Lebenssituation Prostitution & The Business of Sex

Buchtips für Sexworker oder von Sexworkern
HaDe
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Beitrag von HaDe »

annainga hat geschrieben:da im gespräch ist, das gesetz zurückzunehmen bzw. zu verändern oder wie manche organisationen fordern, kunden sexueller dienstleistungen zu bestrafen, hielte ich eine studie für sehr sinnvoll. wie will man denn irgendetwas ohne zahlen belegen?
Naja, gerade bei solchen Studien ist die Gefahr der Einseitigkeit sehr gross. Was soll die Fragestellung sein? Ob sich die Situation für freiwillige Prostituierte verbessert hat? Ich fürchte man wird bei einer solchen Studie nicht diese Frage stellen sondern sich auf das Thema Zwangsprostitution und Menschenhandel konzentrieren.

Meine Vermutung ist, dass es indem Bereich keine Änderung gab, während sich die Situation für freiwillige Prostituierte wahrscheinlich etwas gebessert hat.
annainga hat geschrieben: diese verblüffung teile ich mit dir @HaDe
Ohne das Leid der Frauen runterspielen zu wollen - aber irgendwie relativiert das auch den Zwang bei manchen Zwangsprostituierten. Ist eine Frau die den Job hasst, aber ihn leiber weiter macht als zurück zu gehen eine Zwangsprostituierte? Auch hier scheint wirtschaftlicher Zwang eine grössere Rolle zu spielen als gewalttätige und drohende Zuhälter.

Vielleicht ist meine Einschätzung auch falsch. Aber vielleicht passt auch meine Vermutung, dass echte Zwangsprostitution (also wo die Frau nur durch Gewalt oder Gewaltandrohung in der Prostitution gehalten wird) relativ selten sein muss, da sonst laufend Prostituierte zur Polizei rennen würden.

Ich hab mir mal folgendes gedacht: Wie wärs mit einem Registrierungssystem das keine Schikanen und Auflagen beinhaltet (also auch keine zwingenden laufenden Untersuchungen), sondern nur die Pflicht einen Prostituierten-Ausweis zu haben. Unter Umständen sogar ohne zentraler Datenbank. Prostiution mit Ausweis wäre vollkommen legal, ohne Ausweis illegal. Bei der Beantragung des Ausweises gibts ein Gespräch mit einem Sozialarbeiter der versucht abzuklären ob eine Zwangssitution besteht und ihr entsprechende Hilfsmöglichkeiten aufzeigt. Dann hat die Frau die Möglichkeit diese in Anspruch zu nehmen oder auch nicht. Tut sie es nicht, kann man davon ausgehen, dass nicht wirlich eine Zwangssituation vorliegt.

Andreas

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annainga
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Beitrag von annainga »

lieber @HaDe

sei mir bitte nicht böse, wenn ich deine äußerung für ein wenig naiv halte. du magst sicher recht haben, dass es sein könnte, dass das phänomen zwangsprostitution hoch gespielt wird. das glaube ich selbst auch.

aber ein ausweis gibt einer frau in so einer situation nicht die möglichkeit aus der situtaion zu kommen.

glaubst du ein gespräch mit einem sozialarbeiter reicht? nein, das glaube ich kaum. wenn man unter druck steht und angst hat, wird man sich auch dort verstellen.

die idee eines ausweises muss ich mal überdenken. irgendwie schon sinnvoll, aber ich denke an eine andere bezeichnung, ausweis hört sich so nach überprüfung an. berechtigungsschein? mit konzession?

liebe grüße von annainga

HaDe
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Beitrag von HaDe »

annainga hat geschrieben:sei mir bitte nicht böse, wenn ich deine äußerung für ein wenig naiv halte.
Annainga, das war mir schon klar, dass die Idee etwas naiv ist - wenn auch meiner Ansicht nach aus anderen Gründen: Ich fürchte der Gesetzgeber wird sich letztendlich nicht die Chance entgehen lassen Daten zu sammeln und zu verwerten. Aber damit es keinerlei Gründe gibt den Ausweis/Gewerbeschein/wie auch immer das genannt wird nicht zu beantragen müsste die Schwelle extrem niedrig sein.

Aber letztendlich ging es mir hauptsächlich darum einen geschützten Raum zu schaffen in dem sich eine eventuell zur Prostitution gezwungene Frau "ausweinen" und beraten lassen kann. Der Trick die Arbeit davon abhängig zu machen ist eigentlich nur dafür gedacht, dass ein möglicher Zuhälter Nachteile hat, wenn er sie nicht hingehen lässt.

Aber vielleicht ist die Idee wirklich am Problem vorbei.

Andreas

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Marc of Frankfurt
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Hier wurden andere Sexdienstleister befragt !!!

Beitrag von Marc of Frankfurt »

Sachbuch:

The Business of Sex






Jody Hanson, Ph.D

Sex is a business. For a sex worker, it is a way of making a living; for a madam, it is a services industry enterprise; for a stripper, it is creating an illusion; for a dominatrix, it is maintaining control; for a consort, it is getting paid for what he might do anyway.

This collection of interviews takes the reader into the ordinary lives of people who work in the sex industry. Their stories are told in their own words, offering an insight into the world where sex is a business.

Bild



Mit vielen Sexarbeiter-Interviews:


Susie: A virgin prostitute

Nadia: Temporary employment

Chloe: Getting into the business

Lynda: Learning the trade

Amelia: For the hell of it

Elizabeth: Elegant, expensive, educated

Paula: It's more than a job

Angelique: Working girl and madam

Lily: Born a prostitute

Isabelle: Working on reception

Cheryl: "I just want to dance"

Rose: Stripper

Jenny: Running a parlour

Toni: The brothel business

Nurse Pamela: Medical fantasies

Tonya: Submission, a question of power and control

Anthony: From cop to consort

Dee: Appointments for people with disabilities

Mistress Margaret: Dominatrix





"Prostitution is more than a job to me – it is a lifestyle. It gave me independence and money. I found I didn't need one man in my life. I am totally self-sufficient as long as I am working. I can do what I want, when I want, and without having to consult or depend on any man to support me.
Working as a prostitute is like any job. It's a waste of time if you're not going to do it well. I offer a professional service and my clients are always happy."
Paula


"I'm independent now and I don't want to take money from my partner – I want my own money. This is what the sex industry gives a woman, financial independence." Angelique





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Beitrag von annainga »

hast du das buch gelesen @marc? dann schreib doch mal, ob du´s empfehlen kannst. wenn ich mich schon an ein englisches buch wage .....

liebe grüße von kollegin annainga

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Beitrag von annainga »

das ist wohl sehr schwierig @HaDe, aber ich finde deine idee nicht naiv, sondern überlegenswert. ich glaube, viele probleme lösten sich mit der professionalisierung unseres berufes und der aufklärung der kunden.

zu der "einseitigkeit der studie" wollte ich noch etwas sagen. ich finde z.b. die studie des bundesministerium zu den auswirkungen des prostitutionsgesetzes

SoFFI K.

gar nicht einseitig. ich war überrrascht, wie oft darauf hingewiesen wird, dass es keine aussagekräftigen zahlen gibt, dass eine analyse schwer ist und deswegen kein ergebnis vorliegt. die zahlen, die etwas aussagen, sind weder positiv noch negativ für das prostitutionsgesetz in deutschland und wird auch so formuliert.

liebe grüße von annainga

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kaktus
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Beitrag von kaktus »

Etwas zum Thema Bücher,
mir ist heute ein Buch in die Hände gekommen das ich vorstellen möchte.
Bei manchen Büchern schlage ich die letzte Seite auf und lese sie. Es ist ein Irrtum zu glauben das die letzte Seite die Spannung nimmt. Die letzte Seite sagt viel über das Buch aus.
Ich werde jetzt die letzte Seite wiedergeben.

"Ich bin mir nicht sicher, ob ich noch an den Moralkodex, in dem ich erzogen worden bin, glaube. Aber ich bin mir sicher, daß ich ganz bestimmt an keine Moral mehr glaube, die ich seither kennengelernt habe. Sicher, manche Leute glauben, daß Prostitution etwas furchtbares ist. Es gibt sogar Leute, die glauben, daß jeglicher Geschlechtsverkehr an sich schon etwas schlechtes ist. Und manche Leute glauben, das Trinken schlecht und manche Leute glauben, daß das Bohren in der Nase schlecht ist. Ich kann dazu nur sagen, daß ich nicht mehr weiß, was eigentlich schlecht ist und ich glaube auch nicht das ich das jemals wissen werde.
Aber eins möchte ich ihnen noch zu Schluß sagen: Ich glaube nicht, daß es schlechter ist, mit einem Mann für Geld
ins Bett zu gehen, als wenn man mit im umsonst ins Bett geht....."

Das waren die Worte von Marita.

Das Buch "Prostitution in den USA" von M.Bruno /D.B.Weiss ist 1965 erschienen und 1967 als deutschsprachige Ausgabe beim Kindler Verlag Gmbh München unter Sexualwissenschaft aufgelegt.

Das Buch ist 40 Jahre alt aber in einer so offenen Weise geschrieben wie wir es heute gerne hätten.
LG Kaktus

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annainga
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Beitrag von annainga »

ich freu mich immer sehr über buchvorstellungen, denn 1. lese ich sehr gern und 2. helfen mir bücher über sexarbeit oft, meinen eigenen standpunkt klarer zu sehen.
danke @kaktus für den tip. mal sehen, ob es noch erhältlich ist!

grüße von annainga

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Beitrag von kaktus »

Hallo Annainga,
Hier ein wertvoller Link wenn du ein antiquarisches Buch suchst.
http://www.zvab.com/SESSz14046489441118 ... index.html

LGKaktus

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Marc of Frankfurt
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Beitrag von Marc of Frankfurt »

Hier, das Buch ist doch noch erhältlich ab 4 Eur.
http://www.amazon.de/gp/offer-listing/B0000BQ9LD

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Marc of Frankfurt
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Kampf gegen SW mit Argumenten und auch mit Studien:

Beitrag von Marc of Frankfurt »

Die Prostitutionsgegnerin Maria Carlshamre (MdEP) www.sexworker.at/protest bezieht sich u.a. auch auf eine Studie der deutschen Bundesregierung (BMFSFJ):





Studie: Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland

Teilpoppulation II: Prostituierte
2004


S. 465-557
[Link zum pdf siehe unten im Zitat Howe]

Projektteam der Gesamtstudie am Interdisziplinären Zentrum für Frauen und Geschlechterforschung der Universität Bielefeld:

Projektleitung: Prof. Dr. Ursula Müller, Dr. Monika Schröttle
Wissenschaftliche Mitarbeiterinnen: Sandra Glammeier, Christa Oppenheimer
Sachbearbeitung: Barbara Schulz
Studentische Hilfskraft: Alexandra Münster

Konzeption, Durchführung und Koordinierung der Erhebungen, sowie erste Auswertungen zu diesem Studienteil: Christa Oppenheimer

Endauswertung der Studienergebnisse und Endbericht: Dr. Monika Schröttle, unter Mitarbeit von Prof. Dr. Ursula Müller.

u.a.:
Prof. Dr. Margit Brückner und den StudentInnen des Forschungsseminars an der Fachhochschule Frankfurt/Main.





Hier jetzt die Bewertung dieser Studie durch Christiane Howe, Context e.V. Berlin:
  • Der Bericht stützt sich dabei auf die Befragung einer
    Teilpopulation von Prostituierten, die im Rahmen der im Auftrag des
    Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend durchgeführten
    Untersuchung zu Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in
    Deutschland stattfand (siehe „Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von
    Frauen“, unter:
    http://www.bmfsfj.de/Kategorien/Forschu ... 20560.html .

    An dieser Stelle sei der Vollständigkeit halber angemerkt, dass die für die
    Untersuchung „Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in
    Deutschland“ befragte Gruppe 120 deutsche Prostituierte umfasste, von denen über
    die Hälfte drogenabhängige Prostituierte aus entsprechenden Beratungsstellen
    waren – ähnlich wie in den Untersuchungen in Norwegen und Schweden
    . Da
    drogenabhängige Frauen, auch jenseits der Prostitution deutlich mehr Belastung
    durch Gewalt in der Kindheit, sexuelle Gewalt und Gewalt in Beziehungen aufweisen
    als andere Frauen oder Prostituierte, müsste dieser besondere und zahlenmäßig viel
    kleinere Bereich der „Beschaffungsprostitution“ auch innerhalb der Prostitution
    gesondert ausgewiesen werden. Leider wird in dem Bericht nicht darauf
    hingewiesen. Diese Information erschließt sich auch nicht durch Lektüre der
    genannten Quelle.
[Howe, Bericht der Bundesregierung zu den Auswirkungen des
Prostitutionsgesetzes - Anmerkungen und Empfehlungen für den KOK und seine Mitgliedsorganisationen, Seite 13]
http://sexworker.at/phpBB2/viewtopic.php?p=41097#41097

Hervorhebungen von mir.





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Lebenssituation Prostitution

Beitrag von ehemaliger_User »

Welche Auswirkungen hat das neue Prostitutionsgesetz? Sind Prostituierte keine Adressatinnen sozialer Hilfe? Die zunehmende soziale Spaltung unserer Gesellschaft und fortschreitende Verarmung in anderen Ländern haben auch in der Prostitution ihre Spuren hinterlassen. Auf der einen Seite weitet sich die Edelprostitution aus, auf der anderen die Grauzone. Diese Ausdifferenzierung der Lebenslagen von Frauen in der Prostitution eröffnet ein Kontinuum zwischen Freiwilligkeit und Zwang und erschwert es, Prostitution als Ganzes zu erfassen. In der repräsentativen Studie wurden Prostituierte zu ihrer Lebenssituation, zu Sicherheit, Krankheit, Gewalt und Hilfe befragt.

taz, 24.02.2007
Die gute Studie von Margrit Brückner und Christa Oppenheimer bietet nun zahlreiche empirische Erkenntnisse zur Welt der Prostitution.

Broschiert: 360 Seiten EUR (D) 29,90
Verlag: Helmer (25. Oktober 2006)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3897412055
ISBN-13: 978-3897412057

http://www.amazon.de/Lebenssituation-Pr ... 130&sr=8-1

Rezension von Britta Voß:
http://www.querelles-net.de/2007-21/tex ... kner.shtml

Gewalt und Prostitution - das gehört irgendwie zusammen. Margrit Brückner und Christa Oppenheimer erklären, wie. In einer empirischen Erhebung haben sie Prostituierte, Bordellbesitzer und Kontaktpersonen aus dem sozialen, rechtlichen und gesundheitspolitischen Bereich befragt. Anliegen der Studie war es, Zusammenhänge von Gewalt, finanzieller Abhängigkeit, Migration, Drogenkonsum und Prostitution sichtbar zu machen. Dabei gingen die Autorinnen äußerst offen an die Fragestellung heran, d. h. die Möglichkeit, selbstbestimmt als Prostituierte zu arbeiten, wurde durchaus mit einbezogen. Die Studie basiert zum einen auf quantitativen Interviews, in denen die Betroffen selbst ihren Lebensweg in, während und z. T. auch aus der Prostitution heraus beschreiben. Zum anderen werden die via Fragebögen eingeholten Daten zu Gewalterfahrung in der Kindheit und während der Arbeit, zum Sicherheitsempfinden etc. ausgewertet. Eine solide (methodische) Einführung in das Problemfeld aus neuer gesetzlicher Situation und fortschreitender Ausdifferenzierung des Sexmarktes machen das Buch zu einem guten Gradmesser der Veränderung in der sozialen Realität von Prostituierten.

Mit Einführung des Prostitutionsgesetzes 2002 gewann in Deutschland erstmals eine Auffassung offiziell überhand, in der die Prostitution als soziale Realität anerkannt, bevor sie sie als moralischer Schandfleck ausgemessen wird. Damit trug die Regierung den Forderungen diverser Selbsthilfe- oder Unterstützergruppen Rechnung, die Arbeitsbedingungen der gut 400 000 Prostituierten zu verbessern statt sie zu ignorieren. Das Verständnis der Prostitution als "bewusste Lebensstrategie" (S. 17), wie Margrit Brückner und Christa Oppenheimer es formulieren, hat sich hingegen kaum durchgesetzt. Zu sehr ist die titelgebende "Lebenssituation Prostitution" verbunden mit der Problematik Menschenhandel. Zu sehr gemahnt die Etymologie der Prostitution an Gewalt, Unterdrückung, Zwang. Der Anspruch der beiden Autorinnen liegt nun darin, die bisherige Deutungshoheit der Außenstehenden zu brechen und vielmehr das (Gewalt-)Selbstverständnis der Frauen selbst zu erfragen. Dafür haben Brückner und Oppenheimer sowohl quantitative als auch qualitative Befragungen unter Prostituierten durchgeführt. Ergänzt werden die Selbstaussagen durch Milieueindrücke, "Feldnotizen", die die Autorinnen beim Revierrundgang mit Polizisten sammelten. Dazu sprachen sie auch mit zwei Bordellbetreibern, einem Zuhälter, lassen mehrere Beschäftigte aus dem Sozial-, Gesundheits- und Rechtsbereich zu Wort kommen.

Daten aus der gesellschaftlichen Grauzone

In einem ersten Teil klären die Autorinnen die soziale Einbettung der Prostitution, deren Erscheinungsformen und Ausmaß. So muss eine zunehmende Unübersichtlichkeit des sexuellen Marktes konstatiert werden bei gleichzeitiger Polarisierung: Während auf der einen Seite das Angebot der Privatclub- und Wohnungsprostitution wächst und prostitutionsverwandte Gebiete wie Telefonsex etc. immer weiter um sich greifen, verschärft sich auf der anderen Seite die Kluft zwischen Edel- und Billigprostitution, die mit "geringen Profiten, hohen Freierzahlen, starker Konkurrenz und zunehmendem Druck zu immer extremeren Praktiken" (S. 14) arbeitet (vornehmlich Migrantinnen). Für ihre Studie unterscheiden die Autorinnen grundsätzlich zwischen professioneller deutscher Prostitution, Migrationsprostitution und Beschaffungsprostitution (hier arbeiten größtenteils Drogenabhängige). Bei den Befragungen, so räumen die Autorinnen ein, war nicht immer eine Repräsentativität für die "Grundgesamtheit aller Prostituierten" (S. 24) zu erreichen. Viele Kontakte zu den Frauen wurden über Hilfeeinrichtungen geknüpft, d. h. "problemfreie" Prostituierte wurden weniger erreicht. Auch zeigten sich anscheinend eher Frauen bereit, die schon länger als Prostituierte gearbeitet hatten oder bereits ausgestiegen waren (was wiederum eine eher negative Perspektive erklärt). Sprachliche Barrieren oder auch die Zugehörigkeit zur Edelprostitution verhinderten einen weiteren Gesprächskreis. Obwohl die Untersuchung mit insgesamt rund 80 befragten Prostituierten als nicht repräsentativ gewertet werden muss, sind die individuellen Aussagen in ihrer teilweise stereotypen Übereinstimmung aufschlussreich. Die Autorinnen selbst weisen auf die spärliche Datenlage zur Lebenssituation der Prostituierten hin, ein Umstand, bei dem nur selten durch (parteiliche) Studien diverser Selbsthilfegruppen, seltener durch wissenschaftliche Arbeiten Abhilfe geschaffen wird.

Der Weg in die Prostitution

Der zweite Teil der Arbeit besteht zum einen aus Milieueindrücken, zum anderen aus den sieben qualitativen Interviews mit den Prostituierten. Die Darstellung der Gespräche ist aufgeteilt in einführende Feldnotizen, das jeweilige Portrait und die Analyse. Zunächst erfährt man die Umstände des Treffens und wie die Autorin ihre Gesprächspartnerin wahrnimmt. So erfährt man von Frau Gera, dass sie "gepflegt, geschmackvoll und eher dezent" gekleidet sei, niemand mithin annehmen würde, "dass sie als Prostituierte gearbeitet hat" (S. 74). Mitunter entfahren den Autorinnen Beschreibungen, die die Beklemmung – etwa die "unwirkliche Atmosphäre" eines Domina-Studios, in der sich "Wirklichkeiten [verschieben]" (S.111) – verkitschen, statt der selbstredenden Sprache der Interviews zu vertrauen. "Zuwendung war bei uns Gewalt" (S. 111), heißt es da etwa über die Kindheit von Frau Jung, Domina. "Nur noch von zu Hause weg" (S.112) habe sie gewollt. Der Weg in die Prostitution sei "einfach so schleichend" (S. 113) passiert. Dieses passive Hineinschlittern findet sich bei den meisten der portraitierten Frauen wieder. Zu den familiären "Ausnahme"situationen kommt meist der gute Freund, der schnell zum ersten Zuhälter wird. Einige der Frauen schaffen erst nach Jahren den Absprung in die seit 2002 gesetzlich begünstigte Prostituierten Ich-AG ohne Zuhälter.

Erstaunlicherweise bewerten genau diese Befragten das neue Gesetz als "nutzlos" (S. 83), als eine Regelung, durch die sich entweder nichts verändert (mangelnde Information unter Prostituierten) oder aber einiges verschlechtert habe (Abschaffung der Gesundheitskontrollen). Der qualitativen Befragung der betroffenen Frauen stellen die Autorinnen die Auswertungen ihrer Fragebögen zur Seite. Dadurch werden die singulären Lebensberichte statistisch aufgefangen wie etwa durch den Nachweis der Langzeitwirkung von kindlicher Gewalterfahrung. Die Autorinnen verweisen zu Recht auf die Unhaltbarkeit der Vorstellung von einfachen Kausalbeziehungen zwischen einer gewaltvollen Jugend und Prostitution. Fazit aber auch dieser Erhebung ist, dass "Prostituierte im Vergleich zur Normalbevölkerung in ihrer Kindheit einem erhöhten Gewalterleben ausgesetzt waren" (S. 215). 74% der hier Befragten hatten bis zu ihrem 16. Lebensjahr Gewalt erlebt, sei es als selbst erlittener Übergriff oder zwischen den erwachsenen Bezugspersonen. Ähnlich drastisch fallen die Zahlen zu sexuellen Gewalterlebnissen aus: 53% gaben an, in ihrer Kindheit mindesten zu sexuellen (Selbst-)Berührungen gezwungen worden zu sein. 83% aller Frauen verstehen sich selbst als traumatisiert. Während ihrer Arbeit haben 61% der Befragten Vergewaltigungen erlitten, 70% wurden körperlich angegriffen (vgl. S. 187). Brückner und Oppenheimer ergänzen diese zwar nicht neuen, doch schockierenden Ergebnisse mit Verweisen auf frühere Arbeiten, etwa den Aufsatz der Amerikaner Melissa Farley und Howard Barkin über "Prostitution, Violence and Posttraumatic Stress Disorder" von 1998.

Prostitution im Wandel - ein Ausblick

Abschließend werden in einem dritten Teil Mitarbeiter/-innen aus dem Sozialbereich, der öffentlichen Ordnung oder dem Rechtswesen zitiert. Besonders hier zeigt sich die ideologische Aufladung des Themas, der "Interpretationsdruck" (S. 318): Während manche Experten/-innen die Erklärung von Prostitution aus (kindlicher) Gewalterfahrung zurückweisen und die Selbstbestimmtheit der Frauen betonen, beharren andere auf dem durchgängig, wenn auch graduell abgestuften Abhängigkeitsverhältnis, in dem sich die Frauen befänden. Das Fazit zur Lebenssituation der Prostituierten fällt heterogen aus: Zu verzeichnen sind tendenziell extremer werdende Prostitutionsformen (z. B. keine Verhütung), neue Formen der Vermarktung (Freierforen im Internet, legale Anzeigenwerbung), Dumpingpreise durch Beschaffungsprostitution, aber auch Prostitution von Migrantinnen bei gleichzeitig stagnierendem Markt. Im Hinblick auf die gesundheitliche Versorgung sowie die Gewalterfahrung konstatieren die Autorinnen einen im Vergleich zur Gesamtbevölkerung überproportional schlechten Stand bei den Prostituierten. Allerdings: "Schwer erklärliche und ängstigende Formen zwischenmenschlicher Verstrickung" (S. 319), die in die Prostitution leiten, können auch in dieser Arbeit nicht vollends entschlüsselt werden. Das Verdienst des Buches aber ist es, die verwobenen Strukturen der Prostitution zum einen in Selbstzeugnissen, zum anderen durch wissenschaftliche Analyse zugänglich gemacht zu haben. Auch ist den Autorinnen anzurechnen, dass sie die dargestellte Parallelität von erzwungener, gewaltvoller, aber auch freiwilliger Prostitution nicht dem Zwang zur Vereindeutigung des wissenschaftlichen Ergebnisses opfern.


Britta Voß

Ludwig-Maximilians-Universität München

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