Hilferuf aus Behindertenwohnheim...

Hier könnt Ihr Eure Erlebnisse und Eure Gedanken zum Thema "Sexarbeit mit behinderten Kunden" aber auch "behinderte SexarbeiterInnen" posten, oder Anregungen holen, wie man mit dem sicherlich sensiblen Themen umgehen kann bzw. soll.
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Aoife
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Beitrag von Aoife »

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Kasharius hat geschrieben:Die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen findet auch, aber bei weitem nicht nur durch den "Staat" sondern auch die sog. Gesellschaft statt; ...
Absolut richtig, da habe ich mich sicherlich zu verkürzt ausgedrückt.

Also: Eine Gesellschaft die an etwas Übergeordnetes wie den Staat glaubt leitet daraus die Forderung nach "optimal im Sinne diese Übergeordneten funktionieren müssen" ab. Und klassifiziert diejenigen, die nach gängigem Glaubenssystem "schuldlos" diese Forderung nicht erfüllen können als "behindert".

Somit entsteht die Kategorie "Behindert" erst durch das Vorhandensein des Staats, auch wenn die darauf begründete Diskriminierung keineswegs immer von Staatsorganen ausgeführt wird.

Liebe Grüße, Aoife
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Kasharius
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Beitrag von Kasharius »

genau! Aber das heisst dann was im Sinne dieses Topics...?


Kasharius :001

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Beitrag von Aoife »

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Kasharius hat geschrieben:Aber das heisst dann was im Sinne dieses Topics...?
Nun - ich denke bei einem Hilferuf darf schon auch geschaut werden, welche Umstände die Notsituation denn erst herbeigeführt haben.

Und wenn auch die geschilderte Situation eine konkrete ist die nach einer konkreten Lösung verlangt, so heißt das parallel dazu nicht weniger dass wir ein anderes gesellschaftliches Wertesystem brauchen um solche Probleme zukünftig nicht mehr zu schaffen.

Was würde es uns kosten Mensch sein für wichtiger zu halten als roboterhaftes Funktionieren? Können wir uns das leisten?

Ich bin überzeugt: JA! Wir können nicht nur, wir müssen uns das leisten ... sofern man überhaupt von "leisten" sprechen kann wenn in der Bilanz der Zugewinn überwiegt.

Auch hier wieder zeigt sich dass künstliche Fronten gegen unser Aller Interesse sind. Es geht gar nicht um "Behinderte auf Kosten der Nicht-Behinderten, und wieviel unserer von oben herab verordneten Effektivität können wir für dieses moralische Ziel opfern?" - es geht um Menschlichkeit für uns alle.

Und ja - das hilft im hier angesprochenen Fall nicht schnell genug ... es sei denn wir sind bereit uns schnell für einen Paradigmenwechsel zu entscheiden.

Liebe Grüße, Aoife
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Beitrag von Kasharius »

@Aoife

ja da kann ich jeden Satz bestätigen. Als (behinderter) Anwalt muss ich mich nur immer mit ganz konkreten Problemen und deren Lösungen befassen. Daher hier meine etwas pointierte Reaktion. Natürlich hilft da auch der Blick auf den gesamtgesellschaftlichen Kontext - völlig klar.

Herzliche Grüße

Kasharius :001 :001 :001

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annainga
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RE: Hilferuf aus Behindertenwohnheim...

Beitrag von annainga »

ich versuchs mal zusammenzufassen, wie ich es bisher verstehe.

einige behinderte menschen wollen sexuelle dienstleistungen durch sexarbeiterInnen. sie können sich diese finanziell nicht leisten. dies soll "von oben herab" geändert werden bzw. finanziell unterstützt werden.

dazu muss die gesellschaftliche stellung von sexarbeit geändert werden. es müsste anerkannt werden, dass sexarbeit-in-anspruch-nehmen als gesellschaftliches teilnehmen bewertet wird.

falls das so bewertet wird, und falls die sexuelle dienstleistung finanziell unterstützt wird, wird es bürokratische erfassungen und einschränkungen, ausnahmeregelungen und genehmigungen auslösen. dazu benötigt man dann jede menge personal, zeit und geld.

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Kasharius
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Re: RE: Hilferuf aus Behindertenwohnheim...

Beitrag von Kasharius »

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annainga hat geschrieben:ich versuchs mal zusammenzufassen, wie ich es bisher verstehe.

einige behinderte menschen wollen sexuelle dienstleistungen durch sexarbeiterInnen. sie können sich diese finanziell nicht leisten. dies soll "von oben herab" geändert werden bzw. finanziell unterstützt werden.

dazu muss die gesellschaftliche stellung von sexarbeit geändert werden. es müsste anerkannt werden, dass sexarbeit-in-anspruch-nehmen als gesellschaftliches teilnehmen bewertet wird.

falls das so bewertet wird, und falls die sexuelle dienstleistung finanziell unterstützt wird, wird es bürokratische erfassungen und einschränkungen, ausnahmeregelungen und genehmigungen auslösen. dazu benötigt man dann jede menge personal, zeit und geld.

Was letzteres betrifft nicht mehr Zeit und Personal als man schon jetzt benötigt um zu prüfen, ob behinderte Menschen in Heimen oder in den eigenen vier Wänden leben wollen; Die Behörden könnten diese Lebensentscheidungen auch einfach akzeptieren und dann entsprechende Mittel, die schon jetzt verfügbar sind, bereitstellen. Behinderteninitiativen wie FORSEA e.V. haben nachgewisen, daß die Prüfung der Anträge auf Leistungen mehr Geld kostet als die Leistungen selbst.

Auch muss man in den hier in Betracht kommenden Fällen, es werden gar nicht so viele sein, ja nicht alles kontrollieren. Behinderte in Heimen haben neben Übernahme der Heimkosten auch Anspruch auf einen Barbetrag nach der Anlage zu § 28 SGB XII. Der ist ohnehin nicht hoch und steht dem Betroffenen in der Regel zur Verfügung. Wie er das ausgibt interessiert allenfalls seinen gesetzlichen Betreuer wenn einer bestellt wurde. Wenn das nicht Mutti oder Vati ist, und selbstt dann, ist dem das auch in der Regel egal. Wenn man beispielsweise diesen Betrag leicht erhöht - derzeit 98,28 € im Monat - käme man hier schon ein bischen weiter ohne gleich die Welt zu verändern (was natürlich trotzdem anzustreben wäre). Gut Escort oder Bordelle in bestimmten Preislagen wären nicht drin, aber es gibt ja noch mehr Bordelle oder SW-Angebote und außerdem: Andere sparen auch auf einen Bordellbesuch. Es muss eben nur was dasein - zum ansparen.

Die von Rolliman aufgeführten Kosten etwa für den transport von Hilfsmitteln lägen sicher höher, betreffen aber auch nicht so viele Fälle. Und wer auf umfassende persönliche Assistenz angewiesen ist: Es ist egal, ob mich mein Helfer zu Hause beim Bäcker oder eben im Puff (au weija, jetzt hab ich ´s geschrieben - tschuldigung :002 ) an- und auszieht bzw. mich dahin begleitet. Also eigentlich ist alles machbar - Herr Nachbar.
Oder doch nicht....?

liebe Grüße

Martin :002 :002

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annainga
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RE: Hilferuf aus Behindertenwohnheim...

Beitrag von annainga »

genau das meinte ich, das was FORSEA nachgewiesen hat - dass der aufwand der behörden (die wir ja nun einmal haben) mit prüfungen usw. groß würde.

das kehrt im forum immer wieder als thema und wenn ich das bisher richtig verstehe, sollten wir uns besser um einen "paradigmenwechsel" bemühen anstatt unsere kräfte darum zu bemühen in diesem komplizierten system von formularen, anträgen, verordnungen mitzuschwimmen.

was das konkret bedeutet in der umsetzung einen "hilferuf aus dem behindertenwohnheim" ernst zu nehmen, weiß ich nicht, deshalb habe ich an der stelle dann aufgehört zu schreiben. hast du eine idee?

lieben gruß, annainga

ps @Kasharius, darf ich dich formal kritisieren? zitate sind dafür da, etwas hervorzuheben, nicht einen kompletten beitrag zu kopieren, der jetzt einfach doppelt hintereinander steht.

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RE: Hilferuf aus Behindertenwohnheim...

Beitrag von Kasharius »

@annainga

du darfst mich immer kritisieren. In diesem Fall bitte ich um Vergebung. Ich bin technisch gesehen ein FORUMNEANDERTALER - Großes Sorry! :006

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RE: Hilferuf aus Behindertenwohnheim...

Beitrag von Rolliman »

Ich versuche es mal wie folgt zu erklären:

Was heißt denn "Ich führe ein normales Leben"?
Ich arbeite, habe meine Hobbies, engagiere mich gesellschaftlich, politisch, sozial, fahre in Urlaub und gehe in ermangelung einer Partnerin die mir trotz meiner Aktiven Lebensweise noch nicht begegnet ist, hier und da mal in den Club.
Soweit das "normale Leben" was auch jeder Andere führen könnte. Dabei spielt es keine Rolle ob Reich oder arm, hübsch oder hässlich, selbstbewußt oder schüchtern.

Was muß denn sein, damit ich dieses Leben führen kann?
Es fängt schon morgens an:
Bevor ich meinen Tag beginnen kann, müssen erst mal meine Eltern aufstehen. Wenn sie das überraschenderweise irgendwann nicht mehr tun, dann habe ich ein Problem...
Nach Frühstück und Morgentoilette bring mich mein Vater ins Büro. Dort erwartet mich eine Arbeitsassistenz die vom Staat bezahlt wird. Meinen Verwaltungsjob erledige ich mit dem Computer selbständig. Die Assistentin macht alles das, was ich nicht kann: Abheften, Akten holen und wegstellen, Gesetzestexte aufschlagen und umblättern, ect.

Wenn andere ins Kino wollen, dann gehen sie einfach. Ich muß erst nen Freund fragenn, der mich fährt und der mit ins Kino kommt. Wenn der Freund aber keine Zeit oder keine Lust hat, dann fahre ich auch nicht ins Kino, und spätestens hier ist das "normale Leben" für mich vorbei.

Wenn Ihr ausgehen und was essen wollt, dann fragt ihr euch:"Worauf habe ich Appetit? Italienisch? Kroatisch? Chinesisch? Russisch oder Thai?"
Ich stelle mir die Frage:"In welches Restaurant komme ich ohne Stufen rein, und wo komme ich auf Toilette." Wenn das Auswahlverfahren vorbei ist, dann hat sich die Geschmacksrichtung der Küche meistenteils erledigt, weil eh nur 1 Restaurant bleibt, was die baulichen Anforderungen für mich erfüllt.

Wenn ihr in Urlaub fahrt, dann könnt ihr auch Last-Minute buchen. Ich muß schon Monate vorher Hotels nach behindertengerechten Zimmern absuchen, nd wenn es ne Flugreise wird, muß ich zwei Wochen vorher zum Zoll, damit mein Elektrorollstuhl untersucht und plombiert wird. Meine Rollibatterie könnte ja eine bombe sein.

Wie gesagt- mein ganz normales, gleichberechtigtes Leben.

Wenn ich ne Frau "poppen" will, dann muß ich sie auch selber bezahlen, das dürfte klar sein. Jedoch wäre es schon von nöten, um erst mal in den "normalen Lebensbereich" wieder zu kommen, das sich irgendwer an den Nebenkosten beteiligt. Ich kann schlecht einen verheirateten Freund fragen ob er mich zum Puff bringt und mich nachher wieder dort abholt.

Der Ruf nach dem Staat wird ungehört verklingen, denn unsere Staaten retten lieber den Euro als Krüppel in den Puff zu fahren.

Wir müssen uns schon irgendwie selber helfen, und das geht meines Erachtens nur über einen Europaweiten Verein oder ne Stiftung.
Hierbei stehen nicht nur Fahrten zum Bordell im Vordergrund sondern auch Betreuung von Paaren, wo beide behindert sind. We könnte man diese Paare bei ihren intimen Stunden helfend betreuen? zum Beispiel durch eine Sexualassistentin, ect.
Doch wie bezahlt man diese Hilfe, die bei normalen Paaren nicht notwendig wäre.

Ich denke, dass in diesem Bereich, auch rechtlich noch viel geklärt werden muß. Zum Beispiel, kann der Betreuer eines Wohnheimes einem volljährigen Behinderten der aufgrund der schwere seiner Behinderung das Wohnheim nicht selber verlassen kann, den Hausbesuch eines Escortes verbieten?
Oder in wieweit darf betreutes Wohnen und Hausrecht die selbstverwirklichung und die Gleichberechtigung des Individuums beschneiden?

Rolliman

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RE: Hilferuf aus Behindertenwohnheim...

Beitrag von Kasharius »

@Rollimann,

ja das sind sehr gewichtige Fragen die Du am Ende deines sehr eindrucksvollen Beitages hier aufwirfst. Dürfen generell Einrichtungen der Behindertenhilfe (so lautet die etwas euphemistische offiziöse Bezeichnung) den Kontakt ihrer Bewohner zu Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern verbieten. Rechtlich lautet die Antwort grundsätzlich nein. die auch hier gültige Vertragsautonomie findet ihre Grenzen in dem Selbstbestimmungsrecht des behinderten Bewohners. Auch das sexuelle Selbstbestimmungsrecht ist Ausdruck der verfassungsrechtlich garantierten Menschenwürde - so auch das Bundesverfassungsgericht (allerdings ging es dort um Strafgefangene und einen ganz anderen Zusammenhang!); aber immerhin. Ob das Heim den Bewohner allerdings auch aktiv unterstützen muss, also etwa sein Personal bereitstellen muss um den Betreffenden ins Bordell zu begleiten, ist schon eine ganz andere Frage. Auch hier wird man aber doch in der Regel mit ja antworten müssen jedenfalls dann, wenn sich niemand anderes findet und eine Begleitung erforderlich ist. Alles andere würde dann doch auf ein rechtswidriges faktisches Verbot hinauslaufen. Aber grau ist alle Theorie und ich will nicht ausschließen, daß die Lebenswirklichkeit ganz andes aussieht; hier in Berlin ist man in der Hinsicht sehr weit und viele Heimbetreiber unterstützen die entsprechenden Bedürfnisse ihrer Bewohner.

Soweit zunächst von mir...


Kasharius :006

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RE: Hilferuf aus Behindertenwohnheim...

Beitrag von Kasharius »

Gesetz über Selbstbestimmung und Teilhabe in betreuten gemeinschaftlichen Wohnformen (Wohnteilhabegesetz - WTG)

vom 3. Juni 2010 (GVBl. Seite 285)


§ 7 - Mitsprache- und Einsichtsrechte

(1) Die Bewohnerinnen und Bewohner sowie die Nutzerinnen und Nutzer haben bei der individuellen Pflege-, Hilfe- und Förderplanung und deren Durchführung ein Recht auf Mitsprache und Einsichtnahme in die sie betreffenden Dokumentationen und Unterlagen. Die Bewohnerinnen und Bewohner sowie die Nutzerinnen und Nutzer sind rechtzeitig anzuhören und die geäußerten Wünsche sind zu berücksichtigen.
(2) Bewohnerinnen und Bewohner vollstationärer Einrichtungen haben auch bei der Gestaltung und Belegung der Räumlichkeiten, die sie als persönlichen Lebensmittelpunkt und zu Schlafzwecken nutzen, ein Mitspracherecht. Eine gegen den Willen der betroffenen Bewohnerin oder des betroffenen Bewohners getätigte Veränderung ist nur zulässig, wenn sie

1. von einer Mietpartei nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch zu dulden wäre oder
2. auf Grund pflegerischer, betreuungsbedingter oder medizinisch indizierter Gründe erforderlich ist.
[/align]
http://www.berlin.de/sen/soziales/berli ... v/wtg.html

Also diese Regelung, insbesondere Abs. 2 Nr. 2 des Berliner WHT halte ich in Hinblick auf sexuelle Selbstbestimmungsrechte für grenzwertig; dem werde ich wohl mal nachgehen müssen...


Kasharius wünscht gute Nacht

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RE: Hilferuf aus Behindertenwohnheim...

Beitrag von Rolliman »

Ich arbeite zwar in einer Verwaltung aber ich bezeichne mich als juristischer Laie.

Wenn im deutschen Grundgesetz steht, das jeder Mensch ein Anrecht auf körperliche und geistige Unversehrtheit hat (Art. 2GG),
und ich dazu jetzt z.B. die Arbeitsschutzgesetze dazu nehme, die ja den Sinn und Zweck haben, die Gesundheit zu bewahren, dann müßte man daraus doch irgendwiie ne jur. Begründung basteln können, weswegen man dem Behinderten Besuche von Prostituierten nicht verwehren darf.
Es gibt ja mittlerweile ausreichend Studien, das Sex die Gesundheit fördert.
http://www.zentrum-der-gesundheit.de/sex-ia.html

Wenn der Behinderte jetzt außerhalb der Hilfe von Sexworkern keine Möglichkeit von Sexualiät hätte, wäre dann der verwehrte Besuch des Sexworkers durch die Heimleitung nicht etwas wie "unterlassene Hilfeleistung"?

Bitte jetzt nicht alles auf die Goldwaage legen...

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Beitrag von Kasharius »

@Rolliman,

ne ne! Deine Herleitung des sexuellen selbstbestimmungsrechtes und dessen passiver Förderung durch Heimbetreiber ist nicht abwegig. Im weitsten Sinne, nicht im streng juristischen wäre das unterlassene Hilfeleistung.

grundsätzlich können aber die Heimbewohner ihre Sexualität dann ausleben wenn sie

1. Im weitesten Sinne Einsichtsfähig sind und

2. Die rechte anderer Bewohner/Betreuer nicht beeinträchtigen (allerdings sind in beiden Varianten Grenzfälle denkbar; die Expertise von profamilia im anderen thread [sagt man das so?] ist da sehr instruktiv). Ich finde jedenfalls daß das sexuelle selbstbestimmungsrecht von Menschen mit Behinderungen explizit in den Heimgesetzen und bei der Eingliederungshilfe im SGB XII verankert werden sollte!

Liebe Grüße

Kasharius

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RE: Hilferuf aus Behindertenwohnheim...

Beitrag von Kasharius »

Ja und manchmal werden Hilferufe aus dem Behiundertenheim auch mehrfach erhört und sogar fachlich diskutiert:

Vorankündigung einer Fachtagung der Spastikerhilfe Berlin eG zum Thema Behinderung & Liebe, Partnerschaft, Sexualität ?Vom Tabu zur Umsetzung? am 28. September 2012 in Berlin.



Liebe und Sexualität sind Grundbedürfnisse des Menschen, sie gehören zum Leben wie Essen und Trinken. Für Menschen mit schweren und mehrfachen Behinderungen sind diese Bedürfnisse, aus verschiedenen Gründen, immer wieder schwierig zu erleben und zu leben.

Aus diesem Grund veranstaltet die Spastikerhilfe Berlin eG am 28. September 2012 eine Fachtagung in Berlin zum Thema "Behinderung und Sexualität - Vom Tabu zur Umsetzung".

Die Tagung soll die praktischen Aspekte der Umsetzung von Behinderung und Sexualität in den Vordergrund rücken - aus der Praxis und für die Praxis:

Die Konzeption der Spastikerhilfe Berlin eG zu diesem Thema wird in ihrer Entwicklung und mit ihren vielfältigen Angeboten dargestellt;

Ein Betroffener wird über seine ganz persönlichen Erfahrungen mit Liebe und Sexualität im Laufe seines Lebens berichten;

In weiteren Vorträgen und Workshops geht es um Aufklärung, um Schutz vor Missbrauch, um die angemessene Form der Sexualassistenz, u.a.m.

Auf einem mit Fachleuten besetzten Podium am Nachmittag werden mit den Teilnehmern weiterführende Fragen diskutiert:

- Wie kann das Thema weiter enttabuisiert werden?

- Brauchen wir eine Art TÜV-Siegel für sexualfreundliche Einrichtungen?

- Was muss weiter getan werden, um Missbrauch vorzubeugen und trotzdem Sexualität angemessen erleben zu lassen?

- Welche Hilfen, die es bisher nur in geringem Umfang gibt, sind nötig z.B. bei Sexualassistenz?

Am Abend ist eine gemeinsame Abendveranstaltung mit Menschen mit Behinderung und den Teilnehmern der Tagung geplant, auf der beispielhaft einige Programmpunkte der Single-treffs-Veranstaltungen der Spastikerhilfe gezeigt werden.

Bei Interesse bitte den Termin vormerken, ein Flyer mit Anmeldebogen wird demnächst erstellt und zugesandt!

http://www.paritaet-rheinland-pfalz-saa ... ckPid]=371

Kasharius freut sich schon :041

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RE: Hilferuf aus Behindertenwohnheim...

Beitrag von Kasharius »

Aber bei dem Urteil will man gaaanz laut Hilfe rufen:


Thüringer Landessozialgericht L 1 SO 619/08 ER 22.12.2008

II.

Vorab ist klar zu stellen, dass Gegenstand des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens nicht die Hilfe zur Beschaffung eines behindertengerechten Kraftfahrzeuges ist. Der Beschwerdeführer hatte zwar in seinem Formularantrag vom 20. Januar 2008 auch eine solche Leistung beantragt, später aber sowohl im erstinstanzlichen Antragsverfahren wie auch im Beschwerdeverfahren klargestellt, dass er gerade keine Verknüpfung dieses unter dem Aktenzeichen S 15 SO 2043/07 vor dem Sozialgericht Nordhausen verfolgten Begehrens mit dem Antrag auf Fahrtkostenerstattung möchte. Das Sozialgericht hat hierzu auch keine Entscheidung getroffen.

Die Beschwerde ist begründet, soweit der Beschwerdeführer die Übernahme von Fahrtkosten zu kulturellen Veranstaltungen begehrt. Im Übrigen ist sie unbegründet.

Nach § 86 b Abs. 2 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) kann das Gericht der Hauptsache, soweit nicht ein Fall des Absatzes 1 vorliegt, eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Satz 2).

Ein Anordnungsantrag ist begründet, wenn das Gericht aufgrund einer hinreichenden Tatsachenbasis durch Glaubhaftmachung (§ 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG in Verbindung mit §§ 920 Abs. 2, 294 Abs. 1 ZPO) und / oder im Wege der Amtsermittlung (§ 103 SGG) einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund bejahen kann. Dabei bedeutet die Möglichkeit der Glaubhaftmachung von Tatsachen zunächst nur, dass sich das Gericht nicht die volle Überzeugung vom Vorliegen der beweiserheblichen Tatsachen machen muss, sondern ein geringerer Grad der Überzeugung genügt (Meyer-Ladewig, SGG, Kommentar, 8. Aufl. 2005, § 103 Rdnr. 6 a).

Der Anordnungsgrund (die Eilbedürftigkeit und Dringlichkeit der Rechtsschutzgewährung) liegt vor, wenn es für den Beschwerdeführer unzumutbar erscheint, auf den (rechtskräftigen) Abschluss des Hauptsacheverfahrens verwiesen zu werden, wobei auf die Beachtung der Folgen für den Fall des Nichterlasses der begehrten einstweiligen Anordnung abzustellen ist. Im Interesse der Effektivität des Rechtsschutzes kann es dabei ausnahmsweise auch erforderlich sein, der Entscheidung in der Hauptsache vorzugreifen, wenn sonst Rechtsschutz nicht erreichbar ist und ein Abwarten für den Beschwerdeführer unzumutbar wäre (Meyer-Ladewig, a.a.O., § 86 b Rdnr. 31).

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze liegen die Voraussetzungen für die Bejahung eines Anordnungsanspruchs und eines Anordnungsgrundes vor, soweit es die darlehensweise Übernahme von Taxikosten in dem tenorierten Umfang betrifft. Für das darüber hinausgehende Begehren fehlt ein Anordnungsanspruch.

Nach §§ 19 Abs. 3 i.V.m. 53 Abs. 1 SGB XII erhalten Personen, die durch eine Behinderung im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind, Leistungen der Eingliederungshilfe, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalles, insbesondere nach Art und Schwere der Behinderung, Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann.

Nach § 53 Abs. 3 SGB XII ist es besondere Aufgabe der Eingliederungshilfe, " ... eine Behinderung oder deren Folgen zu beseitigen oder zu mildern und die behinderten Menschen in die Gesellschaft einzugliedern. Hierzu gehört insbesondere, den behinderten Menschen die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern, ihnen die Ausübung eines angemessenen Berufes oder einer sonstigen angemessenen Tätigkeit zu ermöglichen oder sie soweit wie möglich unabhängig von Pflege zu machen."

Der Beschwerdeführer gehört unstreitig zu dem berechtigten Personenkreis nach § 53 Abs. 1 SGB XII i.V.m. § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX. Die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft schließt die Teilhabe am Leben in der Familie, der Nachbarschaft, aber auch am öffentlichen und kulturellen Leben mit ein. § 54 Abs. 1 SGB XII verweist für die Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft auf die Regelung des § 55 des SGB IX. Diese Vorschrift regelt in Absatz 2 Nr. 7 die Hilfen zur Teilhabe am gemeinschaftlichen und kulturellen Leben. § 58 SGB IX bestimmt diese Hilfen näher. Es gehören dazu die Hilfen zur Förderung der Begegnung und des Umgangs mit nichtbehinderten Menschen, die Hilfen zum Besuch von Veranstaltungen oder Einrichtungen, die der Geselligkeit, der Unterhaltung oder kulturellen Zwecken dienen.

Der Beschwerdeführer hat daher nach summarischer Überprüfung einen Anspruch auf die angebotene Kostenübernahme für jährlich sechs Taxifahrten zu Kulturveranstaltungen. Der Beschwerdegegner hat mit diesem Angebot der eingeschränkten Mobilität des Beschwerdeführers im Rahmen seines Ermessens ausreichend Rechnung getragen. Im Rahmen der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen gibt es keine unbegrenzte Sozialisierung der Kosten zur Teilnahme am kulturellen Leben. Hilfe nach § 58 SGB IX wird nur in dem Maß gewährt, in dem auch Nichtbehinderte entsprechende Bedürfnisse befriedigen können. In ländlichen Gebieten mit schlechter Verkehrsanbindung kann daher die Teilnahme aller Bevölkerungsgruppen an kulturellen Veranstaltungen geringer ausfallen als im Großstadtbereich. Einen Anspruch auf Finanzierung von Fahrten nach beispielsweise Hamburg oder München oder zu Großereignissen in der gesamten Bundesrepublik hat der Beschwerdeführer nicht, weil auch Nichtbehinderte nur ausnahmsweise zu solchen weit entfernt stattfindenden Veranstaltungen fahren und hierdurch in der Regel keine effektivere Integration in die Gesellschaft erreicht werden kann. Im Gegenteil bieten eher Veranstaltungen im Nahbereich über das Kulturerlebnis hinaus die Möglichkeit, Kontakte zu Mitmenschen zu knüpfen. Dem Beschwerdeführer bleibt es unbenommen, im Einzelfall für ein besonderes Ereignis, beispielsweise eine Veranstaltung, die in besonderem Maße geeignet ist, den Zielen der Eingliederungshilfe zu dienen, rechtzeitig einen Antrag nach § 53 SGB XII zu stellen. Einen Anspruch darauf, dass der Beschwerdegegner ihm bereits vorab im einstweiligen Rechtsschutzverfahren die Übernahme der Kosten zur Teilnahme an so genannten Events im gesamten Bundesgebiet zusagt und ihm als Geldleistung (Persönliches Budget) zur Verfügung stellt, hat er jedenfalls nicht. Es ist ohnehin fraglich, ob ein solches Persönliches Budget überhaupt in einem einstweiligen Rechtsschutzverfahren zugesprochen werden kann, weil es über die Behebung einer gegenwärtigen Notlage bei weitem hinausgeht und zudem konkrete Zielvereinbarungen zwischen den Beteiligten voraussetzt.

Der Beschwerdeführer hat grundsätzlich keinen Anspruch auf Erstattung der Eintrittspreise für die Veranstaltungen, weil solche Kosten vom Regelbedarf nach § 28 SGB XII gedeckt werden. Im Rahmen der Eigliederungshilfe sind vorrangig die Kosten zu übernehmen, die zusätzlich durch die Behinderung des Antragstellers entstehen. Dazu gehören Eintrittsgelder in der Regel nicht. Da der Beschwerdeführer keinen Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt nach § 19 Abs. 1 SGB XII hat, muss er diese Eintrittsgelder aus eigenen Mitteln bezahlen. Auch hier bleibt es ihm im begründeten Einzelfall unbenommen, für eine Veranstaltung, die in besonderem Maße den Zielen der Eingliederungshilfe gerecht wird, einen Antrag auf Kostenübernahme zu stellen.

Der Beschwerdeführer hat auch keinen Anspruch auf die Finanzierung von Prostituiertenhausbesuchen. Das Ziel der Eingliederungshilfe, ihn als behinderten Menschen in die Gesellschaft einzugliedern, kann hierdurch nicht erreicht werden. Sinn und Zweck der Vorschriften ist es gerade nicht, die Begegnung und den Umgang der behinderten Menschen mit von der Gesellschaft zwar geduldeten, aber nicht am allgemeinen Gemeinschaftsleben teilnehmenden Personen zu ermöglichen. Die Förderung von Prostituiertenbesuchen würde weder die Alltagskompetenz des Beschwerdeführers noch seine Einbindung in das Gemeinwesen verbessern.

Der Einzelne hat zwar das Recht zur Selbstbestimmung, in welcher Form er - im Rahmen seiner Möglichkeiten und der grundrechtlichen Werteordnung - sein Sexualleben ausrichtet. Deshalb ist es vom Staat und damit auch vom Sozialhilfeträger nicht zu bewerten, wenn der Beschwerdeführer die Dienste von Prostituierten in Anspruch nehmen möchte. Die Prostitution wird nicht (mehr) als unsittlich eingestuft (siehe auch das Prostitutionsgesetz vom 20. Dezember 2001).

In der Rechtsprechung sind bisher gleichgelagerte Anliegen von Sozialhilfeempfängern damit abgelehnt worden, dass die Befriedigung sexueller Bedürfnisse zum Regelbedarf im Sinne der §§ 27, 28 SGB XII gehöre; anfallende Kosten seien daher durch den jeweiligen Regelsatz abgedeckt. Der Sozialhilfeempfänger müsse seine sexuellen Bedürfnisse an den Möglichkeiten und Grenzen der Regelsatzhilfe ausrichten und seine Mittel entsprechend einteilen; gegebenenfalls müsse er auf andere Sexualpraktiken ausweichen und die Häufigkeit seines Verkehrs einschränken (vgl. Hamburgisches OVG vom 21. Dezember 1990, Az.: Bf IV 110/89; in diesem Sinne auch VG Ansbach, Urteil vom 5. März 2004, Az.: AN 4 K 04.00052). Ferner ist bereits entschieden worden, dass durch "Ganzkörpermassagen mit sexueller Komponente" bei einem Schwerstbehinderten die Aufgabe der Eingliederungshilfe, unter anderem seine Eingliederung in die Gesellschaft zu fördern, nicht erfüllt werden kann; die Kosten einer solchen Massage gehörten zu den allgemeinen Aufwendungen für das Sexualleben, das zu den Grundbedürfnissen des menschlichen Daseins gehöre; die Aufwendungen für derartige Maßnahmen seien aus der Regelsatzhilfe zu decken (vgl. Bayerischer VerwGH vom 10. Mai 2006, Az.: 12 BV 06.320). Dem schließt sich der erkennende Senat an.

Das Bundessozialgericht hat entschieden, dass aus dem (sexuellen) Selbstbestimmungsrecht eines Patienten jedenfalls kein grundrechtlicher Anspruch gegen seine Krankenkasse auf Bereitstellung oder Finanzierung bestimmter Gesundheitsleistungen (hier: Verordnung des Arzneimittels "Viagra") folge; der Gesetzgeber verletze seinen Gestaltungsspielraum auch im Hinblick auf das Sozialstaatsgebot nicht, wenn er angesichts der beschränkten finanziellen Leistungsfähigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung Leistungen aus dem Leistungskatalog herausnehme, die - wie hier - in erster Linie einer Steigerung der Lebensqualität jenseits lebensbedrohlicher Zustände dienen. In ähnlicher Weise kann für den vorliegenden Fall argumentiert werden, dass sich unter der Geltung des Grundgesetzes die Aufgabe der Sozialhilfe darauf beschränkt, dem Leistungsempfänger ein Leben zu ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht. Dies umfasst zwar über die notwendigen Mittel für ein Existenzminimum hinaus die Mittel, die der Art und dem Umfang nach ein an den "herrschenden Lebensgewohnheiten" orientiertes Leben ermöglichen (vgl. Münder und andere, SGB XII, 7. Aufl., Rdnr. 8 zu § 27); eine Steigerung der Lebensqualität jenseits der Grenze, die für ein menschenwürdiges Leben gilt, gehört jedoch nicht zu den Aufgaben der Sozialhilfe. Ein Leben in Würde ist aber auch noch ohne die vom Beschwerdeführer begehrten Sexualkontakte denkbar.

Auch auf die weiteren von ihm begehrten Leistungen hat er keinen Anspruch. Die Pflege seines Gartens und die Hausmeistertätigkeiten, die Unterhaltszahlungen für seine Kinder sowie die GEZ-Gebühren sind keine Leistungen, die im Wege der Eingliederungshilfe für Behinderte zu erbringen sind, weil durch sie nicht die oben definierten Zwecke erreicht werden können. Weder können hierdurch die Folgen seiner Behinderung gemildert noch seine Teilnahme am Leben in der Gesellschaft erleichtert werden.

Soweit der Beschwerdeführer Leistungen auch für die Vergangenheit begehrt (für Unterhaltszahlungen und GEZ), mangelt es bereits an einem Anordnungsgrund. Derartige Ansprüche sind grundsätzlich nur in einem Hauptsacheverfahren zu klären. Aufgabe des einstweiligen Rechtsschutzes der vorliegenden Art ist es, eine akute Notlage zu beseitigen, denn nur dann kann von einem wesentlichen Nachteil gesprochen werden, den es abzuwenden gilt und bei dem ein Abwarten bis zur Entscheidung in der Hauptsache nicht zuzumuten wäre. Nur ausnahmsweise kann eine Fallgestaltung gegeben sein, in der die sofortige Verfügbarkeit von Geldleistungen für die Vergangenheit zur Abwendung eines gegenwärtig drohenden Nachteils erforderlich ist. Ein solcher Nachholbedarf ist jedoch vom Beschwerdeführer weder geltend noch glaubhaft gemacht worden.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).

https://sozialgerichtsbarkeit.de/sgb/es ... sensitive=

Kasharius grüßt betrübt :010

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RE: Hilferuf aus Behindertenwohnheim...

Beitrag von Kasharius »

Ich möchte hier auf eine weitere sehr interessante Entscheidung des Bundessozialgerichts von März diesen Jahres aufmerksam machen. Sie behandelt die Frage der Rechtmäßigkeit des Ausschlusses von Cialis, einem Medikament zur Behandlung erektiler Dysfunktionen, aus dem Leistungskatalog der GKV. Das Ergebnis ist nicht sonderlich Überraschend; der Ausschluss ist - auch bei einem behinderten Menschen - rechtmäßig. Die Entscheidung ist aber deshalb von großer Bedeutung, weil sich hier ein oberstes Bundesgericht erstmalig mit dem Anwendungsbereich der UN-Behindertenrechtskonvention auseinandersetzt. Die diesbezüglichen passagen sind sehr fundiert, mögen sie einem auch inhaltlich nicht immer gefallen. Die Entscheidung bietet aber eine Reihe von Ansatzpunkten wie künftig generell in Hinblick auf (sexuelle) Teilhabebehinderter Menschen rechtlich argumentiert werden kann. Stichwort: Sexualbegleitung vs. Sperrgebiet oder auch Eingliederungshilfe und Kostenübernahme für sexuelle Dienstleistungen bei Menschen mit Behinderung.

Hier nun die Entscheidung:



BUNDESSOZIALGERICHT Urteil vom 6.3.2012, B 1 KR 10/11 R

Krankenversicherung - Leistungsausschluss zur Behandlung einer erektilen Dysfunktion - keine Verletzung von Verfassungs- oder Völkerrecht - UN-konventionsrechtliches Diskriminierungsverbot entspricht dem verfassungsrechtlichen Benachteiligungsverbot

Leitsätze

1. Der Leistungsausschluss von Arzneimitteln zur Behandlung einer erektilen Dysfunktion in der gesetzlichen Krankenversicherung verletzt auch dann weder Verfassung noch Völkerrecht, wenn er behinderte Menschen betrifft.

2. Das unmittelbar anwendbare UN-konventionsrechtliche Diskriminierungsverbot entspricht dem verfassungsrechtlichen Benachteiligungsverbot behinderter Menschen.

Tenor

Die Revision des Klägers gegen den Beschluss des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 11. November 2010 wird zurückgewiesen.

Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Tatbestand
1

Die Beteiligten streiten über die Versorgung mit dem Arzneimittel Cialis.
2

Der 1961 geborene, bei der beklagten Krankenkasse (KK) versicherte Kläger leidet ua an einer erektilen Dysfunktion als Folge einer chronisch progredienten Multiplen Sklerose. Er erwarb auf eigene Kosten das Arzneimittel Cialis mit dem Wirkstoff Tadalafil zur Behandlung der Dysfunktion und beantragte Kostenübernahme, wobei er für 2005 und 2006 einen Betrag von 1495,65 Euro errechnete (28.1.2007). Die Rechtsvorgängerin der Beklagten (im Folgenden einheitlich: "Beklagte") lehnte den Antrag ab (Bescheid vom 13.2.2007; Widerspruchsbescheid vom 3.4.2008). Das SG hat die auf Erstattung der seit 13.2.2007 aufgewendeten Kosten sowie zukünftige Versorgung mit Cialis gerichtete Klage abgewiesen (Urteil vom 4.5.2010). Das LSG hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen: § 34 Abs 1 S 7 bis 9 SGB V iVm Anlage II zur Arzneimittel-Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA) schließe verfassungskonform Cialis als Arzneimittel zur Behandlung der erektilen Dysfunktion aus dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) aus, ohne gegen Art 25 S 3 Buchst a UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) zu verstoßen (Beschluss vom 11.11.2010).
3

Mit seiner Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 2a SGB V, des Art 3 Abs 3 S 2 GG und Art 3 Abs 1 GG sowie des Art 25 S 3 Buchst b UN-BRK. Die Versorgung mit Cialis sei eine speziell aufgrund seiner Behinderung erforderliche Gesundheitsleistung. In solchen Fällen sei der Leistungsausschluss nach § 34 Abs 1 S 7 und 8 SGB V unanwendbar. Er diskriminiere unzulässig mittelbar Menschen, die durch eine erektile Dysfunktion behindert seien.
4

Der Kläger beantragt,

den Beschluss des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 11. November 2010, das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 4. Mai 2010 sowie den Bescheid der Beklagten vom 13. Februar 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. April 2008 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die dem Kläger seit Zugang des Bescheides vom 13. Februar 2007 für das Arzneimittel Cialis entstandenen Kosten zu erstatten sowie ihm künftig Cialis als Naturalleistung zu gewähren.
5

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.
6

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Entscheidungsgründe

7

Die zulässige Revision des Klägers ist unbegründet. Die Vorinstanzen haben zutreffend entschieden, dass der Kläger von der beklagten Ersatzkasse weder Erstattung seiner seit Zugang des Bescheides vom 13.2.2007 für das Arzneimittel Cialis aufgewendeten Kosten noch künftige Versorgung hiermit als Naturalleistung beanspruchen kann. Die Voraussetzungen der Ansprüche sind nicht erfüllt. Denn die Behandlung der erektilen Dysfunktion mit Cialis unterfällt nicht dem Leistungskatalog der GKV, sondern ist hiervon ausgeschlossen (dazu 2.). Der Ausschluss kollidiert weder mit Art 25 UN-BRK (Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 13.12.2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, Gesetz vom 21.12.2008, BGBl II 1419, für Deutschland in Kraft seit 26.3.2009, BGBl II 2009, 812; dazu 3.) noch verstößt er gegen das Diskriminierungsverbot (Art 5 Abs 2 UN-BRK) oder Verfassungsrecht (dazu 4.).
8

1. Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage statthaft (§ 54 Abs 4 SGG). Der Senat sieht davon ab, das Verfahren an das LSG zurückzuverweisen, obwohl der für die Vergangenheit geltend gemachte Kostenerstattungsanspruch unbeziffert ist und die Tatsacheninstanzen nicht auf die insoweit erforderliche Konkretisierung des Antrags und die Ergänzung des Tatsachenvortrags hingewirkt haben (§ 106 Abs 1, § 112 Abs 2 S 2, § 153 Abs 1 SGG; vgl zB BSGE 83, 254, 263 f = SozR 3-2500 § 37 Nr 1 S 10 f; BSG SozR 4-2500 § 31 Nr 15 RdNr 14). Der Anspruch auf Kostenerstattung scheitert bereits aus anderen Gründen.
9

2. Die Anspruchsvoraussetzungen sind nicht erfüllt, weil das Gesetz die geltend gemachten Ansprüche auf Versorgung mit Cialis und Kostenerstattung ausschließt. Als Rechtsgrundlage der Kostenerstattung kommt allein § 13 Abs 3 S 1 Alt 2 SGB V in Betracht (anzuwenden idF des Art 5 Nr 7 Buchst b SGB IX - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen vom 19.6.2001, BGBl I 1046). Die Rechtsnorm bestimmt: Hat die KK eine Leistung zu Unrecht abgelehnt und sind dadurch Versicherten für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden, sind diese von der KK in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war. Ein Anspruch auf Kostenerstattung besteht demnach nur, wenn zwischen dem die Haftung der KK begründenden Umstand (rechtswidrige Ablehnung) und dem Nachteil des Versicherten (Kostenlast) ein Ursachenzusammenhang besteht (stRspr, vgl zB BSGE 96, 161 = SozR 4-2500 § 13 Nr 8, RdNr 23; BSG SozR 4-2500 § 31 Nr 15 RdNr 15 mwN).
10

Daran fehlt es vorliegend entgegen der Rechtsauffassung des SG nicht. Zwar liegt der erforderliche Ursachenzusammenhang zwischen der Ablehnung der KK und der Kostenbelastung des Versicherten nicht vor, wenn die KK vor Inanspruchnahme einer vom Versicherten selbst beschafften Leistung mit dem Leistungsbegehren gar nicht befasst wurde, obwohl dies möglich gewesen wäre (stRspr, zB BSGE 98, 26 = SozR 4-2500 § 13 Nr 12, RdNr 10; BSG SozR 4-2500 § 13 Nr 16 RdNr 13 mwN) . Das gilt auch über den Zeitraum nach Erlass einer die Kostenübernahme ablehnenden Entscheidung hinaus, wenn es sich um eine aus medizinischen Gründen untrennbare, einheitliche Behandlung handelt (vgl zB BSG SozR 4-2500 § 13 Nr 16 RdNr 17 mwN). Dafür besteht aber beim Einsatz von Cialis zur Behandlung der erektilen Dysfunktion kein Anhaltspunkt.
11

Der Kläger hat indes keinen Anspruch auf Versorgung mit Cialis als Naturalleistung, wie ihn nicht nur sein Begehren auf künftige Versorgung, sondern auch auf Erstattung voraussetzt. Denn der Kostenerstattungsanspruch reicht nicht weiter als ein entsprechender Sachleistungsanspruch; er setzt daher voraus, dass die selbst beschaffte Behandlung zu den Leistungen gehört, welche die KK allgemein in Natur als Sach- oder Dienstleistung zu erbringen haben (stRspr, vgl zB BSGE 97, 190 = SozR 4-2500 § 27 Nr 12, RdNr 11 mwN - LITT; BSG SozR 4-2500 § 27 Nr 18 RdNr 11). § 34 Abs 1 S 7 bis 9 SGB V (idF durch Art 1 Nr 22 Buchst a Doppelbuchst cc Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung - GKV-Modernisierungsgesetz <GMG> vom 14.11.2003, BGBl I 2190, in Kraft seit 1.1.2004) schließt einen Anspruch auf Versorgung mit Cialis zur Behandlung der erektilen Dysfunktion aus.
12

Nach § 27 Abs 1 S 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die Krankenbehandlung umfasst ua die Versorgung mit Arzneimitteln (§ 27 Abs 1 S 2 Nr 3 Fall 1 SGB V). Versicherte haben Anspruch auf Versorgung mit apothekenpflichtigen Arzneimitteln, soweit die Arzneimittel nicht nach § 34 SGB V oder durch Richtlinien nach § 92 Abs 1 S 2 Nr 6 SGB V ausgeschlossen sind (§ 31 Abs 1 S 1 SGB V). § 34 Abs 1 S 7 bis 9 SGB V bestimmt: "Von der Versorgung sind außerdem Arzneimittel ausgeschlossen, bei deren Anwendung eine Erhöhung der Lebensqualität im Vordergrund steht. Ausgeschlossen sind insbesondere Arzneimittel, die überwiegend zur Behandlung der erektilen Dysfunktion, der Anreizung sowie Steigerung der sexuellen Potenz, zur Raucherentwöhnung, zur Abmagerung oder zur Zügelung des Appetits, zur Regulierung des Körpergewichts oder zur Verbesserung des Haarwuchses dienen. Das Nähere regeln die Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6."
13

Die Richtlinie des GBA über die Verordnung von Arzneimitteln in der vertragsärztlichen Versorgung wiederholt in ihrem II. Teil unter Buchst F in § 14 Abs 1 S 1 und Abs 2 weitgehend den Text des § 34 Abs 1 S 7 und 8 SGB V (AM-RL idF vom 18.12.2008/22.1.2009, BAnz Nr 49a <Beilage> vom 31.3.2009, zuletzt geändert am 15.12.2011 mWv 20.1.2012, BAnz Nr 11 vom 19.1.2012, S 254). Nach § 14 Abs 3 AM-RL sind die nach Abs 2 ausgeschlossenen Fertigarzneimittel in einer Übersicht als Anlage II der AM-RL zusammengestellt. In dieser Übersicht ist das Fertigarzneimittel Cialis mit dem Wirkstoff Tadalafil aufgeführt. Dies entspricht auch der - soweit hier von Interesse - zuvor geltenden Anlage 8 der Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen über die Verordnung von Arzneimitteln in der vertragsärztlichen Versorgung (AMRL idF vom 31.8.1993, BAnz Nr 246 vom 31.12.1993, S 11155, zuletzt geändert am 10.4.2008, BAnz Nr 101 vom 9.7.2008, S 2491; Anlage 8 abgedruckt in DÄ 2004, A 963, 965).
14

Entgegen der Ansicht des Klägers ist es im Rahmen des § 34 Abs 1 S 7 bis 9 SGB V nicht möglich, nach der Ursache der Erkrankung mit der Folge zu differenzieren, dass der Leistungsausschluss bei einer behinderungsbedingten erektilen Dysfunktion nicht greift. Der Anwendungsbereich dieses Leistungsausschlusses kann nach Wortlaut, Entstehungsgeschichte, Regelungssystem und -zweck nicht auf Fälle teleologisch reduziert werden, in denen Arzneimittel - etwa bei entsprechender Anspannung aller Willenskräfte - nicht erforderlich sind (BSG Urteil vom 18.7.2006 - B 1 KR 10/05 R - USK 2006-139 = juris RdNr 11 f - Caverject). Die gesetzliche Regelung will vielmehr den Ausschluss der aufgeführten Arzneimittel aus dem Leistungskatalog der GKV umfassend sicherstellen (BSG Urteil vom 18.7.2006 - B 1 KR 10/05 R - USK 2006-139 = juris RdNr 12). Art 1 Nr 22 Buchst a Doppelbuchst cc GMG zielt mit der Einfügung von S 7 bis 9 in § 34 Abs 1 SGB V darauf ab, sämtliche Arzneimittel, die ua überwiegend der Behandlung der erektilen Dysfunktion dienen, von der Verordnung zu Lasten der GKV auszuschließen (vgl BSGE 94, 302 = SozR 4-2500 § 34 Nr 2, RdNr 24 - Viagra).
15

Ein anderes Ergebnis folgt nicht aus § 2a SGB V. Nach dieser durch Art 1 Nr 1 GMG eingefügten Vorschrift ist den besonderen Belangen behinderter und chronisch kranker Menschen Rechnung zu tragen. Die Regelung dient als Auslegungshilfe, um das Benachteiligungsverbot aus Art 3 Abs 3 S 2 GG umzusetzen (vgl funktional ähnlich BSG Urteil vom 25.5.2011 - B 12 KR 8/09 R - RdNr 26 mwN, zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen). § 2a SGB V vermag aber nicht, einen gesetzlichen Leistungsausschluss zu überwinden (vgl etwa BSG SozR 4-3500 § 54 Nr 6 RdNr 22).
16

3. Entgegen der Ansicht des Klägers führt Art 25 UN-BRK zu keinem Anspruch auf Versorgung mit Cialis zu Lasten der GKV. Hierbei ist lediglich Art 25 S 3 Buchst b iVm S 1 und 2 UN-BRK näher in den Blick zu nehmen. Der in § 34 Abs 1 S 7 bis 9 SGB V umfassend geregelte Leistungsausschluss widerspricht dagegen schon im Ansatz nicht dem in Art 25 S 3 Buchst a UN-BRK enthaltenen speziellen Diskriminierungsverbot.
17

Nach Art 25 S 3 Buchst a UN-BRK stellen die Vertragsparteien Menschen mit Behinderungen eine unentgeltliche oder erschwingliche Gesundheitsversorgung in derselben Bandbreite, von derselben Qualität und auf demselben Standard zur Verfügung wie anderen Menschen, einschließlich sexual- und fortpflanzungsmedizinischer Gesundheitsleistungen und der Gesamtbevölkerung zur Verfügung stehender Programme des öffentlichen Gesundheitswesens. Das SGB V stellt dem Kläger in diesem Sinne eine Gesundheitsversorgung genau in derselben Bandbreite, von derselben Qualität und auf demselben Standard zur Verfügung wie anderen Menschen. Art 25 S 3 Buchst a UN-BRK enthält dagegen nach Wortlaut, Regelungssystem und Zweck keinen Anspruch auf eine Behandlung aller "wesentlichen Erkrankungen" zu Lasten der GKV.
18

Im Ergebnis begründet auch Art 25 S 3 Buchst b iVm S 1 und 2 UN-BRK keine eigenständige Rechtsgrundlage, die den in § 34 Abs 1 S 7 bis 9 SGB V geregelten Leistungsausschluss für behinderte Menschen aufhebt. Art 25 S 1, 2 und 3 Buchst b UN-BRK hat in der - gemäß Art 50 UN-BRK nicht verbindlichen - deutschen Fassung folgenden Wortlaut:
"Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht von Menschen mit Behinderungen auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit ohne Diskriminierung aufgrund von Behinderung. Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Maßnahmen, um zu gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen Zugang zu geschlechtsspezifischen Gesundheitsdiensten, einschließlich gesundheitlicher Rehabilitation, haben. Insbesondere…

b) bieten die Vertragsstaaten die Gesundheitsleistungen an, die von Menschen mit Behinderungen speziell wegen ihrer Behinderungen benötigt werden, soweit angebracht, einschließlich Früherkennung und Frühintervention, sowie Leistungen, durch die, auch bei Kindern und älteren Menschen, weitere Behinderungen möglichst gering gehalten oder vermieden werden sollen;

[...]"
19

Art 25 S 3 Buchst b UN-BRK verdrängt nicht als ranggleiches späteres Bundesrecht den 2004 in das SGB V eingefügten Leistungsausschluss des § 34 Abs 1 S 7 bis 9 SGB V nach den Grundsätzen der allgemeinen intertemporalen Kollisionsregeln (vgl hierzu BSG SozR 4-2500 § 275 Nr 4 RdNr 13 f; lex posterior derogat legi priori). Art 25 S 3 Buchst b UN-BRK gilt in Deutschland im Rang einfachen Bundesrechts. Das Vertragsgesetz zur UN-BRK ist gemäß dessen Art 2 Abs 1 am 1.1.2009 in Kraft getreten. Es erteilt innerstaatlich den Befehl zur Anwendung der UN-BRK und setzt diese in nationales Recht um (vgl allgemein BVerfG NJW 2007, 499, 501; BVerfGE 104, 151, 209; 90, 286, 364; 77, 170, 210). Völkerrechtliche Verbindlichkeit kommt der UN-BRK für Deutschland gemäß Art 45 Abs 2 UN-BRK ab 26.3.2009 zu (vgl auch Art 2 Abs 2 Vertragsgesetz zur UN-BRK iVm der Bekanntmachung über das Inkrafttreten der UN-BRK vom 5.6.2009, BGBl II 812). Ab diesem Zeitpunkt könnte Art 25 S 3 Buchst b UN-BRK entgegenstehendes älteres Bundesrecht obsolet werden lassen (vgl auch BSG SozR 4-2500 § 33 Nr 25 RdNr 28; zur Abhängigkeit des Geltungsbeginns von der völkerrechtlichen Wirksamkeit des Vertrages BVerfGE 63, 343, 354; 1, 396, 411 f; RG JW 1932, 582; Kunig in Graf Vitzthum, Völkerrecht, 5. Aufl 2010, S 120 RdNr 112; aA Burghart DÖV 1993, 1038).
20

Innerhalb der deutschen Rechtsordnung stehen völkerrechtliche Verträge wie die UN-BRK, denen die Bundesrepublik Deutschland beigetreten ist, im Range eines Bundesgesetzes (vgl BVerfGE 111, 307, 317; 82, 106, 114; 74, 358, 370). Diese Rangzuweisung führt in Verbindung mit Art 20 Abs 3 GG dazu, dass deutsche Gerichte das anwendbare Völkervertragsrecht wie anderes Gesetzesrecht des Bundes im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung zu beachten und anzuwenden haben, hier also ggf unter Beachtung des intertemporalen Rechts (vgl BVerfGE 111, 307, 317; einem theoretisch denkbaren Vorrang von Völkervertragsrecht nach § 30 Abs 2 SGB I steht der Anwendungsvorrang des SGB V entgegen, vgl § 37 S 1 und 2 SGB I). Ein - weitergehender - Anwendungsvorrang besteht dagegen für eine völkerrechtliche Norm, wenn sie in den Rang des Gewohnheitsrechts erwachsen ist. In diesem Falle sind die Behörden und Gerichte der Bundesrepublik Deutschland gemäß Art 25 GG grundsätzlich daran gehindert, innerstaatliches Recht in einer die Norm verletzenden Weise auszulegen und anzuwenden (vgl BVerfGE 112, 1, 27; Masuch in Festschrift für Renate Jaeger, 2011, 245, 260).
21

Die Regelung des Art 25 S 3 Buchst b UN-BRK beinhaltet indes keine allgemeine Regel des Völkerrechts mit dem genannten Geltungsvorrang. Bei den allgemeinen Regeln des Völkerrechts handelt es sich um Regeln des universell geltenden Völkergewohnheitsrechts, ergänzt durch aus den nationalen Rechtsordnungen tradierte allgemeine Rechtsgrundsätze (BVerfGE 117, 141, 149; 109, 13, 27; 16, 27, 33; 15, 25, 32 ff). Das Bestehen von Völkergewohnheitsrecht setzt eine gefestigte Praxis zahlreicher Staaten voraus, die in der Überzeugung geübt wird, hierzu aus Gründen des Völkerrechts verpflichtet zu sein (BVerfGE 46, 342, 367 mwN). Daran fehlt es hier. Art 25 S 3 Buchst b UN-BRK gibt nämlich nicht eine gefestigte Praxis zahlreicher Staaten wieder, Menschen mit Behinderungen ein der Regelung vergleichbares Recht auf Gesundheit zu gewähren. Dies verdeutlicht bereits eine Betrachtung des europäischen Rechtsrahmens. Ein entsprechendes Recht ist etwa weder in der Europäischen Menschenrechtskonvention noch in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union enthalten (vgl hierzu Rothfritz, Die Konvention der Vereinten Nationen zum Schutz der Rechte von Menschen mit Behinderungen, 2010, S 333).
22

Kein Anwendungsvorrang des Art 25 UN-BRK folgt aus dem Umstand, dass die Europäische Gemeinschaft (EG; Rechtsnachfolgerin: Europäische Union <EU>, vgl Art 1 Abs 3 S 3 Vertrag über die Europäische Union und Schreiben an den UN-Generalsekretär, BGBl II 2010, 250) dem Übereinkommen gemäß Art 44 UN-BRK iVm Art 310 des Vertrags zur Gründung der EG (<EGV> idF des Vertrages von Nizza, BGBl II 2001, 1666; vgl jetzt Art 217 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union <AEUV>) beigetreten ist. Dieser Beitritt wirkt nur im Umfang der Zuständigkeiten der EG. Die EG vermochte sich völkerrechtlich nur im Rahmen ihrer Zuständigkeit zu binden (vgl auch die Erklärung der EG zur UN-BRK, abrufbar unter http://treaties.un.org). Nur in diesem Rahmen kann eine Bindung der Mitgliedstaaten nach Art 300 Abs 7 EGV bzw nunmehr nach Art 216 Abs 2 AEUV eintreten, die den Bestimmungen der UN-BRK zu einer Stellung über dem Bundesrecht verhilft. Die Festlegung der Leistungskataloge der nationalen Krankenversicherungssysteme liegt indes außerhalb der Kompetenz der EU (Art 168 Abs 7 AEUV, zuvor Art 152 Abs 5 EGV; EuGHE I 2001, 5473 RdNr 87 - Smits und Peerbooms; EuGHE I 2003, 4509 RdNr 98 - Müller-Fauré und van Riet; vgl insgesamt auch Denkschrift der Bundesregierung zur UN-BRK, BT-Drucks 16/10808, S 45, 46).
23

Art 25 S 3 Buchst b UN-BRK, der in der deutschen Rechtsordnung wie dargelegt im Range eines einfachen Bundesgesetzes gilt, enthält - soweit hier von Interesse - keine Vorgaben, die unmittelbar für Ansprüche GKV-Versicherter auf Arzneimittel bei erektiler Dysfunktion relevant sind. Die Norm ist - jedenfalls in ihrem hier bedeutsamen Teil - nicht hinreichend bestimmt, um von den KKn unmittelbar angewendet zu werden; sie bedarf einer Ausführungsgesetzgebung und ist non-self-executing (vgl dazu Grzeszick, Rechte des Einzelnen im Völkerrecht, AVR 43, 2005, 312, 318).
24

Die unmittelbare Anwendbarkeit völkervertragsrechtlicher Bestimmungen (zum Unterschied zur Geltung vgl etwa BVerfG NJW 2011, 2113 RdNr 53 f; BVerfGK 9, 174 = NJW 2007, 499, RdNr 52 f; speziell zur UN-BRK Aichele AnwBl 2011, 727, 730) setzt voraus, dass die Bestimmung alle Eigenschaften besitzt, welche ein Gesetz nach innerstaatlichem Recht haben muss, um Einzelne berechtigen oder verpflichten zu können (vgl BVerfGE 29, 348, 360). Dafür muss ihre Auslegung ergeben, dass sie geeignet und hinreichend bestimmt ist, wie eine innerstaatliche Vorschrift rechtliche Wirkung zu entfalten, ohne dass es einer weiteren normativen Ausfüllung bedarf (BVerfG NJW 2007, 499, 501; BVerfGE 29, 348, 360; vgl auch BVerwG Beschluss vom 18.1.2010 - 6 B 52/09 - juris RdNr 4; BVerwGE 134, 1 RdNr 46; BVerwGE 125, 1 RdNr 12; BVerwGE 120, 206, 208 f; BVerwGE 92, 116, 118; BVerwGE 87, 11, 13). Ist eine Regelung - objektiv-rechtlich - unmittelbar anwendbar, muss sie zusätzlich auch ein subjektives Recht des Einzelnen vermitteln (Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, 5. Aufl 2010, S 141, 159; Grzeszick, AVR 43, 2005, 312, 318). Gemäß Art 31 Abs 1 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge vom 23.5.1969 (BGBl II 1985, 926 und BGBl II 1987, 757) erfolgt die Auslegung eines völkerrechtlichen Vertrages nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte seines Ziels und Zwecks (vgl auch Graf Vitzthum in ders, Völkerrecht, 5. Aufl 2010, S 56 RdNr 123 mwN). Wortlaut, Regelungszusammenhang sowie Ziel und Zweck der Regelung des Art 25 S 3 Buchst b UN-BRK sprechen gegen seine unmittelbare Anwendbarkeit für Leistungsrechte GKV-Versicherter im dargelegten Sinne.
25

Nach seinem Wortlaut verpflichtet Art 25 S 3 Buchst b UN-BRK die Vertragsstaaten zu weiteren Maßnahmen, nämlich dazu, die genau benannten Gesundheitsleistungen "anzubieten". Die Terminologie der Verpflichtung von Vertragsstaaten, Leistungen "anzubieten" ("to provide"), indiziert keine unmittelbare Anwendbarkeit (vgl auch Ziff 33 des "General Comment No 14" vom 11.8.2000 <UN> zum Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 19.12.1966, BGBl II 1973, 1569; im Folgenden: WiSoKuPakt; zur Bedeutung der "General Comments" im Völkerrecht vgl zB BVerwGE 134, 1 RdNr 48 mwN; englische Fassungen der General Comments im Internet abrufbar unter http://www.unhchr.ch/tbs/doc.nsf/, deutsche Übersetzung veröffentlicht in Deutsches Institut für Menschenrechte, Die "General Comments" zu den VN-Menschenrechtsverträgen. Deutsche Übersetzung und Kurzeinführungen, 2005; zur Typologie "to respect", "to protect" and "to fulfil" im Zusammenhang mit wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechten vgl Koch in Human Rights Law Review 5, 2005, 81). Die Formulierung unterscheidet sich zugleich wesentlich von anderen Vertragsbestimmungen, die bereits nach ihrem Wortlaut einen unmittelbaren Anspruch begründen, ohne dass es weiterer Umsetzungsakte bedarf (so zB Art 30 Abs 4 UN-BRK: "Menschen mit Behinderungen haben gleichberechtigt mit anderen Anspruch auf …").
26

Auch der Regelungszusammenhang mit Art 25 S 1 und 2 UN-BRK spricht gegen eine unmittelbare Anwendbarkeit von S 3 Buchst b der genannten Regelung. Weil die Vertragsstaaten das Recht von Menschen mit Behinderungen auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit ohne Diskriminierung aufgrund von Behinderung anerkennen, treffen sie die in S 2 genannten geeigneten Maßnahmen, um dieses Recht zu gewährleisten. Art 25 S 3 Buchst b UN-BRK knüpft hieran an und spezifiziert beispielhaft ("Insbesondere") die in Art 25 S 1 und 2 UN-BRK ausdrücklich als Staatenverpflichtung konzipierte allgemeine Regelung.
27

Das Ineinandergreifen der Bestimmungen des Art 25 S 1, 2 und 3 Buchst b UN-BRK verdeutlicht zugleich die Zielsetzung und den Regelungszweck, das in Art 25 UN-BRK geschützte Menschenrecht im "erreichbaren Höchstmaß" zu verwirklichen. Die darin liegende Beschränkung spiegelt die Grenzen aufgrund der eingeschränkten finanziellen Leistungsfähigkeit der sozialen Sicherungssysteme wider: Nach Art 4 Abs 2 UN-BRK ist jeder Vertragsstaat hinsichtlich der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte verpflichtet, unter Ausschöpfung seiner verfügbaren Mittel und erforderlichenfalls im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit Maßnahmen zu treffen, um nach und nach die volle Verwirklichung dieser Rechte zu erreichen (sog Progressionsvorbehalt).
28

Die Regelung des Art 4 Abs 2 UN-BRK gilt zwar unbeschadet derjenigen Verpflichtungen aus diesem Übereinkommen, die nach dem Völkerrecht sofort anwendbar sind. Dazu gehört Art 25 S 3 Buchst b UN-BRK wegen seines Umsetzungsbedarfs in nationales Recht aber nicht. Diese Rechtsnorm ist vielmehr mit Art 12 Abs 2 WiSoKuPakt vergleichbar. Er benennt beispielhaft Schritte, die die Vertragsstaaten zur vollen Verwirklichung des "erreichbaren Höchstmaßes" ("highest attainable standard") an Gesundheit einzuleiten haben (vgl zur Entwicklung der UN-BRK im völkerrechtlichen Kontext auch Masuch in Festschrift für Renate Jaeger, 2011, 245, 246; Aichele, APuZ 2010, 13, 15; siehe auch "General Comment 3" Ziff 5 vom 14.12.1990 <UN> - keine Erwähnung von Art 12 WiSoKuPakt; "General Comment No 14" vom 11.8.2000 <UN> Ziff 1 zum Diskriminierungsverbot und Ziff 43 - Kernbereich medizinischer Grundversorgung auf Minimalniveau <"minimum essential levels[…] including essential primary health care"> - hier nicht betroffen; vgl schließlich Denkschrift der Bundesregierung zur UN-BRK, BT-Drucks 16/10808, S 45, 58 f).
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4. Letztlich verhelfen auch weder das Diskriminierungsverbot des Art 5 Abs 2 UN-BRK noch Verfassungsrecht dem Kläger zum Erfolg. Art 5 Abs 2 UN-BRK ist allerdings nach den aufgeführten Kriterien unmittelbar anwendbar, in diesem Sinne also self-executing (vgl BVerfG SozR 4-2600 § 77 Nr 9 RdNr 54; Denkschrift der Bundesregierung zur UN-BRK, BT-Drucks 16/10808, S 45, 48; Masuch in Festschrift für Renate Jaeger, 2011, 245, 246, 250). Nach dieser Regelung verbieten die Vertragsstaaten jede Diskriminierung aufgrund von Behinderung und garantieren Menschen mit Behinderungen gleichen und wirksamen rechtlichen Schutz vor Diskriminierung, gleichviel aus welchen Gründen.
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Zu den Menschen mit Behinderungen zählen nach Art 1 Abs 2 UN-BRK Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können. Nach Art 2 UN-BRK bedeutet "Diskriminierung aufgrund von Behinderung" jede Unterscheidung, Ausschließung oder Beschränkung aufgrund von Behinderung, die zum Ziel oder zur Folge hat, dass das auf die Gleichberechtigung mit anderen gegründete Anerkennen, Genießen oder Ausüben aller Menschenrechte und Grundfreiheiten im politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen, bürgerlichen oder jedem anderen Bereich beeinträchtigt oder vereitelt wird. Sie umfasst alle Formen der Diskriminierung, einschließlich der Versagung angemessener Vorkehrungen. Im Sinne des Übereinkommens bedeutet gemäß Art 2 UN-BRK "angemessene Vorkehrungen" notwendige und geeignete Änderungen und Anpassungen, die keine unverhältnismäßige oder unbillige Belastung darstellen und die, wenn sie in einem bestimmten Fall erforderlich sind, vorgenommen werden, um zu gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen alle Menschenrechte und Grundfreiheiten genießen oder ausüben können. Nach Art 4 Abs 1 S 1 UN-BRK verpflichten sich die Vertragsstaaten, die volle Verwirklichung aller Menschenrechte und Grundfreiheiten für alle Menschen mit Behinderungen ohne jede Diskriminierung aufgrund von Behinderung zu gewährleisten und zu fördern. Zu diesem Zweck verpflichten sich die Vertragsstaaten zu den im Einzelnen in Art 4 Abs 1 S 2 UN-BRK genannten Maßnahmen.
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Ausgehend von diesen Grundsätzen entspricht das unmittelbar anwendbare Diskriminierungsverbot des Art 5 Abs 2 UN-BRK für die Leistungsbestimmungen der GKV im Wesentlichen dem Regelungsgehalt des Art 3 Abs 3 S 2 GG. Danach darf niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. Das Benachteiligungsverbot des Art 3 Abs 3 S 2 GG erschöpft sich nicht in der Anordnung, behinderte und nichtbehinderte Menschen rechtlich gleich zu behandeln. Vielmehr kann eine Benachteiligung auch bei einem Ausschluss von Entfaltungs- und Betätigungsmöglichkeiten durch die öffentliche Gewalt gegeben sein, wenn dieser nicht durch eine auf die Behinderung bezogene Fördermaßnahme kompensiert wird (vgl BVerfGE 99, 341, 357; 96, 288, 303; BVerfGK 7, 269, 273). Besonders bedeutsam ist in diesem Zusammenhang, dass die UN-BRK generell als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite der Grundrechte herangezogen werden kann (vgl BVerfG NJW 2011, 2113, RdNr 52; BVerfGE 111, 307, 317) und dies auch speziell für das Verständnis des Art 3 Abs 3 S 2 GG gilt (so im Ergebnis BVerfG SozR 4-2600 § 77 Nr 9 RdNr 54).
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Der gesetzliche Leistungsausschluss nach § 34 Abs 1 S 7 bis 9 SGB V verstößt indes weder gegen das verfassungsrechtliche Benachteiligungs- noch gegen das konventionsrechtliche Diskriminierungsverbot. Der gesetzliche Leistungsausschluss knüpft nicht an eine Behinderung im verfassungsrechtlichen (vgl die allgemein auf die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben abstellende Regelung des § 2 Abs 1 S 1 SGB IX, an dessen Vorgängernorm - § 3 Abs 1 Schwerbehindertengesetz - sich der verfassungsändernde Gesetzgeber bei der Schaffung des Art 3 Abs 3 S 2 GG orientiert hat, s BVerfGE 96, 288, 301) und konventionsrechtlichen Sinne an, sondern erfasst weitergehend alle Fälle der Erkrankung (§ 27 Abs 1 S 2 Nr 3 SGB V) oder - hier nicht betroffen - der Schwächung der Gesundheit, die in absehbarer Zeit voraussichtlich zu einer Krankheit führen würde (§ 23 Abs 1 Nr 1, Abs 3 SGB V). Die Ausschlussregelung setzt nicht den Eintritt einer Behinderung voraus, sondern lässt auch eine vorübergehende Krankheit oder Erscheinungsformen in deren Vorfeld ausreichen.
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Auch soweit die Vorschrift zugleich behinderte Menschen iS des Art 3 Abs 3 S 2 GG oder des Art 1 Abs 2 UN-BRK trifft, ist sie wegen des Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers bei der Ausgestaltung des GKV-Leistungskatalogs noch gerechtfertigt. Wie das GG fordert auch die UN-BRK zur Achtung des Diskriminierungsverbots keine unverhältnismäßigen oder unbilligen Belastungen. Die sich daraus ergebenden Rechtfertigungsanforderungen sind nicht höher als die nach dem GG.
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Nach der Rechtsprechung des BVerfG ist es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass die GKV den Versicherten Leistungen nach Maßgabe eines allgemeinen Leistungskatalogs (§ 11 SGB V) unter Beachtung des Wirtschaftlichkeitsgebots (§ 12 SGB V) zur Verfügung stellt, soweit diese Leistungen nicht der Eigenverantwortung der Versicherten zugerechnet werden (§ 2 Abs 1 S 1 SGB V). Es steht mit dem GG in Einklang, wenn der Gesetzgeber vorsieht, dass die Leistungen der GKV ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich zu sein haben und nicht das Maß des Notwendigen überschreiten dürfen (§ 2 Abs 1 S 1 SGB V). Der GKV-Leistungskatalog darf auch von finanzwirtschaftlichen Erwägungen mitbestimmt sein. Gerade im Gesundheitswesen hat der Kostenaspekt für gesetzgeberische Entscheidungen erhebliches Gewicht (vgl BVerfGE 103, 172, 184). Die gesetzlichen KKn sind nicht von Verfassungs wegen gehalten, alles zu leisten, was an Mitteln zur Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit verfügbar ist (vgl BVerfGE 115, 25, 45 = SozR 4-2500 § 27 Nr 5).
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Auch aus dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten (vgl BVerfGE 89, 120, 130) folgt jedenfalls kein grundrechtlicher Anspruch gegen seine KK auf Bereitstellung oder Finanzierung bestimmter Gesundheitsleistungen (stRspr, vgl BVerfG <Kammer> NJW 1998, 1775; NJW 1997, 3085). Der Gesetzgeber verletzt seinen Gestaltungsspielraum weder im Hinblick auf das Sozialstaatsgebot noch auf das Benachteiligungsverbot behinderter Menschen, wenn er angesichts der beschränkten finanziellen Leistungsfähigkeit der GKV Leistungen aus dem Leistungskatalog ausschließt, die - wie hier - in erster Linie einer Steigerung der Lebensqualität jenseits lebensbedrohlicher Zustände dienen. Dies gilt erst recht, wenn es sich um Bereiche handelt, bei denen die Übergänge zwischen krankhaften und nicht krankhaften Zuständen auch maßgeblich vom subjektiven Empfinden des einzelnen Versicherten abhängen können (vgl auch BSGE 94, 302 = SozR 4-2500 § 34 Nr 2, RdNr 25 - Viagra). Schließlich darf der Gesetzgeber auch aus Gründen der Rechtssicherheit klare Grenzlinien ziehen (vgl hierzu Begründung des Entwurfs der Fraktionen SPD, CDU/CSU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zum GMG, BT-Drucks 15/1525, S 86 zu Art 1 Nr 22 Buchst a Doppelbuchst cc).
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5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

http://juris.bundessozialgericht.de/cgi ... s=1&anz=10

Kasharius grüßt

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Re: RE: Hilferuf aus Behindertenwohnheim...

Beitrag von Kasharius »

         Bei Interesse bitte den Termin vormerken, ein Flyer mit Anmeldebogen wird demnächst erstellt und zugesandt!


Und hier ist er schon zur Tagung der spastikerhilfe am 28. September 2012 in Berlin

http://www.spastikerhilfe-berlin-eg.de/ ... 280912.pdf

Kasharius hofft auf rege Teilnahme :006