Debatte auf der Achse des Guten

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CK
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Debatte auf der Achse des Guten

Beitrag von CK »

Ich mag die "Achse des Guten" an sich sehr gerne, lese nun schon seit vielen Jahren ihre Texte zu allmöglichen Themen, bin auch ein Fan von Broder und seinen Kollegen, aber das hier ist ein echt böser Post von Antje Sievers zu Sexarbeit. Übrigens ned der Erste von ihr.

http://www.achgut.com/dadgdx/index.php/ ... erbraemung

:009

Glücklicherweise hat der von mir hochgeschätzte Gérard Bökenkamp sogleich reagiert:

http://www.achgut.com/dadgdx/index.php/ ... sellschaft

:001

Und Cora Stephan zu Alice S:
http://cora-stephan.blogspot.de/2013/12 ... r-was.html
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Klaus Fricke
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RE: Debatte auf der Achse des Guten

Beitrag von Klaus Fricke »

Guten Tag.

Frau Sievers wiederholt ein Argument, das die gesamte Debatte gegen die Prostitution und ihren eigenen Beitrag durchzieht. Auch wenn es eine Geduldsprobe ist, ich zitiere:

"Es liegt in der Natur der Sache, dass man über die Anzahl von Prostituierten sowie die Freiwilligkeit oder Unfreiwilligkeit ihrer Tätigkeit wenig verlässliche Daten erheben kann, da Sexarbeit auch nach ihrer Legalisierung im Verborgenen blüht. Man kann daher allein von Schätzwerten ausgehen, die auf Erfahrung beruhen. Selbstverständlich ist es für Polizisten, Sozialarbeiter, Mediziner und besonders die Angehörigen von Prostituierten kein großes Geheimnis, dass bei achtzig bis neunzig Prozent der Huren von Freiwilligkeit keine Rede sein kann." (Hervorhebungen KF)

Also folgende Aussagen werden als wahr behauptet
1. Es können nur wenige verlässliche Daten erhoben werden, denn SW blüht im Verborgenen
2. Es gibt nur Schätzwerte
3. Bei achtzig bis neunzig Prozent der SW kann von Freiwilligkeit keine Rede sein

Das erste was auffällt Die Aussagen 1. und 2. stehen in einem Spannungsverhältnis zu Aussage 3. Entweder es gibt keine verlässlichen Zahlen oder die Zahl 80 bis 90 % ist verlässlich und es gibt verlässlich Zahlen. Bei Abgabe von Leistungsnachweisen würde das in Schule, Uni und Beruf keinen guten Eindruck machen. X kann nicht gleichzeitig 1 und -1 sein. (Ich hoffe, dass mich Mathematiker keines Besseren belehren)

Aussage 1:Erhebung von verlässlichen Daten ist kaum möglich
Für Bremen liegen verlässliche Daten zur Größe der Gruppe von Sexarbeiterinnen vor, die in der Zeit vom 31.11.bis zum 09.12.2013 in Wohnungen ihrer Tätigkeit nachgegangen sind und Werbung auf der Hostessen-Meile geschaltet hatten. Damit ist zweifelsfrei der größte Teil der so in Bremen in Wohnungen im Haupterwerb tätigen SW erfasst. Im Zeitraum wurden 290 Anzeigen erfasst. Am Stichtag der Auswertung, dem 09.12.2013 waren 244 Anzeigen geschaltet. Der Mittelwert im Beobachtungszeitraum waren 253,4 geschaltete Anzeigen. Es kann davon ausgegangen werden
dass die Gruppe der im Haupterwerb in Wohnungen in Bremen tätigen Sexarbeiterinnen um die Größe von 250 schwankt.
Es war methodisch leicht, diese Daten zu erheben
,
auch wenn dafür einiges an Arbeit erforderlich war.

Aussage 2: Es sind nur Schätzungen möglich
Jede sozialwissenschaftliche Erhebung, die Vergleichszahlen präsentiert, spricht über Gruppen, die nach bestimmten Kriterien definiert, mit hoffentlich klaren Fragestellungen betrachtet und schliesslich verallgemeinernd in Daten dargestellt werden. Die so gewonnen Daten sind keine Schätzungen, sondern Ergebnisse, die zu interpretieren und zu bewerten sind. Ein weiteres Ergebnis der Bremer Erhebung: Im Erhebungszeitraum gingen 71 Sexarbeiterinnen aus dem rumänischen Sprachraum in Bremen ihrer Tätikeit (Haupterwerb) in Wohnungen nach. Drei davon reisten im Erhebungszeitraum aus Bremen ab. Vier weitere waren nicht zu erreichen. Mit 64 von Ihnen (100 %) wurde das persönliche oder telefonische Gespräch geführt. Dreizehn von Ihnen wollten an der Erhebung nicht teilnehmen, nicht ausführlich mit uns sprechen oder wir hatten nur kurzen telefonischen Kontakt zu Ihnen. Keine von ihnen hat eine Aussage gemacht, die auf Unfreiwilligkeit der Tätigkeit schliessen lies. Sie haben das Gespräch aber letztlich abgelehnt. Vier machten Angaben zu ihrer persönlichen Situation, wollten aber micht, dass diese Angaben in eine Erhebung Eingang finden, die von Ihnen namentlich (Arbeitsname) zu unterzeichnen war. Keine von ihnen hat eine Aussage gemacht, die auf Unfreiwilligkeit der Tätigkeit schliessen lies. 47 machten Aussagen und bestätigten diese durch Unterschrift. Eine dieser Aussagen ist:

Ich gehe der Tätigkeit aus eigenem, freien Willen nach. Ergebnis:
Zustimmungen zu dieser Aussage 47 = 73 %
Enthaltungen zu dieser Aussage 4 = 6 %
Keine Antwort zu dieser Aussage 13 = 20 %
(Rundungsverlust = 1 %)
Ergebnisse, keine Schätzungen. Es lassen sich in Bremen verlässliche Zahlen zum Umfang der im Haupterwerb in Wohnungen tätigen Sexarbeiterinnen ermitteln. Dies gilt insbesondere für die Sexarbeiterinnen die muttersprachlich Rumänisch sind.

Aussage 3: achtzig bis neuzig Prozent der SW arbeitet unfreiwillig
Diese These wird ohne Vorlage irgendwelcher Ergebnisse sozialwissenschaftlicher Erhebungen aufgestellt. Es gibt keine Erhebungen, die diese Aussage rechtfertigen. Der Behauptung fehlt jede Grundlage. Sie ist eine moderne Legende. Früher sagte man Märchen dazu. Sie wird dadurch nicht besser, dass sie von Polizist_innen, Sozialarbeiter_innen oder Journalist_innen wiederholt wird. Die Behauptung ist nichts als ein Phantasieprodukt. Sie ist noch nicht einmal eine Schätzung.

Die Bremer Erhebung unter Sexarbeiterinnen, die im Haupterwerb in Wohnungen tätig und muttersprachlich Rumänisch sind, hat keine Fälle unfreiwillig tätiger Sexarbeiterinnen ermitteln können, folgendes

Ergebnis: Gruppe der sich selbst als unfreiwillig tätig Wahrnehmenden: 0 = 0 %

Weiter Informationen
SIB-SWinfoBremen@gmx.de und
viewtopic.php?p=137708#137708 , Beitrag 2

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Arum
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Re: RE: Debatte auf der Achse des Guten

Beitrag von Arum »

          Bild
Klaus Fricke hat geschrieben: X kann nicht gleichzeitig 1 und -1 sein. (Ich hoffe, dass mich Mathematiker keines Besseren belehren)
Stimmt innerhalb der klassichen Logik; das heisst Tertium non datur, oder auf Deutsch, Satz vom ausgeschlossenen Dritten.

Der Satz ist, wohlgemerkt, seit dem niederländischen Mathematiker und Logiker Brouwer, Grundleger der sogenannten intuitionistischen Logik, einigermassen umstritten. Gilt aber trotzdem immer noch als Grundlage der Logik im allgemeinen.:001

Ich gehe der Tätigkeit aus eigenem, freien Willen nach. Ergebnis:
Zustimmungen zu dieser Aussage 47 = 73 %
Enthaltungen zu dieser Aussage 4 = 6 %
Keine Antwort zu dieser Aussage 13 = 20 %
(Rundungsverlust = 1 %)
[...]
Ergebnis: Gruppe der sich selbst als unfreiwillig tätig Wahrnehmenden: 0 = 0 %
Wie gerne ich Dir da auch recht geben würde, so kann man leider nicht folgern.... Wenn man denn schon, als Teil seiner Argumentation, den Gegner auf logische Fehlschlüsse ertappen möchte (und zurecht), muss man einer solchen Vorgehensweise auch voll bis zum Ende durchziehen.

Aus der Umfrage geht nur hervor, dass 73% der Frauen der ihnen vorgelegten Aussage zugestimmt hat. Dabei ist, wie bei jeder handelsüblichen Umfrage, voraussgesetzt, dass die Befragten die Wahrheit gesprochen haben.

Die übrigen 27% aber haben eine solche Antwort (aus welchem Grund auch immer) nicht geleistet. Und mehr wissen wir nicht. Wäre es nur, weil es anscheinend keine negativ formulierte Aussage gegeben hat, der man auch hätte zustimmen können. Nämlich diese eine: 'Ich gehe der Tätigkeit nicht aus eigenem, freien Willen nach.' Solange diese Option fehlt, fehlt die logische Berechtigung, gleich auf 0% zu schliessen.

Immerhin, eine Mindestzahl von 73% ist und bleibt weit weit besser als die von den Gegnern herbeigezauberten 5 bis 10% Freiwilligkeit.
Guten Abend, schöne Unbekannte!

Joachim Ringelnatz

Klaus Fricke
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RE: Debatte auf der Achse des Guten

Beitrag von Klaus Fricke »

Hallo Arum,

wir haben mit 64 gesprochen. 47 haben die Frage zur Freiwilligkeit mit Unterschrift beantwortet: aus eigenem, freien Willen. Vier weitere haben das Gespräch zu Ende geführt, klare Aussagen gemacht, wollten aber nicht unterschreiben. 13 weitere haben das Gespräch nicht zu Ende geführt, sondern es mehr oder minder früh abgebrochen. Keine hat die dabei gestellte Frage, ob aus eigenem freien Willen gearbeitet wird auf sich bezogen mit nein beantwortet. Die Gespräche wurden aber abgebrochen. Es war keine Frage gestellt worden die den Inhalt hatte: Arbeitest Du unter Zwang durch Zuhälter und Schlepper.

Ich halte damit die Null zur Aussage: Gruppe der sich selbst als unfreiwillig tätig Wahrnehmenden aufrecht. Das ist ein Ergebnis der Erhebung. Nur haben wir keine Verifizierung durch Unterschrift, sehr wohl aber unsere Gesprächsaufzeichnungen und Auswertungen. Die Aussage: aus eigenem, freien Willen wurde hingegen von 73 % schriftlich bestätigt. Keine kleine Hürde, die da übersprungen werden musste. Die Erhebung lief eben nicht über Telefon mit Fragen wie: Hast Du einen Zuhälter Ja/Nein.

Ich werde die Null Aussage aber in der weiteren Präsentation der Ergebnisse so nicht mehr verwenden. Zu zugespitzt.

Danke für die Hinweise und die Kritik.
mit der Fachdiskussion nach Brouwer muss ich mich aber hoffentlich nicht ausführlich beschäftigen, oder?

Grüße Klaus

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Arum
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Re: RE: Debatte auf der Achse des Guten

Beitrag von Arum »

          Bild
Klaus Fricke hat geschrieben:
Ich werde die Null Aussage aber in der weiteren Präsentation der Ergebnisse so nicht mehr verwenden. Zu zugespitzt.
Ja, scheint mir wesentlich besser. Ich möchte Deine Null-Einschätzung im übrigen gar nicht grundsätzlich anzweifeln, aber man soll es den Gegnern eben nicht zu leicht machen, solche Aussagen in Verruf zu bringen.
Danke für die Hinweise und die Kritik.
mit der Fachdiskussion nach Brouwer muss ich mich aber hoffentlich nicht ausführlich beschäftigen, oder?
Ne, nicht unbedingt :002 . Auch wenn ich sagen muss, dass rein logisch (und wohl auch nach Brouwer) Sievers-Aussagen 1 und 2 leider nicht unbedingt in Gegensatz zu Sievers-Aussage 3 stehen, und zwar wegen der Modalität "kann von Freiwilligkeit keine Rede sein", die auf eine verschwiegene, als moralisch, antropologisch oder gar fremdenfeindlich zu bezeichnende Prämisse hinweisen (z.B. zur Natur der Frau ("eine echte Frau macht so etwas nicht aus freien Stücken"), oder "Arumtsprostitution" als wegen der Herkunft der Frauen etwas wesentlich Anderes denn was gilt für deutsche ALDI-Kassiererinnen). Die wird hier einfach unabhängig von den statistischen Tatsachen in den Raum gestellt, auf solch einer Weise, dass sie schwer, wenn überhaupt, über diesen Weg widerlegt werden kann. Das ist eben das Perfide an der Angriffslinie der Gegnerschaft. Nur: Solche verschwiegene, apodiktische Prämisse braucht man eben nicht zu übernehmen.

Übrigens wird in der Logik nicht von 1 und -1 gesprochen, sondern von 1 (wahr) und 0 (unwahr), aber das nur nebenbei bemerkt.
Guten Abend, schöne Unbekannte!

Joachim Ringelnatz

CK
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Re: RE: Debatte auf der Achse des Guten

Beitrag von CK »

Men are pussy-whipped. And they know it. That´s what the strip clubs are about; not woman as victim, not woman as slave, but woman as goddess. (Camille Paglia)

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Beitrag von Angelique »

Das Problem bei solchen Zählungen, die die Basis einer vernünftigen Statistik sein sollen, ist ja dass:

-die wirklich freiwilligen, selbstbewußten SWs lassen sich von Finanzberatern und Juristen etc beraten und nicht von SozialarbeiterInnen. Somit erleben SozialarbeiterInnen, dass "alle" - nämlich alle ihre Klientinnen (!)- eher unfreiwillig und durch Notlagen als SW arbeiten.

-die, die nebenbei "ein bißchen" mit freiwilliger SW dazuverdienen, sind wohl sehr viele, aber genau diese wollen ja unbedingt geheim zu bleiben - weil ja Wohnungsprostitution illegal ist und weil sie nicht zu den wöchentlichen Untersuchungen gehen möchten und daher Angst vor der Polizei (und sonst niemandem ) haben.

Mit solchem Datenmaterial kann man aber keine Statistiken über die Anzahl Freiwilligen berechnen!