Wie die meisten hier wissen komme ich nicht von den Politikwissenschaften her, sondern von der Psychotherapie/Psychiatrie, und so mag es interessant sein zu sehen, wie meine politischen Überzeugungen dort ihre Wurzeln haben.
„Gelernten“ Politologen mag es ein Ärgernis sein dass ich konsequent vom Menschen wie er nun einmal empfindet und reagiert her argumentiere und somit ausgedachte Ideologien wie der Mensch sein sollte mir eher gleichgültig sind, weil die Diskussionen zwischen Vertretern von Ideologien reine Gehirnakrobatik sind – aber leider nicht wirkungslos, der Versuch den „Sieger“ dieser oft mit militärischen Mitteln fortgesetzten Diskussion seine Vorstellungen in der gesellschaftlichen Praxis umsetzen zu lassen, ist massiv schädlich. Auch gebe ich gerne zu, dass der aus dieser Ecke kommende Vorwurf ich sei militant mich motiviert hat für Interessierte die tatsächlichen Hintergründe etwas näher zu erklären.
Nun – wie kommt man aus den Psychowissenschaften zu einer Einstellung, die nicht zu Unrecht als „anarchistisch“ bezeichnet werden kann?
Tatsächlich habe ich dafür zwei Wurzeln – zum einen die konsequent materialistische Auffassung eines von mir sehr geschätzten Sowiet-Dissidenten und Psychiaters: Nach dieser Lehre sind Staatsgebilde der ideologische Versuch den realen Menschen umzuformen in einer Art und Weise, die nicht seiner Natur entspricht. Hier passt auch mein bekanntes Beispiel von den Bienen und den Ameisen, die beide in Staaten leben, ohne jemals etwas von Staatsphilosophien gehört zu haben. Einfach weil es ihrer Natur entspricht bilden sie Staaten, wenn der Mensch das seiner Natur folgend nicht tut, warum sollte man es erzwingen wollen? Auch mein Vertrauen in die Selbstorganisation, die die statenbildenden Insekten Staaten bilden läßt, den Mensch jedoch andere Lebensformen finden läßt, beruht auf dieser Wurzel. Und das keineswegs in der Theorie, sondern weil es praktisch funktioniert.
Bis hierher allerdings nur individuell – zwar zeigt sich dabei schon, dass der westlich sozialisierte Mensch durch seine Sozialisation massiv traumatisiert ist, Familie und Gesellschaft tun das ihren Kindern im Auftrag der Wirtschaft an – kein psychisch gesunder Mensch würde sich so ausbeuten lassen. Und typisch traumabedingt setzt er alles daran den Verursacher zu schützen, glaubt fest daran das System das ihn schädigt sei das einzig richtige und berechtigte. Allerdings wie gesagt ist das Bisherige alles nur individuell zu nutzen, dem Einzelnen kann man zu mehr Gesundheit und Lebensqualität verhelfen wenn man ihm hilft seine Kreativität zu aktivieren und dadurch eine Nische zu finden, die ihn von diesen Zwängen befreit und ihm erlaubt sein Trauma auszukurieren ohne ständig durch „Sachzwänge“ wieder zurückgezogen zu werden. Aber eine Aussicht auf Prophylaxe ist hierin noch nicht zu entdecken … zumindest keine andere Möglichkeit als auf rein ideologischer Basis ein „anderes, menschlicheres System“ zu fordern, womit wir wieder in den Teufelskreis der sich bekämpfenden und den Menschen letztlich mißachtenden Ideologien eintreten würden.
Und an dieser Stelle kommt die zweite Wurzel dazu, Boszormenyi-Nagy, ein erzkonservativer Psychotherapeut und maßgeblicher Mitbegründer der Familientherapie, der in seinem Buch „Unsichtbare Bindungen“ darlegt, dass seiner Überzeugung nach die überwiegende Mehrzahl der psychischen Probleme ihre Ursache in der heutigen Anomie hätten.
Anomie heißt Gesetz- oder Regel-Losigkeit, und dass fehlender innerer Halt ein Grund für psychische Probleme sein kann ist IMHO nicht von der Hand zu weisen, auch nicht in dem behaupteten Ausmaß des Geschehens.
Auffällig ist aber, dass Boszormenyi-Nagy das unübliche Wort „Anomie“ wählt, nicht allgemeinverständlich Anarchie für die Probleme anschuldigt. Welchen Grund auch immer er hierfür gehabt haben mag – es trifft den Nagel auf den Kopf: Anarchie heißt schließlich nicht Gesetzlosigkeit, sondern Gesetzgeberlosigkeit. Und so hat der meiner eigenen Denkweise so ferne rechts-konservative Boszormenyi-Nagy mich genau darauf gebracht: Die Anomie hat ihre Ursache darin dass wir keine Anarchie haben.
Oder auf Deutsch: Innere Haltlosigkeit aufgrund fehlender Regeln ist die logische Folge des Vorhandenseins eines sogenannten Gesetzgebers, der Gesetze psychisch entwertet, so wie ein Falschgelddrucker das echte Geld entwertet.
Übrigens in gewisser Weise auch archetypisch niedergelegt in der Legende von Solon, der Gesetze geben sollte und sich weigerte das zu tun wenn man nicht auf seine Bedingung einginge: Niemand dürfe die von ihm gegebenen Gesetze ändern, und er selbst würde nach ihrer Verkündung ins Exil gehen und für 40 Jahre unerreichbar sein. Auch hier werden die Gesetze (selbst von einem, wenn auch weisen, Menschen ausgedachte!) erst dadurch wertvoll, dass sie unlösbar mit einer Anarchie, dem Nichtvorhandensein eines Gesetzgebers, verknüpft werden.
Gerade weil der Mensch Regeln braucht, um psychisch gesund zu bleiben, fällt ihm das so schwer bis unmöglich in einer Gesellschaft, deren „Regeln“ willkürliche Entscheidungen in immer schnellerer Folge darstellen – oft nicht einmal versuchweise mit menschlichen Bedürfnissen, sondern mit sogenannten „Sachzwängen“ aus wirtschaftlichen oder finanzpolitischen Überlegungen begründet.
Und somit ist die „Anarchie“ die ich vetrete auch keine ideologische, auf irgendeine ausgedachte Utopie zielende, sondern eine historisch über Jahrtausende funktionierende – zugegebenermaßen seit einigen Jahrhunderten zunehmend von dem sich entwickelnden Staatswesen in den Untergrund gedrängt, aber im Rückblick können wir das viel besser beurteilen, ich mache unseren Vorfahren keinerlei Vorwurf, dass sie darauf hereingefallen sind, eher uns selbst, wenn wir trotz der Möglichkeit es in der Rückschau jetzt besser zu wissen immer noch darauf hereinfallen.
Diese Erkenntnis mit anderen zu teilen ist zumindest in meiner Selbsteinschätzung keineswegs militant – sogar im Gegenteil, ist meine Motivation doch den Menschen das notwendige Wissen an die Hand zu geben um ihre Lage zu verbessern, bevor es aus dem sich entwickelnden unerträglichen Leiden heraus zum Rundumschlag verzweifelter militanter Aktionen kommt, die mit Sicherheit nichts Gutes bewirken können.
Somit ändert sich die Frage danach „wieviel Regeln“ der Mensch braucht dahingehend, dass sie richtig gestellt lauten sollte welcher Art/Herkunft diese Regeln sein sollten – und damit automatisch auch danach, ob Regeln die „im Namen des Volks“ im Interesse der (Finanz-)Wirtschaft erlassen werden überhaupt die Bedingungen für eine gültige Regel erfüllen.
Liebe Grüße, Aoife
Wieviel Regeln braucht der Mensch?
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Re: Wieviel Regeln braucht der Mensch?

Ich selber komme nicht aus der Politikologenecke her, aber trotzdem herzlichen dank für Deine Erörterung.Aoife hat geschrieben: Auch gebe ich gerne zu, dass der aus dieser Ecke kommende Vorwurf ich sei militant mich motiviert hat für Interessierte die tatsächlichen Hintergründe etwas näher zu erklären.
Ja, wie Dir schon mal aufgefallen, ich habe mich hin und wieder geärgert wegen einer gewissen Militanz bei Dir, aber das nun gerade weil ich selber vom Anarchismus geprägt bin (durch Lektüre von niederländischen Anarchisten wie Anton Constandse und Arthur Lehning, darüberhinaus natürlich Bakunin, Kropotkin, Read u.A.) , und ich deswegen mich mit einer Militanz, die seinem Gegenüber wenig Freiraum zu bieten erscheint, etwas schwer tue. Rein inhaltlich stehe ich Dir öfters jedoch weit näher als Du wohl glaubst.
Nur bringen meines Erachtens Grossanalysen dort weniger wo es sich um spezifische Fälle von persönlicher Frust und Angst handelt. Da kann ich mir denken, dass Neuankömmlinge im Forum sich einigermassen überrumpelt fühlen, wie gut auch immer von Dir gemeint...
Wie dem auch sei, herzlichen Dank für die interessante Ausführung, auhc wenn ich mir selber nicht sicher bin, ob man sich nur auf psychologische Erklärungsmuster beschränken kann. Ich glaube, es geht im heutigen anarchisten Diskurs auch sehr interessante Ansätze beim amerikanischen Denker John Zerzan (siehe http://www.johnzerzan.net/ ), der meint, der ganze Ärger habe angefangen bei den Anfängen der Landwirtschaft. Seine wichtigsten Aufsätze zu diesem Thema findet man in Elements of Refusal und Future Primitive.
Auch wenn ich seine Analysen für weitgehend schlüssig halte und ich ihn auch weiterhin sehr schätze, ein Problem an Zerzans Philosophie bleibt doch die Frage nach den praktischen Konsekwenzen für die Massengesellschaft. Letztere gibt es nun mal, auch wenn sie unter einem immerzu nur anwachsendem ökologischen Druck gerät, mit unausweichlich tiefgreifenden Folgen. Mindestens fehlen uns aber die eingeschleiften Routinen um überhaupt noch als Jäger und Sammler leben zu können.
Ein interessantes Buch, das ich im Moment lese, wäre da Becoming Animal; an Earthly Cosmology vom amerikanischem Philosophen David Abram, der sich auf der Suche macht nach einem innerlich nachvollziehbaren Einklang zwischen Erde/Welt/Natur und Mensch als Körper. Er erinnert, auch vom Stil her, an keinen geringeren als Henry David Thoreau.
Alles Gute!
Guten Abend, schöne Unbekannte!
Joachim Ringelnatz
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Re: Wieviel Regeln braucht der Mensch?

Da hast du wahrscheinlich in vielen Fällen Recht, Arum - und trotzdem, ich kann mich nicht zu einem Paternalismus hinreißen lassen, der davon ausgeht, dass das für den Angesprochenen von vornherein ein zu hohes Niveau sein wird ...Arum hat geschrieben:Nur bringen meines Erachtens Grossanalysen dort weniger wo es sich um spezifische Fälle von persönlicher Frust und Angst handelt. Da kann ich mir denken, dass Neuankömmlinge im Forum sich einigermassen überrumpelt fühlen, wie gut auch immer von Dir gemeint...
Tatsächlich sind meine Äußerungen ja nur ein Angebot, wie die Beiträge anderer auch, und meine Wunschvorstellung wäre, dass Neuankömmlinge einen ganzen Blumenstrauß von Vorschlägen überreicht bekommen, aus dem sie sich dann das für sie persönlich Passende heraussuchen können.
Und wenn einer meiner zugegebenermaßen oberflächlich gesehen wenig praktischen Beiträge auch nur dem einen oder anderen die Erkenntnis vermitteln kann, dass hier weder "Schuld" noch "schlimmes Schicksal" vorliegt, sondern ganz andere Kräfte im Hintergrund tätig sind, dann hat dieser Beitrag IMHO auch ganz praktisch etwas genützt. Nämlich anzuregen den antrainierten Reflex die "Schuld" bei sich selbst zu suchen in Frage zu stellen, was eine wichtige (wenn nicht überhaupt die wichtigste) Voraussetzung dafür ist, empowerment nicht nur theoretisch zu verstehen, sondern praktisch für sich in Anspruch zu nehmen.
Danke für diesen Hinweis Arum! Tatsächlich stimme ich damit als Geschichtsbetrachtung weitgehend überein, bin auch selbst der Überzeugung, dass die letzte erfolgreiche (im Sinn von grundlegende Veränderungen herbeiführende) Revolution die neolithische war, und dass diese Veränderungen nicht unbedingt zum Vorteil waren.Arum hat geschrieben:Ich glaube, es geht im heutigen anarchisten Diskurs auch sehr interessante Ansätze beim amerikanischen Denker John Zerzan (siehe http://www.johnzerzan.net/ ), der meint, der ganze Ärger habe angefangen bei den Anfängen der Landwirtschaft.
Allerdings habe ich zu diesen Geschichtsbetrachtungen ein gespaltenes Verhältnis:
Zum einen nutze ich sie selbst gerne, um beispielsweise frei erfundene Behauptungen, wie ein gesetzgeberloses Gemeinwesen sei eine niemals funktionierende Utopie, damit zu widerlegen, dass dieses System geschichtlich jahrtausendelang funktioniert hat.
Zum anderen sehe ich darin aber die große Gefahr aus dem Wunsch das Rad der Geschichte bis zum "goldenen Zeitalter" zurückzudrehen eine neue Ideologie zu schaffen. Auch wenn mancherorts Sesshaftwerdung, Landwirtschaft und Sklavensystem gleichzeitig aufgetreten sind - ich möchte nicht auf der Basis idealistischer Vorstellungen den Menschen ihre Landwirtschaft schlecht machen, die bekannten geschichtlichen Zusammenhänge sind ja keineswegs zwingend. Wie ich schon in meinem Eröffnungspost sagte: Es geht mir um den realen Menschen, nicht um irgendwelche Ideen, wie er idealerweise zu sein hat. Und dass der "ganze Ärger" mit der Landwirtschaft angefangen hat genügt mir nicht als Beweis, dass ein Verzicht darauf jetzt noch etwas verbessern könnte.
Der heutige Mensch leidet an innerer, psychischer Regellosigkeit (so zumindest meine Arbeitshypothese) - und daher scheint es mir weit wichtiger den Grund dieser Regellosigkeit, nämlich die Entwertung von Regeln durch äußere Herrschaft, zu benennen, als in der Geschichtskenntnis wann diese Form von Herrschaft sich etabliert hat Lösungsansätze zu erwarten. Die Konsequenzen daraus muss der heutige Mensch mit seinen jetzigen Bedürfnissen schon selbst ziehen.
Somit sehe ich die Geschichte tatsächlich als ein Warenhaus voller Ideen - warne aber vor Konsumverhalten, nicht einfach dort "bestellen" im Vertrauen darauf dass es schon genauso wieder funktionieren wird wie ehemals, lieber nur den Katalog durchblättern und sich zu eigener Kreativität anregen lassen

Liebe Grüße, Aoife
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