html
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Re: Der Traum der Kelten von Roger Casement

Beitrag von Aoife »

Danke für diesen Beitrag liebe Fraences!

Vielleicht zum besseren Verständnis:

          Bild
fraences hat geschrieben:... hatten ihn zum glühenden irischen Nationalisten gemacht.
Um das zu verstehen muß man wissen, dass die in der übrigen Welt sehr einheitlich gebrauchten Worte Nationalist und Republikaner in Irland eine völlig andere, weitgehend sogar gegensätzliche Bedeutung haben als im übrigen Sprachgebrauch.

Meine politische Einstellung kennt ja wohl jeder hier, und so wird es wohl überraschen wenn ich sage, dass ich Republikanerin bin :002

Weil das eben bei unserem Sprachgebrauch mir Tea Party und deutschen Reps oder der österreichischen "republikanischen" FPÖ rein gar nichts zu tun hat.

Bei uns ist jemand Nationalist, wenn er sich für Menschenrechte weltweitweit einsetzt - somit sind Bezeichnungen wie "Negerfreund" in unseren Augen durchaus lobende Beschreibungen für einen Nationalisten.

Und "Republikaner" ist bei uns ein Nationalist der nicht daran glaubt, dass "demokratische" Mittel ausreichen um das Recht der Menschen auch tatsächlich zu verwirklichen.

Liebe Grüße, Aoife
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