Autor Clemens Meyer: "Hört den Huren endlich zu!"

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Snickerman
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Autor Clemens Meyer: "Hört den Huren endlich zu!"

Beitrag von Snickerman »

Ein sehr schöner, weil wütender Artikel eines Schriftstellers, der sich ebenfalls aufregt, wenn er hören und sehen muss,
wie ÜBER Sexworker gesprochen wird statt MIT ihnen:


12:34
Autor Clemens Meyer
Hört den Huren endlich zu!

Die aktuelle Debatte um Prostitution wird von uralten Klischees geprägt. Es mangelt an Respekt vor den Frauen, die Sex-Dienstleistung als Arbeit betrachten. Ein Plädoyer für Selbstbestimmung. Von Clemens Meyer

Wie halten wir es mit der Prostitution? Der Schriftsteller Clemens Meyer hat für seinen Bordellroman „Im Stein“ (S.Fischer) fünfzehn Jahre lang recherchiert. Der Roman, der im Rotlichtmilieu einer an Leipzig erinnernden ostdeutschen Großstadt spielt, stand auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis. Seinen Beitrag verfasste er exklusiv für die „Literarische Welt“.


Es beginnt und begann mit Respekt. Und mit Zuhören. Mit Schauen. Mit dem Versuch einer Einfühlung. Mit dem Versuch, Menschen zuzuhören. Nun, das sollte einfach sein. Dachte ich, denke ich. Und der Zurücknahme des ICH. Meiner Vorurteile, allgemeiner Vorurteile. Hatte ich die überhaupt? War ich der Gefahr ausgeliefert zu romantisieren, zu verallgemeinern? Sollte ich nicht diese großen Fragezeichen zurücknehmen, mich selbst zurücknehmen? Einfach nur erst mal zuhören? Wieder Fragezeichen, und wieder ICH ICH ICH.

Denn die Gefahr besteht doch, dass ich dann nicht mehr richtig höre, nicht mehr objektiv sehe, mich nicht mehr einfühle, weil es mehr um mich und um mein Anliegen geht, als um die Frauen, die Sexarbeiterinnen, die Huren, die Callgirls, die Prostituierten, die Sexdienstleisterinnen. Einmal, vor etlichen Jahren, sagte eine Frau, dass sie sich als "Liebeskünstlerin" sieht. Diese Dame arbeitete im Escort-Bereich. Andere Damen, in Klubs, in Wohnungen, sagten mir, dass das Wort "Hure" in ihren Augen vollkommen in Ordnung sei.

Ich bekomme das ICH, mein ICH hier nicht heraus, weil ich mich errege, aufrege, weil ich in Zorn gerate. Ich möchte gern, und ich habe das bereits versucht in meiner Literatur, hier eine Frau sprechen lassen. Ich habe versucht, einigen Frauen, einigen Damen meine Stimme zu leihen, meine Stimme zu ihrer zu machen. In all ihrer VERSCHIEDENHEIT, EINZIGARTIGKEIT. Mich zurückzunehmen, ihre Geschichten zu erzählen, zu komponieren und, ja, zu Kunst zu machen. Aber darum geht es hier nicht. Die Belletristik, die Kunst, die Literatur werde ich hier hinter mir lassen müssen, will das hier hinter mir lassen ... STOPP.

Der Schriftsteller Clemens Meyer, geboren 1977 in Halle an der Saale, wurde vielfach ausgezeichnet. Sein Rotlicht-Roman "Im Stein" stand auf der Shortlist des deutschen Buchpreises und bekam gerade den Bremer Literaturpreis 2014 zugesprochen.
Für seinen Roman „Im Stein“ (S. Fischer, 560 S., 22,99 €) sprach Clemens Meyer mit Prostituierten und Hintermännern und erkundete das sogenannte Rotlichtmilieu.

Das Wort "Nutte" gehört verboten

Respekt. Ist uns der Respekt abhandengekommen? Wollen wir nur noch verallgemeinern? Pauschalisieren? Wollen wir Zahlen und Prozente über die Menschen stülpen? Neunzig Prozent, wo kommt das her? Lasst bitte die Frauen sprechen. Warum hören wir nicht mehr zu? Kürzlich saß eine wunderbare Dame bei Günther Jauch, sie erzählte von ihrer selbstbestimmten Arbeit, von ihrer Arbeit als Prostituierte, als Sexarbeiterin, Dienstleisterin (selbst bei dieser Wortwahl quäle ich mich, sondiere, versuche respektvoll zu sprechen, weil ich Angst habe, über ihren Kopf hinweg etwas zu sagen, was sie nicht richtig betrifft, "Nutten-Szene" las ich letztens in einer Zeitung, aber hallo!, sollte das nicht bekannt sein, dass dieses Wort, also "Nutte", der letzte Dreck ist!), sie erzählte auch über ihre Kolleginnen, die sie im Lauf der Jahre in den Räumen traf, in denen sie arbeitete.

Ich litt und erregte und quälte mich vorm Fernseher. Weil man ihr nicht zuhören wollte. Und dabei war sie es doch, die erzählen konnte und die erzählte. Dass sie frei und freiwillig ihrer Tätigkeit nachgeht. Und wie viele ihrer Kolleginnen frei und freiwillig ihrer Arbeit nachgehen. Oh nein, so der Konsens, der ihre klaren Worte nicht hören wollte, oh nein, das sind ja allenfalls Ausnahmen.

Und nun schäme ich mich fast für den Anfang dieses Textes, weil ich Klartext reden wollte. Weil ich nicht lavieren wollte. Weil ich mich vom Zorn treiben lassen wollte. Weil ich wie Émile Zola lospoltern wollte: ICH KLAGE AN.

Weil ich so viele starke und selbstbewusste und selbstbestimmte Frauen in fast fünfzehn Jahren getroffen habe. Und weil ich über sie schreiben will, über ihre Geschichten, und kein: "Ach du armes Mädchen, warum machst du denn das?" Weil ich so oft gehört habe: "Weil ich es will!" Weil ich erschüttert bin über die Idee, die Prostitution verbieten zu lassen. Weil wir hier über Hunderttausende Köpfe hinweg entscheiden, dass es immer nur die Opferrolle ist. Ja, wir entmündigen. Haben wir Frauen wie die große Domenica vergessen? Waren wir nicht schon weiter?

Es geht ums Geldverdienen

Wollen wir nicht wahrhaben, dass es (mehrere) Hurenorganisationen gibt? Dass es auch, man muss das ja nicht gutheißen, ums Geldverdienen geht? In einer Zeit, in unserer Zeit, in der die Gesellschaft von einer Übersexualisierung gleichsam überzogen wird?

Einige Frauen habe ich getroffen, die erzählten mir, dass sie Angst haben, wenn ihre Kinder alt genug sind, dass die Kinder dann Fragen stellen. Dass sie dann, mit hoffentlich genug verdientem Geld, einer anderen Arbeit nachgehen müssen oder ... Ja, oder? Wer sind wir, dass wir stigmatisieren, Opferrollen verteilen, Lösungen verlangen von Menschen, die vielleicht ihre eigenen Ideen haben, egal, ob wir das gutheißen oder verstehen?

Das alte Klischee, dass hinter jeder Sexarbeiterin ein Zuhälter steht, ist nach wie vor präsent. Aber es entspricht in großen Teilen des sogenannten Rotlichts, der Sexarbeit, einfach nicht mehr der Arbeitsrealität. Wie schnell ist man mit dem Wort "Zuhälter" bei der Hand. Verunglimpft so Nachtklubbetreiber, Vermieter, Bordellbesitzer und nicht zuletzt auch die Frauen, die selbstbestimmt in Klubs, Wohnungen, Bordellen arbeiten.

Jede einzelne Prostituierte, die mit Zwang, Menschenhandel, Zuhälterei in die Sexarbeit gebracht wird, und diese gibt es natürlich, ist eine Tragödie, ist eine Furchtbarkeit. Das ist ein Verbrechen. Jede Maßnahme, das zu unterbinden, ist richtig, natürlich. Die Handhabe besteht, die Gesetze bestehen. Das Prostitutionsgesetz von 2002 ist sicher nachzubessern. Aber es war ein Schritt, mehrere Schritte, in die richtige Richtung. Das Schaffen eines angemessenen Arbeitsumfeldes ist nicht mehr strafbar. Ist es nicht besser im Licht zu arbeiten, transparent in Klubs, in Wohnungen, die gewerblich gemeldet sind und deren Betreiber gewissen Verpflichtungen nachgehen muss?

Wo beginnt der Zwang?

Neunzig Prozent. So lauten die Angaben, was die Zwangsprostitution betrifft. Dazu kommen die neunzig Prozent, ich traue mich das gar nicht hier ernsthaft zu wiederholen und tue es doch, der Prostituierten, die schon als Kinder missbraucht wurden.

In Frankfurt traf ich vor einigen Monaten die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Hurenorganisation Dona Carmen, gemeinsam blieb uns die Spucke weg ob dieser Zahlen. Ein Klubbetreiber, den ich vor einigen Jahren traf, sagte mir "Wenn ich eine Annonce schalte, dass ich Damen für gewisse freizügige, aber gut bezahlte Dienstleistungen im Nachtklubbereich suche, klingelt mein Telefon am nächsten Tag ohne Ende."

Als Ungarn vor einigen Jahren kurz vorm Staatsbankrott stand, die Armut dort bedrohlich um sich griff, nahm die Zahl die ungarischen Sexarbeiterinnen in deutschen Städten rapide zu. Sexarbeit aus materieller Not. Keiner will das gutheißen. Aber es sind Fakten. Und natürlich ist die Frage, wo beginnt der Zwang? Viele dieser Damen sind nach einigen Jahren wieder in ihre Heimat zurückgegangen. Mit Geld. Das sie dann dort in Immobilien investierten. Haben hier Tagesmieten in Objekten bezahlt, um dort Geld zu verdienen.

Polemisch frage ich: Wo ist dann das Problem (das meine ich faktisch und geografisch)? In unserer geldbestimmten moralischen amoralischen Zeit? Und wollen wir auch hier stigmatisieren? Für andere entscheiden, wenn die Entscheidungen schwierig sind? Oh ihr Fragezeichen, wenigstens fragen wir noch.

Wo sind die Kongresse der Huren?

Ich werde mich immer daran erinnern, wie ich einmal eine polnische Frau traf, die mir die kleine Plastiktüte einer Knabberei schenkte und die mir Dinge erzählte, die tief im dunklen Abgrund lagen. Wie sie eine Zeit lang nie den Himmel sah. Und nun nichts anderes kann, obwohl sie dort hinauskam, als hier, in einer angemieteten Wohnung zu arbeiten.

Und wie ich andere Frauen traf, deren Stärke, deren Kraft mich ganz klein fühlen ließen. Und wie ich große, wunderbare Frauen traf, denen es nur ums Geld ging, "Dienstleistungen gegen Geld. Ich verkaufe weder meinen Körper noch meine Seele." Ja, das Geld, ja, das Geld, denn in diesen Zeiten leben wir. Und mit selbstbestimmten Seelen, so schwer wir uns das auch vorstellen können. Frauen, Menschen, Seelen, deren Stimmen ich jetzt gerne hören würde. Die Kundgebungen der Huren, die Kongresse der Huren, die Stimmen der Huren.

Wir müssen, auch wenn das Wort jetzt vielleicht nicht stimmt, aufhören zu ENTMANZIPIEREN. Viele der Frauen haben ihre ganz eigene Geschichte, es gibt sie nicht DIE Hure, DIE Prostituierte, DIE Sexarbeiterin, DIE Dienstleisterin. Sie gehören zu unserer Gesellschaft, zu unserer Mitte. Bitte, differenziert und kämmt sie nicht durch einen Kamm aus Blei. Bringt Respekt auf. Wir müssen zuhören.

http://www.welt.de/kultur/literarischew ... ch-zu.html




Sein Buch

Im Stein: Reisender, kommst du nach Eden City
viewtopic.php?p=134481#134481
Ich höre das Gras schon wachsen,
in das wir beißen werden!

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Lady Tanja
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Beitrag von Lady Tanja »

Wunderbar. Ich hatte beim Lesen einen Kloß im Hals.

Danke, Clemens Meyer.

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Beitrag von ehemaliger_User »

Clemens Stein war letzte Woche in Esslingen und hat vor grossem Publikum gelesen:

Die "Eßlinger Zeitung" berichtete:

http://www.esslinger-zeitung.de/lokal/e ... 095397.cfm

"Leben ist der Rohstoff, aus dem ich schöpfe"

ESSLINGEN: Clemens Meyer gibt bei LesART tiefe Einblicke in sein schriftstellerisches Tun

"Das ist ein außergewöhnliches Talent, ein wirklicher Literat", wusste die Literaturkritikerin und Autorin Ina Hartwig schon nach der Lektüre von Clemens Meyers spektakulärem Debüt "Als wir träumten". Bei den Esslinger Literaturtagen LesART war der solchermaßen gelobte Autor mit seinem jüngst erschienenen Roman "Im Stein" zu Gast und gewährte im Gespräch mit Ina Hartwig tiefe Einblicke in sein schriftstellerisches Tun.

Raum für den inneren Dialog
Für einen 36-Jährigen überraschend tief, manchmal ein wenig rau, dann wieder ganz weich, ist Clemens Meyers Stimme. Zu Beginn des ersten Kapitels von "Im Stein" (S. Fischer Verlag, 22.99 Euro) lässt er eine junge Frau in der Ich-Form von ihrem Leben erzählen. Sie erinnert sich an ihre Kindheit, als die Mutter ihr abends "Der Mond ist aufgegangen" vorsang. Wenn sie selbst einmal ein Kind hat, nimmt sie sich vor, wird sie ein weniger trauriges Schlaflied wählen. Die junge Frau arbeitet als Prostituierte und wartet auf den nächsten Freier. "Der Großteil der Arbeitszeit besteht aus Warten. Das Fernsehen ist leise gestellt, das Radio dudelt, sie wartet, dass das Telefon läutet oder dass es an der Tür klingelt. Das ist eine klassische Ausgangssituation, um in ihren Kopf hineinzuschauen, um zu zeigen, wie ihre Gedanken gehen, und um ihre Bewusstseinsströme zu verfolgen", analysiert Clemens Meyer seine Vorgehensweise. Er lässt die junge Frau den Raum mit ihrem inneren Dialog, mit ihren Gedanken und Träumen füllen. Das ist sehr direkt, sehr realistisch und manchmal sehr berührend, wenn sie sich ihre Welt schönredet. "Die Stimmen der Frauen sind die Säulen, die das Buch tragen", erläutert Meyer. Es sei, ergänzt Ina Hartwig, für diesen Roman programmatisch, dass die Frauen Subjekt sind und "eben nicht zum Objekt und zur Projektionsfläche Hure werden".

Über zehn Jahre hat Clemens Meyer für sein Buch „Im Stein“ recherchiert, um das Leben und Arbeiten im Rotlichtmilieu zu erforschen, zu beschreiben und zu durchdringen. Er hat die literarischen Auseinandersetzungen mit dem Thema ebenso studiert wie dokumentarische Texte, Huren-Biografien und Berichte aus dem Alltags- und Berufsleben von Sexarbeiterinnen. Und er hat ungezählte Gespräche mit Prostituierten geführt. Dabei hat er sich ganz zu-rückgenommen: "Man muss ausloten, ein Gefühl kriegen, Verständnis aufbauen. Ganz neutral und wertungsfrei, nicht empört. Man darf nur wenig und wenn, dann vorsichtig, fragen. Man muss Augen und Ohren haben. Hier findet Leben statt. Und Leben ist der Rohstoff, aus dem ich schöpfe." Eine Fülle von Stimmen, Tonfällen, Melodien und Perspektiven hat er dem Leben abgelauscht und auf 550 Seiten zu einem vielschichtigen Roman komponiert.

Dabei wollte Clemens Meyer ausdrücklich keine Milieustudie schreiben. Die Kritik nennt "Im Stein" ein Gesellschaftsepos, einen Wirtschafts-Roman, einen Großstadt-Roman, den Epochen-Roman unserer Zeit und eine "Weltenschlacht". Clemens Meyer zeichnet das Rotlichtmilieu als Spiegel- und Zerrbild der Gesellschaft. Er erzählt davon, dass im Verlust alle gleich sind: "Hier Opfer, hier Böser. So funktioniert die Welt nicht. Es gibt nicht die Hure, den Zuhälter, den Bordellbesitzer oder den Freier." Er nützt das Rotlichtmilieu als Fundament, um daran die großen Fragen der Literatur abzuhandeln: Er erzählt - arrangiert in einen großen Chorus - von Aufstieg und Fall, von Moral und Unmoral, von Schuld, vom Großstadtmythos, vom Fluss des Geldes und vom Wandel in den vergangenen 25 Jahren.

Jede Figur hat ihr Geheimnis

Anhand einiger der unzähligen kleinen Geschichten, die sich zur großen Geschichte dieses Romans zusammenfügen, erläuterte Clemens Meyer im ausverkauften Kutschersaal der Esslinger Stadtbücherei tiefgreifende Zusammenhänge, einzelne Aspekte und überraschende Entwicklungen, um plötzlich zu erschrecken: "Ich verrate ja alles." Gleich darauf beruhigte er sich jedoch selbst: "Man kann alles verraten, weil sich eh nicht alles auflöst." Einen Eindruck, den Ina Hartwig, die diesen Abend kenntnisreich und einfühlsam moderierte, teilte: "Es gibt bei jeder Figur ein Geheimnis." So wie auch der Romantitel "Im Stein" ganz unterschiedliche Bilder heraufbeschwört: Die Großstadt, hinter deren Mauern die Figuren festsitzen. Das steinerne Herz bei Wilhelm Hauff, E.T.A. Hoffmann oder Arno Schmidt. Die Gesteinsmassen und -schichten, aus denen die Erde aufgebaut ist.
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