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Holzleithner
Sexuelle Autonomie
Vortragsmanuskript 2004
1
Sexuelle Autonomie zwischen Recht, Macht und Freiheit
1
Elisabeth Holzleithner
Sexualität zwischen Sittlichkeit und Freiheit
Hochglanzmagazine aller Arten thematisieren den Status des Sexuallebens verschiedener
Populationen in regelmässigen Abständen. Sie lassen den Eindruck entstehen, das “Sexuelle”
sei als Thema heutzutage unproblematisch und das Sexualleben der einzelnen Person bedürfe
nur einiger therapeutischer Interventionen, um in jedem Lebensalter und Beziehungsstatus zur
Blüte der Erfüllung gelangen zu können.
Wie prekär der Status des Sexuellen trotz aller Beschwörungen von Freiheit und Lust
gleichwohl geblieben ist, zeigt sich aber häufig in Debatten um Aufklärungsbroschüren, gar
wenn sie an Schulen verteilt werden sollen. Wenn solche Broschüren zu „progressiv“
ausfallen, herrscht allenthalben Verstörung. Wenn der Kulturkampf darum eröffnet ist, halten
sich die Verfechter der Freiheit erstaunlich verzagt im Hintergrund.
An der Kontrastierung dieser beiden Medien – Hochglanzmagazine auf der einen,
Aufklärungsbroschüren auf der andere Seite – zeigt sich eine eigenartige, für das Thema
charakteristische Zwiespältigkeit in den öffentlichen Diskursen. Sie können damit erklärt
werden, dass konventionelle Vorstellungen eines gelungen-geglückten Lebens im Bereich des
Sexuellen von der “sexuellen Revolution” und ihren Ausläufern höchstens überdeckt,
verschoben und erweitert, nicht aber abgelöst worden sind. Zumal wenn es um die Jugend
(oder gar um die eigenen Kinder) geht, scheint das im öffentlichen Diskurs obsiegende
Leitbild eher die sexuelle Zucht zu sein als ein wesentlich mehr Komplexität erforderndes
Verständnis von sexueller Autonomie. Ein Grund dafür dürfte wohl darin liegen, dass die
Ergebnisse sexueller Sittlichkeit gleichsam vorgegeben sind: ein geordnetes Sexualleben
(gegebenenfalls mit ein paar “Ausrutschern”) im Rahmen einer heterosexuellen Beziehung
(modern: Lebensabschnittspartnerschaft) oder (im Optimalfall) einer Ehe.
Das vermittelt Sicherheit. Eine solche Vorstellung von Lebensglück ermöglicht die
Bewegung auf bekannten Schienen. Es ist möglich zu scheitern, aber das macht das Ziel meist
nicht weniger attraktiv, und vor allem: es ist bekannt. Wir wachsen alle damit auf.
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Vortrag vor den „Juristinnen Schweiz“ in Bern, 20.10.2004. Erweiterte Fassung von Elisabeth Holzleithner, Das
Sexuelle im Recht: Zwischen Autonomie und Verdinglichung, in: Olympe. Feministische Arbeitshefte zur Politik. Kreativ –
skeptisch – innovativ. Frauen formen Recht, Heft 17/Dezember 2002, 48-59
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Ein Konzept sexueller Autonomie hingegen ist vom Ergebnis her offen und macht Platz auch
für “minoritäre” Positionen: lesbische, schwule, bisexuelle, transgender Lebensweisen und
sexuelle Praktiken, die den Rahmen des Reproduktiven sprengen. Gerade bei Debatten über
den Stellenwert von sexuellen Minderheiten wird aber häufig auf das traditionelle begriffliche
und wertende Repertoire zurückgegriffen, werden Ängste erzeugt, die sexuelle Normalität
könnte ausgehebelt und von sexueller Unordnung ersetzt werden. „Wir“ können diese
Zwiespältigkeit nicht einfach nach aussen verlagern. Sie liegt auch „in uns“, wir sind ihre
„Produkte“, durch sie konstituiert.
Bemerkenswert scheint mir an dieser Wahrnehmung, dass das Verlassen der Konvention
sogleich mit, um es drastisch auszudrücken, der Zersetzung der etablierten Ordnung und ihrer
Werte gleichgesetzt wird. Mein Eindruck ist, dass dies deshalb passiert, weil Freiheit nur als
Willkür gesehen werden kann und nicht als „verantwortete Freiheit“. Diese Unterstellung
willkürlichen Verhaltens trifft auch die Menschen, die Wege ausserhalb der Konventionen
suchen. Sie unterliegen dem Verdacht, damit gleichzeitig jene Werte abzulehnen, für welche
die Konventionen zu stehen kommen: Verantwortung, Bindung, Loyalität, Liebe, Familie.
Statt dessen scheint ein Leben am Rande von seelischer Verwahrlosung, Krankheit und Tod
zu drohen – und ohne soziales Prestige. Diese Sichtweise ist verkürzt, wie ich anhand eines
normativ anspruchsvollen Begriffs der sexuellen Autonomie zeigen möchte. Dafür brauche
ich eine weitere Achse der Kritik.
Feministische Interventionen und der Rechtsdiskurs
Dieses Spannungsfeld von Ordnung und Unordnung wird weiter verkompliziert durch
feministische Kritiken an konservativen wie an Befreiungsdiskursen des Sexuellen. Weder
Sittlichkeitsdiskurse noch solche, denen es um ein freies Erleben der Sexualität ohne
konventionelle Schranken geht, können, so die feministische Kritik, die prekäre Lage und
Verdinglichung weiblicher Sexualität sowie die Gefahren, denen Frauen in sexuellen
Kontexten ausgesetzt sind, hinreichend wahrnehmen; sie hätten – beide – nicht einmal ein
Vokabular dafür.
Die feministische Kritik war von Anfang an gegen öffentliche Repräsentationen des
Sexuellen gerichtet. Eine zentrale Arena war und ist das Recht. Feministische Interventionen
haben einen wesentlichen Anteil daran, dass – jedenfalls auf gesetzlicher Ebene – traditionelle
Konzepte und Begrifflichkeiten aus dem Repertoire der Sittlichkeit von solchen sexueller
Integrität abgelöst wurden. Das rechtliche Anliegen bestand und besteht darin, ein adäquates
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Konzept sexueller Autonomie zu erarbeiten, um sexuelle Übergriffe begrifflich und inhaltlich
opfersensibel zu erfassen. Die andere Seite dieser Bewegung ist das Anliegen, sexuelle
Handlungsspielräume zu erweitern, insofern sexuelle Handlungen harmlos sind, also keinen
Schaden anrichten – eine schwierige, überaus umstrittene Frage.
Einerseits sind moderne westliche Rechtsordnungen umgestiegen auf das neue Konzept der
sexuellen Autonomie, andererseits wurden traditionale Sittlichkeitskonzeption damit nicht
einfach verabschiedet. Sie spielen noch immer eine grosse Rolle und vermischen sich mit
postkonventionellen Diskursen. Das ist die Ausgangslage für den folgenden Versuch, ein
Konzept sexueller Autonomie zu skizzieren, das weder die Idee sexueller Freiheit aufgibt,
noch feministische Anliegen aufgibt. Der Plural ist wichtig, denn das „feministische Wir“ ist
vielstimmig. Und auch wenn es manchmal recht anstrengend klingt, wenn die Harmonien
wild durcheinander gehen und das Publikum dem Chor etwas verstört zuhört, ist doch jede
dieser Stimmen ein wichtiger Beitrag, der uns ermöglichen kann, unsere Welt – das
Patriarchat – zu verstehen.
Dabei skizziere ich zunächst ein Konzept der Autonomie, das für die Sphären des Sexuellen
aktualisiert wird. Daran anschliessend wird das Spektrum des Sexuellen im Spannungsfeld
von Öffentlichkeit und Privatheit unter Bedingungen moderner kapitalistischer
Konsumgesellschaften aufgefächert. Schliesslich möchte ich in Auseinandersetzung mit
prominenten feministischen Theoretikerinnen die Frage stellen, inwieweit sexuelle
Autonomie für Frauen Realität werden kann.
Begriff der sexuellen Autonomie
Sexuelle Autonomie basiert auf wechselseitiger personaler Anerkennung als gleichermassen
freies Individuum mit der Kapazität, eigene Entscheidungen zu treffen und daraufhin zu
handeln und dem Recht, in der eigenen Integrität geschützt zu werden. Diese beiden
Komponenten, die auch als “positive” und “negative” Freiheit (im Sinne von: Freiheit “zu”
und Freiheit “von”) bezeichnet werden, stehen in Wechselwirkung miteinander. Nur wer in
der je eigenen Integrität geschützt ist und sich darin geschützt fühlt, kann auch autonome
Entscheidungen treffen.
Was bedeutet es, autonom zu handeln? Es braucht dafür mehrere Voraussetzungen: gewisse
intellektuelle Kapazitäten, die es möglich machen, Entscheidungen zu treffen, eine Auswahl
an Möglichkeiten sowie die Abwesenheit von Zwang und Manipulation (Raz 1986, 372-373).
Sexuelle Autonomie ist „harmlos“: Sie ist dadurch definiert, dass in niemandes Integrität
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eingegriffen und niemand in seinen oder ihren legitimen Handlungsfreiheiten beschnitten
wird.
Um den Begriff für in unserem Kontext anwendbar zu machen, ist es des Weiteren
erforderlich, die Spezifika des „Sexuellen“ zu skizzieren. Einige wenige Punkte seien
herausgegriffen.
2
Sexuelle Diskurse zeichnen sich durch eine spezifische Dramaturgie aus.
Sexuelle Akte bewegen sich in einem Bogen von Reizverstärkung bis hin zu Entspannung.
Die dabei erfolgende „Verdichtung“ des sexuellen Diskurses kann Lust steigernd wirken bis
hin zum Erleben von Ekstase. Im Zuge solcher Vorgänge erleben sich Menschen in einem
Zustand erhöhter Sensitivität, welche mit einer verstärkten Vitalität, zugleich aber auch mit
einer gesteigerten Verletzbarkeit einhergeht. Das Individuum befindet sich in einer
Ambivalenz zwischen Selbstentfaltung und Selbstentfremdung. Dies hat auch mit dem der
„Triebcharakter“ des Sexuellen zu tun. Im Sexuellen ist Autonomie relativ, weil es auch
damit zu tun hat, sich „gehen“ zu lassen. Im Optimalfall wird Macht in sexuellen Diskursen
konsensuell verteilt und bewegt sich in einem wechselseitigen Geben und Nehmen. Im Fall
sexueller Gewalt wird diese Balance gar nicht angestrebt wird oder die übergriffige Person,
meist männlichen Geschlechts, realisiert nicht, dass sie den Rahmen einverständlicher
sexueller Diskurse verlassen hat.
Die geschilderten Spannungsfelder werden dadurch weiter verkompliziert, dass sich im
Sexuellen einerseits die Kapazität zur Reproduktion realisieren kann, es aber andererseits
auch „Spielcharakter“ hat (wobei eine Kombination selbstverständlich nicht ausgeschlossen
ist). Das Sexuelle ist des Weiteren in westlichen Gesellschaften für das personale
Selbstverständlich so bedeutsam geworden, dass von einer „sexuellen Identität“ gesprochen
werden kann, die im Lauf eines Lebens mehr oder weniger bewusst entwickelt und aufgebaut
wird. Solch eine sexuelle Identität zu entwickeln ist ein immer wieder prekärer Prozess. Das
Sexuelle verspricht, Mittler von Liebe und Anerkennung zu sein; scheint die Wahrnehmung
als sexuell attraktiv verweigert zu werden, so kann dies als nachgerade existenzielle
Bedrohung empfunden werden. Im Wechselspiel von Anerkennung und deren Verweigerung,
von geglückten sexuellen Begegnungen und solchen, aus denen die Person mit dem Gefühl
herausgeht, verletzt worden zu sein, entwickelt sich ein sexuelles Selbst als Teil der eigenen
Persönlichkeit.
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Ich stütze mich bei den folgenden Überlegungen auf Benke/Holzleithner 1998.
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Dem Recht kommt in diesem komplexen Feld eine bedeutende Rolle zu. Denn es umreisst
sozial konsentierten Grenzen sexueller Autonomie. Es konstituiert den Rahmen, innerhalb
dessen sexuelles Handeln erlaubt und sexuelle Integrität geschützt ist. Insofern ist sexuelle
Autonomie ein Rechtsgut. In diese Sinne kriminalisiert etwa das Strafrecht jene Handlungen,
die gravierende Bedrohungen sexueller Autonomie darstellen und macht damit deutlich, “dass
die Rechtsgemeinschaft derartige Übergriffe nicht duldet.” (Holzleithner 2002, 103)
Sexuelle Autonomie ist ein relativ rezentes Rechtsgut. Erst seit Beginn der siebziger und
achtziger Jahre hat es sukzessive (und in einzelnen Staaten zeitversetzt) das Rechtsgut der
Sittlichkeit im Bereich des Sexuellen als Kategorie der öffentlichen Ordnung und Moral
abgelöst. Wesentlichen Einfluss hatten feministische Diskurse, die auf die Inadäquatheit
traditioneller Konzepte und Begriffe hinwiesen. Eine bedeutende Rolle spielte die
feministische Infragestellung der herkömmlichen Unterscheidung von Öffentlichkeit und
Privatheit und ihrer Rolle bei der Fassung sexueller Integrität im Rechtsdiskurs. Daher
möchte ich im Folgenden die einzelnen Themen sexueller Autonomie und deren Gefährdung
und Verletzung in diesem Spannungsfeld auffächern.
Facetten sexueller Autonomie in Öffentlichkeit und Privatheit
Weder der öffentliche noch der private Raum ist einfach gegeben: Was öffentlich oder privat
ist, beruht auf politischen und sozialen Arrangements sowie rechtlichen Entscheidungen
darüber, welches Handeln als Teil der Privatsphäre zu schützen ist und welches nicht. Räume
„sind“ nicht einfach öffentlich oder privat, sondern sie werden symbolisch als solche
„hergestellt“.
Ich würde folgende Fassung von Öffentlichkeit und Privatheit vorschlagen, wie sie für die
aktuelle Verfasstheit moderner, westlicher, kapitalistischer Gesellschaften charakteristisch zu
sein scheint: Zum Bereich der Öffentlichkeit zählen Politik und Berufsleben ebenso wie
Handlungen, die sich physisch im öffentlichen Raum abspielen. Zum Bereich des Privaten
zählen Ehe, Familie und Beziehung sowie Handlungen, die sich physisch in privaten Räumen
abspielen. Eingriffe staatlicher Gewalt in solche symbolische und reale Räume werden
regelmässig als besonders erklärungsbedürftig charakterisiert (Holzleithner 2002, 9-10). Diese
Definition wird im Folgenden anhand der Fragen, die sich für sexuelle Autonomie in den
Räumen des Öffentlichen und des Privaten stellen, noch einer näheren Bestimmung
zugeführt.
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Ich beginne meine Darstellung im Raum des Privaten. Das Private wird als der legitime Ort
des Sexuellen gesehen. Öffentliche Räume als sexuelle Räume einzurichten ist immer ein
umstrittenes Unterfangen. Menschen müssen sich für ihr Verhalten im öffentlichen Raum
anders rechtfertigen als für jenes in ihren privaten “vier Wänden”. Der Privatbereich ist oft als
der Ort gezeichnet worden, wo Menschen allein gelassen werden sollen und können. Das ist
die eine, wenn man so will, “positive” Seite des Privaten. Jede und jeder von uns braucht
solche Ruhe und das Gefühl, unbeobachtet zu sein, und das gar nicht selten. Auf die
problematische Seite weist etwa schon Hannah Arendt (1958, 39) hin – unter Verweis auf die
Herkunft des Begriffs und seine Bedeutung im Griechischen: “Privat sein” bedeutet auch, in
einem “Zustand der Beraubung″ sein (Arendt).
Der private Bereich könnte als solcher gefasst werden, in dem definitionsgemäss keine
öffentlichen Interessen auf dem Spiel stehen. Ist letzteres der Fall, wird der private Raum sehr
schnell zur symbolischen Öffentlichkeit.
Die spezifische neuzeitliche Konzeption von Privatheit als geschützter Raum des Intimen
kulminiert in der traditionellen, mittlerweile (rechtlich) überkommenen Konzeption der Ehe
als vom Recht geschaffener rechtsfreier Raum. Die Ehe wird als symbolischer Ort hergestellt,
der vor Eingriffen des Staates immunisiert. Gleichzeitig wird ihre Naturwüchsigkeit betont,
welche die Zurückhaltung des Staates mitbegründet. Argumentiert wird mit den Rechten von
Ehepartnern (sprich: Männern) auf sexuellen Zugang zu ihren Frauen und damit, dass die
Hemmschwellen im privaten Raum bzw. zwischen jenen Menschen, die für gewöhnlich
bestimmte Dinge tun, herabgesetzt sind. Durch die Herstellung von “Privatheit” (oder
“Familie”) konstituiert Recht somit einen Raum, in dem die Macht des Stärkeren rechtens
wird.
Bei einer solchen Fassung von Privatheit wird (Ehe)Frauen im Grunde der Status als
gleichwertige Bürgerinnen abgesprochen. Denn eine grundlegende Voraussetzung für die
Zugehörigkeit zu einer politischen Gemeinschaft besteht darin, dass ihre Mitglieder sich
soweit gegenseitig schätzen und in ihren Interessen ernstnehmen, dass sie sich wechselseitig
schützen: entweder unmittelbar oder mittelbar durch den Staatsapparat. Wenn einigen diese
Form von Solidarität verweigert wird, werden sie aus der politischen Gemeinschaft
ausgeschlossen. (Phelan 2001, 24)
Die meisten westlichen Rechtsordnungen sind von einem solchen Privatheitskonzept
jedenfalls dem Buchstaben des Gesetzes nach abgegangen und kriminalisieren
Vergewaltigungen in der Ehe sowie innerhalb und ausserhalb einer Lebensgemeinschaft
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gleichermassen. Privilegierungen von Ehemännern und Lebensgefährten gibt es
gegebenenfalls im Rahmen der Strafverfolgung und Strafzumessung.
Kommen wir damit zu Themen der positiven sexuellen Freiheit (im Sinne “harmlosen
Verhaltens”) im privaten Bereich. Welche Formen der sexuellen Betätigung sind, zumindest
solange sie vor den Augen der Öffentlichkeit verborgen bleiben, legitim?
Die Frage hat verschiedene Dimensionen. Dazu gehören Alter und das damit
korrespondierende Thema des Jugendschutzes, der Status der involvierten Personen
(verheiratet/unverheiratet, verwandt, verschwägert), Anzahl und Geschlecht der
SexualpartnerInnen, Art der sexuellen Handlungen: mit Gegenständen; solche, die “Spiele mit
Macht” involvieren und gegebenenfalls auch eine gewisse Verletzungsgefahr beinhalten.
Bestimmte sexuelle Handlungen bzw. Handlungen zwischen bestimmten Menschen waren
lange Zeit als solche verboten, unabhängig davon, ob sie öffentlich wahrnehmbar waren oder
nicht. Das Spektrum verbotener Handlungen hat in der Geschichte jeglichen ausserehelichen
Geschlechtsverkehr umfasst, egal ob zwischen Menschen gleichen oder verschiedenen
Geschlechts.
Die negative Bewertung von Sexualität im Allgemeinen und von Homosexualität im
Besonderen zeigt sich an den Konflikten um die Reichweite des Jugendschutzes. Dieser ist
(immer noch) von der Vorstellung geprägt, Jugendliche seien davor zu schützen, homosexuell
zu werden. Dafür diente historisch zunächst das Strafrecht mit einem höheren “Einstiegsalter”
(“age of consent″) für sexuelle Handlungen unter männlichen Personen. Als weitere rechtliche
Massnahmen kommen Verbote der “Werbung” für “Homosexualität” in Frage, wobei der
Begriff der “Werbung” reichlich dehnbar ist.
3
In Grossbritannien verbietet etwa Section 28
des Local Government Act den lokalen Autoritäten, für Homosexualität zu werben; vor allem
Schulen sollen von positiven Darstellungen homosexueller Beziehungen freigehalten werden.
Mit einer solchen “Reinigung” der Öffentlichkeit wird versucht, die “Verführung” zur
Homosexualität zu verhindern.
Damit haben wir uns bereits in den Bereich jener Fragen begeben, die sich im Zusammenhang
mit einem öffentlichen oder veröffentlichten sexuellen Handeln stellen: Welches sexuelle
Handeln, das in der Öffentlichkeit in Erscheinung tritt, ist legitim als Ausdruck sexueller
Autonomie? Welche Grenzen sind dem sexuellen Handeln und Ausdruck im Licht sexueller
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Autonomie zu setzen? Die ganze Frage wird nicht zuletzt dadurch tückisch, dass
Anspielungen auf das Sexuelle integraler Bestandteil kapitalistischer Vermarktungsstrategien
sind: “Sex sells”.
Wie viel Sexualität die “Öffentlichkeit” verträgt, hat mit der Wahrnehmbarkeit zu tun. Die
Grenzen sind fliessend: Ein Kuss, eine Berührung, eine bestimmte Art, sich zu kleiden und zu
gehen kann je nach kulturellem Kontext sexuelle Konnotationen tragen und auch rechtliche
Konsequenzen nach sich ziehen.
Manche Rechtsordnungen verbieten etwa ein öffentliches Verhalten, das auf eine
“Anbahnung” von sexuellen Handlungen gegen Entgelt “abzielt”. Prostitution wird darüber
hinaus aufgrund ihres Entgeltcharakters als “öffentliches” sexuelles Verhalten angesehen und
von daher einem rechtlichen Regime unterworfen – es liegt, rechtlich gesehen, nicht (nur) in
der persönlichen Autonomie von Frauen und Männern, sexuelle Dienstleistungen anzubieten.
Eine andere Dimension, die Prostitution zu einem auch für Feministinnen schwierigen Thema
macht und zu einer weitgehenden Ablehnung von Prostitution als Beruf geführt hat, ist das
Problem der sexuellen Ausbeutung und Verdinglichung. Sexuelle Dienstleistungen
anzubieten würde bedeuten, sich selbst zur Ware zu machen und sich darüber hinaus
männlicher sexueller Gewalt auszuliefern. Andere wiederum meinen, es möge aufs
„Moralisieren“ verzichtet werden: Es seit geboten, Prostitution als Beruf anzuerkennen und
sich konkret um eine Verbesserung des Status von Prostituierten und ihre Arbeitsbedingungen
zu sorgen.
Ist das überhaupt möglich? Die Situation von SexarbeiterInnen im Spannungsfeld von grauem
Markt, Migration, Menschenhandel und Rassismus ist überaus prekär. Polizeiliche
Belästigungen aufgrund rassistischer Zuschreibungen und Mutmassungen sind an der
Tagesordnung. Welche Massnahmen wären notwendig, um dem entgegen zu wirken? Ich
kann an dieser Stelle weder eine tiefgehende Analyse leisten noch praktische
Handlungsanweisungen geben, sondern muss mich auf die grobe Diagnose beschränken.
Eine weitere Zuspitzung erfährt das Thema der sexuellen Autonomie, wenn es um
öffentlichen Sex als solchen geht. Öffentliche sexuelle Handlungen spielen sich meist an
3
Das zeigt sich in Österreich etwa an der Judikatur zum Pornographiegesetz, in der das Verbot der “Werbung für
gleichgeschlechtliche Unzucht oder Unzucht mit Tieren” (der ehemalige § 220 österreichisches Strafgesetzbuch) verwendet
wurde, um Pornographie mit gleichgeschlechtlichen sexuellen Handlungen zu kriminalisieren. Siehe dazu Holzleithner 2001.
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Orten und zu Zeiten ab, wo sie nur für Interessenten wahrnehmbar sind.
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Entsprechende
Verbote zum Schutz der öffentlichen Sittlichkeit werden eher selten und selektiv
durchgesetzt.
Die Nichtwahrnehmbarkeit oder das nicht wahrnehmen müssen von sexuellen Handlungen in
der Öffentlichkeit kann als ein Aspekt der “negativen Freiheit” im öffentlichen Raum
angesehen werden. Sicherlich ist das einer der Hintergründe für Rechtsnormen, die solches
Verhalten als (verwaltungs)strafrechtliches Delikt verbieten. Darüber hinaus weist die
Problematik, wie die Rechtsordnung mit gezielten sexuellen Übergriffen in der Öffentlichkeit
umgeht. Dabei ist zunächst zu unterscheiden zwischen öffentlichen Räumen wie der Strasse
und Parks und (halb)öffentlichen Räumen wie der Arbeitsstelle.
Gravierende sexuelle Übergriffe im öffentlichen Raum sind die klassisch
“unproblematischen″ (und oft schwierig aufzuklärenden) Fälle von Vergewaltigung und
sexueller Nötigung (je nach “Tathandlung”). Jede Rechtsordnung zieht eine Grenze zwischen
kriminalisierten sexuellen Übergriffen und solchen Übergriffen, die zu geringfügig sind, um
vom Strafrecht erfasst zu werden. Ein solcher Fall lag in Österreich vor einigen Jahren vor,
als eine Frau in der U-Bahn “begrapscht″ wurde und ein Gericht den Täter freisprach, weil
sein Verhalten zwar als anstössig aber nicht als geschlechtliche Nötigung zu klassifizieren
war.
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Ein solches Verhalten am Arbeitsplatz wäre demgegenüber als “sexuelle Belästigung” zu
ahnden. Als rechtlich relevantes Konzept wurde die sexuelle Belästigung von Frauen am
Arbeitsplatz Ende der siebziger/Anfang der achtziger Jahre von feministischen Juristinnen
entwickelt (vgl. MacKinnon 1979). In den USA wurde das Konzept durch die Judikatur des
Supreme Court in die Rechtsordnung inkorporiert.
6
In Europa spielte die Europäische Union
7
eine Vorreiterinnenrolle. Der Weg führte über Vorschriften zunächst des “Soft Law” (Recht
mit Empfehlungscharakter und ohne Sanktionen), zunehmend in das Zentrum des
Arbeitsrechts und Schadenersatzrechts: Wer eine Arbeitnehmerin oder einen Arbeitnehmer
sexuell belästigt, hat für den dadurch entstandenen Schaden an Karriere und Psyche
aufzukommen. Derartige Regelungen sind in viele nationale Rechtsordnungen aufgenommen
4
Schwule Männer haben eine Kultur öffentlicher Sexualität, die aus der Not früherer Verbote heraus entstanden ist.
Die Orte variieren: der Park, das öffentliche WC, die Sauna, das Badehaus.
5
Eine interessante Stellung nimmt der § 218 öStGB ein, der sexuelle Handlungen im öffentlichen Raum verbietet. Er
wurde als Bestimmung gegen geringfügigere sexuelle Übergriffe propagiert (Stichwort: öffentliches „Grapschen“), ist aber
mitten unter den Delikten gegen die öffentliche Sittlichkeit platziert und könnte so vor allem gegen bestimmte schwule
Populationen und gegen Sexarbeiterinnen zum Einsatz kommen.
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Siehe dazu MacKinnon 1994, 51-76.
7
Siehe dazu etwa die Studie der Europäischen Kommission 1998.
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worden. Als Dimensionen sexueller Belästigung werden in geltenden Rechtsnormen folgende
Verhaltensweisen gezählt: Direkte und indirekte sexuelle Belästigung durch KollegInnen und
Vorgesetzte, die Schaffung eines feindseligen Arbeitsumfeldes und das Verknüpfen
beruflichen Fortkommens mit sexuellem “Entgegenkommen” (“quid pro quo”).
Die rechtliche Durchsetzung jener Ansprüche, die wegen sexueller Übergriffe entstehen, ist
sehr schwierig. Sie scheitert vielfach an Beweisproblemen und bisweilen an einer
RichterInnenschaft, die nicht sonderlich sensibilisiert ist. Eine besondere Dimension dieser
Problematik ist der prekäre Status des Sprechens über sexuelle Gewalt vor Gericht. Catharine
MacKinnon zeigt auf, was passiert, wenn das Opfer davon spricht, was der Täter gesagt
und/oder getan hat: “Wenn diese Dinge gesagt wurden, waren es seine Worte. Sie sagte sie in
Anführungszeichen. Aber es ist die Frau, der sie zugeschrieben werden, wenn sie sie
ausspricht.” (MacKinnon 1994, 68) Das Sprechen über über sexuelle Gewalt sexualisiert das
Opfer und macht rechtliche Verhandlungen darüber zu prekären Anlässen. Zugespitzt
formuliert MacKinnon (1994, 69): “In einer Welt, die von Pornographie gemacht wird, sind
Zeugenaussagen über sexuelle Belästigung live-Pornographie mit dem Opfer als Star.”
Damit sind wir bei der Frage nach der Pornographie angelangt. Thema von “Pornographie″
sind sexuell explizite Darstellungen und Inszenierungen. Die Benennung einer Darstellung
oder Situation als “pornographisch” bringt zumeist – im Gegensatz zur Erotik – eine
Negativbewertung zum Ausdruck.
Pornographie liegt in besonderem Masse an der Schnittstelle von Öffentlichkeit und
Privatheit. Sie wird auf verschiedenen Märkten im öffentlichen Raum (neuerdings im
Internet) gehandelt, stellt eine Veröffentlichung des Sexuellen dar und wird (zumeist) privat
konsumiert.
Ist das Herstellen und das Betrachten von Pornographie genuiner und legitimer Ausdruck
sexueller Autonomie? Oder sind beide Handlungen – die eine als die Voraussetzung der
anderen – aus verschiedenen Gründen problematisch, etwa weil die Publikation von Männern
und Frauen in sexuellen Posen den gesellschaftlichen Sexismus befördert? Diese Frage hat die
feministische Bewegung gespalten. Ich werde ihr im folgenden letzten Abschnitt dieses
Textes nachgehen.
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8
Eine umfassende Auseinandersetzung findet sich in Holzleithner 2000.
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Die Frage nach der Autonomie – feministische Perspektiven
Können Frauen sexuell autonom leben? Eine einflussreiche Strömung innerhalb des
Feminismus bestreitet dies eloquent. Theoretikerinnen wie Catharine MacKinnon meinen,
dass die Vorstellung, Frauen wären in westlichen patriarichalen Gesellschaften sexuell
autonom, nachgerade absurd ist: “All women live in sexual objectification the way fish live in
water.” (MacKinnon 1989, 149) Wie wird diese starke These begründet?
Vergegenwärtigen wir uns die Bedingungen autonomen Handelns. Dass Frauen hinreichende
intellektuelle Kapazitäten für autonomes Handeln haben, steht ausser Streit. Allerdings kann
es nach Ansicht mancher Feministinnen sein, dass sie unter „falschem Bewusstsein“ leiden.
Ihre Zurichtung zur Weiblichkeit liesse sie ihre Unterdrückung nicht wahrnehmen.
Feministische Theoriebildung bewegt sich hier auf dünnem Eis, schon gar, wenn der Verdacht
des falschen Bewusstseins auf alle ausgeweitet wird, die nicht mit ihnen übereinstimmen.
Dennoch mögen Einzelfälle von dieser Analyse profitieren, deshalb möchte ich sie weder
missen noch unterschlagen.
Häufiger jedoch wird als Grund für das Fehlen von (sexueller) Autonomie die Abwesenheit
eines adäquaten Bereichs von Lebensmöglichkeiten sowie die permanente Anwesenheit von
Zwang und Manipulation gesehen. Ökonomische und soziale Unfreiheit von Frauen in
patriarchalen Gesellschaften, die Abhängigkeit vieler Frauen von einem “versorgenden”
Ehemann verhindern ihre Autonomie. Auf symbolischer Ebene sind der Stellenwert und die
Bedeutung von Pornographie in der Herstellung und Aufrechterhaltung der Relation von
Dominanz und Unterwerfung zu nennen, mit der das Geschlechterverhältnis charakterisiert
wird.
Im Mittelpunkt radikalfeministischer Überlegungen zum Sexuellen steht somit eine Kritik an
Pornographie als zentraler Ort der Unterdrückung von Frauen. Durch Pornographie werde das
Sexuelle zur Ware. Frauen als Objekte von Pornographie werden verdinglicht, leben in einem
Zustand permanenter Verdinglichung. Pornographie, so meint MacKinnon, stelle Frauen als
“Dinge” für den sexuellen Gebrauch her. Sie lasse ihre (ausschliesslich männlichen)
Konsumenten verzweifelt wollen, dass Frauen sich nach sexueller Inbesitznahme, nach
grausamer und entmenschlichender Behandlung sehnen (MacKinnon 1989, 139).
Das Sexuelle ist nach MacKinnon ein soziales Fabrikat des Sexismus, der sich in
Pornographie zeigt und durch Pornographie hergestellt wird. Weibliche Sexualität besteht
darin, von Männern besessen und konsumiert zu werden. Für gelingende sexuelle
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Verhältnisse ist weder im heterosexuellen noch in homosexuellen Begegnungen Platz.
Pornographie stelle die Erfahrung einer Sexualität her, die als solche verdinglicht ist. In einer
solchen Konstellation, die westliche Gesellschaften kennzeichne, sei die Zustimmung zu
sexuellen Handlungen ein leeres Konzept. Sie diene ausschliesslich dazu, die Realität der
Gewalt im sexuellen Verhältnis der Geschlechter zu verschleiern (MacKinnon 1989, 140-
141).
Aus diesem Grund müsse auch die Anwendung von Rechtsnormen, welche den Schutz der
sexuellen Integrität verbürgen sollen, scheitern: Eine Unterscheidung zwischen Freiwilligkeit
und Unfreiwilligkeit im Bereich des Sexuellen, welche die grundlegende Unterscheidung
zwischen legalem und kriminellem Sex konstituiert, ist nach MacKinnon absurd. Inhalt und
Begrifflichkeit von Normen, die sexuelle Übergriffe illegal machen, gerichtliche Verfahren, in
denen über das Vorligen und die Qualität sexueller Übergriffe Recht gesprochen wird,
machen die ex post facto-Inanspruchnahme sexueller Integrität zu einem Spiessrutenlauf oder
eben einer Pornodarstellung.
Damit werden Feminismen, die innerhalb des Patriarchats sexuelle Autonomie konzipieren
wollen, zu einem absurden, kritikwürdigen Unternehmen. Exemplarisch für MacKinnons
diesbezüglich kritische, ablehnende Haltung ist ihre Behandlung der Barnard-Konferenz, die
1982 abgehalten wurde und den Auftakt für eine “sex radical” bzw. “sex positive” Richtung
innerhalb des Feminismus darstellte. Sie verstand sich damals als Gegenveranstaltung zu
jener Richtung des Feminismus, die von MacKinnon repräsentiert wird und wollte Sexualität
im Spannungsfeld von Lust und Gefahr (so der Titel der Konferenzpublikation; Vance 1993)
positionieren und von hier aus befragen.
MacKinnon fasst die Intentionen der Konferenz wie folgt zusammen und fügt auch gleich ihre
Kritik hinzu: “The Diary of the Barnard conference on sexuality pervasively equates sexuality
with ‘pleasure.’ ‘Perhaps the overall question we need to ask is: how do women … negotiate
sexual pleasure?’ [...] As if women under male supremacy have power to. As if ‘negotiation’
is a form of freedom. As if pleasure and how to get it, rather than dominance and how to end
it, is the ‘overall’ issue sexuality presents feminism. As if women do just need a good fuck.
(MacKinnon 1989, 135)
Die Stärken von MacKinnons Analyse liegen in ihrer Radikalität und Zuspitzung. Darin ist
aber gleichzeitig auch ihre Problematik zu sehen. Betroffenheit kann bisweilen in Abwehr
kippen, wenn die Welt des Patriarchats so völlig hermetisch und das Verhältnis der
Geschlechter zueinander als reines Desaster und kann auch nicht anders sein. Deshalb bleibt
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ihre Darstellung des Konzepts der Barnard-Konferenz selektiv bis hin zur Manipulation: Es
geht eben nicht nur um “pleasure”, um die positive Seite der Autonomie, sondern auch um die
damit verbundene Gefahr, die Angst, den Zwang und die Frage, wie Frauen mit diesem
Spannungsfeld in ihrem je eigenen Leben umgehen können, wollen und sollen.
Eine angemessene Fassung sexueller Autonomie müsste nicht nur dieses Spannungsfeld
elaborieren. Es ist auch notwendig, dem Thema der sexuellen Verdinglichung eine
komplexere Gestalt zu geben. Cass Sunstein deutet vorsichtig an, Verdinglichung könnte
irgendwie zum Bereich des Sexuellen dazu gehören. Das müsse auch nicht notwendiger
Weise schlecht sein, zumal in einem Kontext von Gleichheit und Konsens. Dafür muss aber
davon ausgegangen werden, dass Konsens nicht nur eine patriarchale Schimäre, sondern eine
Folge autonomer Entscheidung sein kann.
In diesem Sinne fragt Martha Nussbaum, ob es möglich ist, “Verdinglichung” mit Gleichheit,
Respekt und Konsens in Verbindung zu bringen: Lassen sich also das Konzept der
Verdinglichung und die Bewertung von Verdinglichung als “schlecht” voneinander lösen?
Wäre es möglich, jemand zu verdinglichen, ohne die Person so zu “verzwecken”, dass es auf
ihre Kosten geht? Nussbaum verweist bei der Frage der Bewertung von Verdinglichung auf
die Bedeutung des Kontexts: “In the matter of objectification, context is everything.” (300)
Der Gesamtkontext der jeweils in Frage stehenden menschlichen Beziehung wird demnach
auch die Differenzierung zwischen einer kritikwürdigen und einer unproblematischen,
benignen Form von Verdinglichung ermöglichen.
Keine der AutorInnen, die sich diesem Thema nähern, ist naiv. Die Gefahr des Kippens von
Macht in Gewalt ist in gewisser Weise immer die Folie, vor deren Hintergrund die
Überlegungen stattfinden. Jean Grimshaw (1998, 182) etwa betont, sexuelle Begegnungen
hätten immer mit Macht zu tun: “the power to give pleasure, to dominate the senses of the
other, temporarily to obliterate the rest of the world; the power involved in being the person
who is desired, the power to demand one’s own pleasure. And along with this power go forms
of ‘submission’ (of surrendering, letting go, receiving), or of self-abnegation, of focusing
entirely for a while on the pleasure of the other.”
Die Macht, die hier im Spiel ist, die Spiele mit Macht, die das Sexuelle (auch)
charakterisieren, sind nicht unproblematisch. Sie gehen nur zu oft eine prekäre Verbindung
mit diskriminierenden Strukturen ein, die auf sexistischer, rassistischer und
klassenspezifischer Ausbeutung beruhen. Darauf mit einem Konzept des Sexuellen zu
antworten, das darin immer nur eine Reproduktion gewalttätiger Strukturen sieht, wäre aber
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Holzleithner
Sexuelle Autonomie
Vortragsmanuskript 2004
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eine ebenso reduzierte Sicht wie das Postulat einer von Macht gereinigten Sexualität, die auf
einer Vision von “Gegenseitigkeit” beruht, naiv ist. Wenn “alles” Manipulation und Zwang
ist, wie soll dann noch unterschieden werden zwischen Erfahrungen, welche die eigene
Persönlichkeit positiv befördern und solchen, die eine Verletzung darstellen?
Fazit
Autonom zu leben ist ein Prozess von Gelingen und Scheitern. Es geht um das Herstellen
einer Balance zwischen eigenen und fremden Interessen und Bedürfnissen, die Wachheit und
Aufmerksamkeit erfordern. Eingezwängt zwischen Anforderungen von verschiedenen Seiten
– Begehrlichkeiten, Verboten, Normen, Übergriffen – ist es weder für Frauen noch für
Männer einfach, den eigenen Körper kennen zu lernen, unbeschadet aufzuwachsen und
sexuell autonom zu leben und zu handeln.
Ich halte es für notwendig, ein komplexes Leitbild von sexueller Autonomie zu haben, das
Raum für die vielfältigen Erfahrungen von Lust, Fragilität, Verletzung, Manipulation und
Zwang öffnet und eine adäquate Begrifflichkeit zur Verfügung stellt. Dieses Leitbild zu
elaborieren ist Aufgabe jedes ernst zu nehmenden rechtlichen Diskurses.
Die Normenmaterie, die um das Sexuelle kreist, ist überaus brisant: Im Verhandeln ihrer
Tatbestände wird individuelle Intimität radikal exponiert. Rechtspolitisch ergeben sich daraus
im Kontext der Thesen, die in diesem Text vertreten worden sind, einige Folgerungen.
Erstens, für den Einsatz des Strafrechts sind insofern Grenzen gezogen, als es (nur) den
Schutz individueller sexueller Integrität zu verbürgen hat. Es soll der Abwehr von sexuellen
Übergriffen dienen und einen Raum für Freiheitshandeln eröffnen. Traditionelle
Sittlichkeitskonzeptionen zu bewehren, ist nicht Aufgabe des Strafrechts. Zweitens, in
Verfahren über die Verletzung sexueller Integrität ist soweit wie möglich der Opferschutz zu
wahren. Dazu gehört letztlich, drittens, auch, dass im Rahmen des rechtswissenschaftlichen
Studiums mit diesen Themen sensibel und sorgfältig umgegangen wird. Voraussetzung dafür
ist, dass die Rechtswissenschaft das Rechtsgut der sexuellen Autonomie aufmerksam pflegt
und ausdifferenziert und sich dabei nicht von feministischen Diskursen abschottet.
Noch einmal: Der Plural ist wichtig. Feministische Diskurse sind in ihrer Vielgestaltigkeit
wahrzunehmen. Die gravierenden Konflikte und Meinungsverschiedenheiten sind nicht
einfach „Streitereien“ zwischen Frauen, die es nicht schaffen, einen einheitlichen Standpunkt
einzunehmen. Sie sind vielmehr Zeichen für die grundlegende Komplexität der anstehenden
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Holzleithner
Sexuelle Autonomie
Vortragsmanuskript 2004
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Fragen und verdienen es schon deshalb, ernst genommen zu werden. Das gilt für alle
Beteiligten.
Literaturverzeichnis
Hannah Arendt, Vita Activa oder Vom tätigen Leben, München/Zürich 1967 (zitiert nach der
Neuausgabe 1981)
Nikolaus Benke/Elisabeth Holzleithner, Zucht durch Recht. Juristische Konstruktionen der Sittlichkeit
im österreichischen Strafrecht, in: L’Homme. Zeitschrift für Geschichtswissenschaften, Heft
1/1998, 41-88 (= Vienna Working Papers in Legal Theory, Political Philosophy & Applied Ethics
No. 12, ed. N. Forgó & A. Somek, http://www.univie.ac.at/juridicum/forschung/wp12.pdf)
Europäische Kommission, Sexual Harassment in the Workplace in the European Union, Brüssel 1998
Roland Gerlach, Attraktivität und Verfahren, ecolex 2000, 135-137
Jean Grimshaw, Ethics, Fantasy and Self-Transformation, 19**, in: Soble 1997, 175-187
Elisabeth Holzleithner, Grenzziehungen. Pornographie, Recht und Moral, Diss. jur., Wien 2000
Elisabeth Holzleithner, Das Recht der Verführung. Pornographie und die De-Stabilisierung
geschlechtlicher Identitäten, in: Doris Guth/Elisabeth Samsonow (Hg.), SexPolitik. Lust zwischen
Restriktion und Subversion, Wien 2001, 40-55
Immanuel Kant, Eine Vorlesung über Ethik, hg. von Gerd Gerhardt, Frankfurt am Main 1990
Catharine MacKinnon, The Sexual Harassment of Working Women, New Haven/London 1979
Catharine MacKinnon, Toward a Feminist Theory of the State, Cambridge, Massachusetts/London,
England 1989
Catharine MacKinnon, Nur Worte, Frankfurt am Main 1994
Martha Nussbaum, „Objectification“, in: Soble 1997, 283-322
Shane Phelan, Sexual Strangers. Gays, Lesbians, and Dilemmas of Citizenship, Philadelphia 2001
Joseph Raz, The Morality of Freedom, Oxford 1986
Alan Soble (ed.), The Philosophy of Sex, Contemporary Readings, Third Edition,
Lanham/Boulder/New York/Oxford 1997
Carole Vance (ed.) Pleasure and Danger: Exploring Female Sexuality, second Edition, Boston 1993
Sexuelle Autonomie zwischen Recht, Macht und Freiheit
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liebe Grüsse
ETMC
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Wer Freiheiten aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, verdient weder Freiheit noch Sicherheit.
Benjamin Franklin (1706-90),
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Engagiert pro SW
Prof. Dr. jur. Elisabeth Holzleithner
Ich habe sie noch in äußerst angenehmer Erinnerung, als sie mit einem vielbeachteten Vortrag die diesjährige Fachtagung Prostitution in Wien eröffnet hat und zwar mit der Absicht SexarbeiterInnen und ihre Interessenvertreter mit fundamentalen Argumenten 'aufzumunitionieren'.
Obiger Aufsatz als netter lesbares PDF:
Sexuelle Autonomie zwischen Recht, Macht und Freiheit
http://lawandwomen.ch/de/02_aktivitaete ... ie2004.pdf
(15 Seiten)
Weitere Fundstücke:
Östereichische Bundesbestimmungen zur Ausübung der Prostitution
http://homepage.univie.ac.at/elisabeth. ... tition.htm
Landesbestimmungen zur Ausübung der Prostitution
Landes-Polizeistrafgesetz Salzburg:
http://homepage.univie.ac.at/elisabeth. ... tution.htm
OGH: Prostitution ist sittenwidrig:
http://homepage.univie.ac.at/elisabeth. ... tution.htm
Sex in Queer Times: Körper, Praktiken & Identitäten:
http://www.servus.at/fakultaet/v_holzleithner.html
Mainstreaming Equality: Dis/Entangling Grounds of Discrimination:
http://homepage.univie.ac.at/elisabeth. ... ngling.pdf
(31 Seiten)
Contesting Gender Mainstreaming:
http://www.ewla.org/wf_dl/paper_2007_Ge ... ithner.pdf
(12 Seiten)
.
Ich habe sie noch in äußerst angenehmer Erinnerung, als sie mit einem vielbeachteten Vortrag die diesjährige Fachtagung Prostitution in Wien eröffnet hat und zwar mit der Absicht SexarbeiterInnen und ihre Interessenvertreter mit fundamentalen Argumenten 'aufzumunitionieren'.
Obiger Aufsatz als netter lesbares PDF:
Sexuelle Autonomie zwischen Recht, Macht und Freiheit
http://lawandwomen.ch/de/02_aktivitaete ... ie2004.pdf
(15 Seiten)
Weitere Fundstücke:
Östereichische Bundesbestimmungen zur Ausübung der Prostitution
http://homepage.univie.ac.at/elisabeth. ... tition.htm
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Landes-Polizeistrafgesetz Salzburg:
http://homepage.univie.ac.at/elisabeth. ... tution.htm
OGH: Prostitution ist sittenwidrig:
http://homepage.univie.ac.at/elisabeth. ... tution.htm
Sex in Queer Times: Körper, Praktiken & Identitäten:
http://www.servus.at/fakultaet/v_holzleithner.html
Mainstreaming Equality: Dis/Entangling Grounds of Discrimination:
http://homepage.univie.ac.at/elisabeth. ... ngling.pdf
(31 Seiten)
Contesting Gender Mainstreaming:
http://www.ewla.org/wf_dl/paper_2007_Ge ... ithner.pdf
(12 Seiten)
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Das neue Buch von Prof. Holzleithner:
Dimensionen von Gerechtigkeit
Rezension von Kathrin Hönig
http://www.querelles-net.de/index.php/q ... ew/847/843
Gerechtigkeit zum Thema Geschlecht und Gender darf in einem Fachbuch einer feministischen Juristin natürlich nicht fehlen.
Hier geht es um Gleichstellung, Quotenregelung und Gendermainstreaming.
Gerechtigkeit für Geschlecht und Beruf d.h. Sexworker behandeln wir hier:
viewtopic.php?t=3754
Dimensionen von Gerechtigkeit
Rezension von Kathrin Hönig
http://www.querelles-net.de/index.php/q ... ew/847/843
Gerechtigkeit zum Thema Geschlecht und Gender darf in einem Fachbuch einer feministischen Juristin natürlich nicht fehlen.
Hier geht es um Gleichstellung, Quotenregelung und Gendermainstreaming.
Gerechtigkeit für Geschlecht und Beruf d.h. Sexworker behandeln wir hier:
viewtopic.php?t=3754