Sexarbeit: Armut – Freiheit – Zwang

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fraences
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Sexarbeit: Armut – Freiheit – Zwang

Beitrag von fraences »

Sexarbeit: Armut – Freiheit – Zwang?

Prostitution – kaum ein Thema scheint so undurchsichtig und komplex. Prostituierte werden gesellschaftlich stigmatisiert, moralisch verachtet und oftmals pauschal kriminalisiert.

Dabei ist Prostitution in Deutschland seit Erlass des rot-grünen Prostitutionsgesetzes vor über zehn Jahren nicht mehr strafbar. Sexarbeiterinnen haben Zugang zum Sozialversicherungssystem, können ihren Lohn vor Gericht einklagen und zahlen Steuern. Die Kluft zwischen gesetzlicher Intention und Realität, auch dies war Thema bei der

Diskussionsveranstaltung “Sexarbeit: Armut – Freiheit – Zwang?” am 16. Januar 2013 in Mannheim.

Prostitution, das sei ein Teil der Gesellschaft, so Stephanie Klee, ihres Zeichen Sexarbeiterin und Mitbegründerin des Vereins Hydra e. V., der bereits seit mehr als 30 Jahren Sexarbeiterin in Berlin berät und unterstützt.

Vor etwa 60 Zuhörern, die im Förderband in Mannheim auf Einladung von Franziska Brantner und der Mannheimer Gemeinderatsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen zusammenkamen, diskutierte die eigens aus Berlin angereiste Sexarbeiterin mit Franziska Brantner, frauen- und gleichstellungspolitische Sprecherin der Grünen im Europäischen Parlament,

Natascha Werning, frauenpolitische Sprecherin der grünen Gemeinderatsfraktion in Mannheim und

Julia Wege, Projektleiterin der Diakonie für die neue Beratungsstelle für Prostituierte in Mannheim über die Lebens- und Arbeitssituation von Sexarbeiterinnen sowie den Umgang mit Prostitution in Deutschland und der Europäischen Union.



Im bis zum letzten Platz besetzten Veranstaltungssaal bereitete die Gemeinderätin Natascha Werning mit einem Überblick über die verschiedenen Formen, die pauschal mit dem Begriff Prostitution in Verbindung gebracht werden, einer differenzierten Diskussion den Boden. Eine pauschale Behandlung des Themas sei nicht möglich. Viele Frauen arbeiteten aus unterschiedlichen Beweggründen in den unterschiedlichsten Bereichen der Prostitution. Viele befänden sich in prekären Situationen.

Die Freude darüber, dass die Stadt Mannheim nun auf Antrag der grünen Gemeinderatsfraktion 65.000 Euro für die Einrichtung einer Beratungsstelle in die Hand nehme, konnte sie kaum verbergen. Mit diesem niederschwelligen Beratungsangebot werde es gelingen, denjenigen Ausstiegsmöglichkeiten zu bieten, die nicht mehr als Prostituierte arbeiten wollen. Durch eine umfassende Weiterbetreuung werde vielen Frauen eine wirkliche erspektive jenseits der Prostitution geboten.

Wie vielschichtig das Thema Prostitution ist, veranschaulichte die eigens aus Berlin angereiste Stephanie Klee mit einem Plädoyer für die Anerkennung von Prostitution als einen Beruf, wie jeder andere auch, sowie für das Selbstbestimmungsrecht der Frauen. Sie wehrte sich vehement gegen die gesellschaftliche Ächtung und pauschale Gleichstellung von Prostitution, Zwangsprostitution und Menschenhandel. Sie sei gerne Sexarbeiterin und koketierte damit, mit ihren mittlerweile über 30 Jahren in der Branche mit Sicherheit bereits einen Meistertitel in diesem Beruf erworben zu haben.

In der Frage, wie sich die Situation der Prostituierten nach dem Beschluss des Prostitutionsgesetzes verändert hat, zeigte sie sich gespalten: einerseits sei das Auftreten gegenüber den Kunden selbstbewusster geworden. Hatte man früher keine Handhabe, wenn der Freier sich weigerte, den vereinbarten Lohn zu zahlen, kann man ihn heute notfalls vor Gericht einklagen. Nur die Rechte verhindern die Ausbeutung, zitierte sie frei einen gängigen Spruch in der Szene.

Andererseits sei das Regelwerk halbherzig und greife in vielen Teilen zu kurz. Um wirklich etwas verändern zu wollen, müsse das Prostitutionsgesetz auch Einzug in andere relevante Rechtsbereiche halten, wie zum Beispiel dem Gewerberecht, dem Ausländerrecht und dem Baurecht. Vor Ort in den Ländern und der Kommune konstatiere sie zudem eine weitverbreitete Unkenntnis der rechtlichen Regelungen des Prostitutionsgesetzes. Dies führe bei vielen Bordellbetreibern und Prostituierten zu Rechtsunsicherheit.

Da Bordelle über Nacht mehr oder weniger geschlossen werden könnten, fehle der Rahmen für Investitionen in eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen.

Doch auch vielen Prostitutierten sei das Prostitutionsgesetz nicht bekannt, so die Berliner Sexarbeiterin.

Um Rechte kennen zu können, brauche es eine geregelte Ausbildung und gut aufgestelte Beratungsstellen, die Prostituierte über ihre rechtlichen Möglichkeiten, aber auch über Alternativen zur Sexarbeit informieren. Nur so sei letztlich eine selbstbestimmte Entscheidung für oder wider die Prostitution möglich.



Die Europaabgeordnete Franziska Brantner stimmte Teilen der Kritik am deutschen Prostitutionsgesetz zu. Wenn man etwas einer gesetzlichen Regelung unterwerfen wolle, solle man es auch richtig regeln und es nicht alleine der Auslegung überlassen. So würden Prostituierte zum Spielball unterschiedlichster Interessen. Zugleich wies sie auf den unterschiedlichen Umgang mit Prostitution in anderen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union hin. So gebe es Länder, in denen die Prostitution wie in Deutschland legal sei und vom Gesetzgeber reguliert würde. Hierzu zählten beispielsweise die Niederlande, Österreich und Ungarn. In Schweden, Norwegen und Island hingegen sei die Nachfrage nach Sexarbeit, nicht aber das Prostituieren verboten. In zahlreichen anderen Mitgliedsstaaten der EU wie Spanien, Italien, Portugal und Polen stelle man die Prostitution schließlich nicht unter Strafe, Bordelle seien jedoch verboten und eine gesetzliche Regelung gäbe es auch nicht. In Bulgarien sei Sexarbeit sogar weder straffrei noch strafbar, was Prostitution einer rechtlichen Grauzone überlasse. Auch ohne rechtliche Kompetenz könne die Europäische Union hingegen gegen Menschenhandel, der oftmals in Zwangsprostitution mündet, aktiv werden. Hierzu wurde im März 2011 die Richtlinie zur Verhütung und Bekämpfung des Menschenhandels und zum Schutze seiner Opfer erlassen. Sie sehe nicht nur Präventivmaßnahmen vor, sondern auch den uneingeschränkten Zugang zu Unterstützung und Betreuung für Opfer von Menschenhandel. Zu den Unterstützungsleistungen gehörten unter anderem eine sichere Unterkunft, materielle Unterstützung, medizinische Versorgung sowie eine Aufenthaltserlaubnis für eine zumindest angemessene Zeit nach einem Gerichtsverfahren. Deutschland habe diese Richtlinie bislang noch nicht in nationales Recht überführt und versage den oftmals stark traumatisierten Frauen eine wirkliche Perspektive.

Eine solche aufzuzeigen stehe im Mittelpunkt der Arbeit der neuen Beratungsstelle, die Julia Wege, die Projektleiterin der Diakonie vorstellte. Das Konzept sehe eine umfassende Beratung von Prostituierten in Mannheim vor. Die Stadt an Rhein und Neckar sei ein Anzugspunkt für Menschenhandel. Viele Armutsflüchtlinge kämen ohne besondere Sprach- und Rechtskenntnisse nach Deutschland und Mannheim. Die Gefahr der Ausbeutung, darunter auch der Armuts- und Zwangsprostitution, sei groß. Die Beratungsstelle, die in diesem Jahr ihre Arbeit aufnehmen soll, möchte ein besonders niederschwelliges Angebot darstellen. Statt sie zu sich kommen zu lassen, sollen die Frauen vor Ort aufgesucht werden. Wo es Prostitution gibt, soll es auch Beratung geben. Wenn möglich auch in der Muttersprache der Beratungs- und Hilfsbedürftigen. Das Beratungsangebot werde neben einer allgemeinen Lebensberatung, psychosozialer Unterstützung und Hilfe in rechtlichen Fragen auch die Beratung über Ausstiegsmöglichkeiten umfassen und versuchen, den Frauen neue berufliche Perspektiven aufzuzeigen.

Viele Fragen mussten aufgrund der Vielschichtigkeit und Komplexität des Themas auch nach dieser Veranstaltung offen bleiben, doch in einem waren sich alle Teilnehmerinnen der Diskussion einig: dem Thema wird man nur gerecht, wenn sich alle Beteiligten, von Prostituierten und Bordellbetreibern über die Polizei bis hin zu Politik und Verwaltung an einen Tisch setzen und gemeinsam Lösungs- und Handlungskonzepte erarbeiten. Mannheim hat einen mutigen Anfang gemacht und diesen Weg mit der neuen Beratungsstelle bestritten.

http://www.franziska-brantner.eu/gender ... anuar-2013
Wer glaubt ein Christ zu sein, weil er die Kirche besucht, irrt sich.Man wird ja auch kein Auto, wenn man in eine Garage geht. (Albert Schweitzer)

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Fakten und Infos über Prostitution