Alte Geschlechtskrankheiten wie Tripper und Syphilis nehmen wieder zu. Am stärksten im Kanton Zürich und hier nicht zuletzt auch wegen der gegenwärtigen Situation im Prostitutionsgewerbe am Sihlquai.
«Ich dachte, das gibt es gar nicht mehr.» Diesen Satz hört Siegfried Borelli, Oberarzt am Dermatologischen Ambulatorium des Stadtspitals Triemli, immer wieder. Vor allem von jungen, sexuell aktiven Erwachsenen, die sich mit Syphilis oder Gonorrhöe (im Volksmund Tripper) infizieren. Im Ambulatorium werden ein bis zwei Syphilis-Patienten pro Woche behandelt. Borelli sagt: «Diese hoch ansteckenden Krankheiten müssen wieder bekannt gemacht werden. Die Aufklärung sollte wie bei HIV schon in der Schule erfolgen.» Was viele nicht wissen: Die Infektion kann man sich beim Oralverkehr ohne Kondom holen. Lebensbedrohend ist sie nicht.
Auch der Strassenstrich am Sihlquai sei mehr und mehr ein Faktor, der zur steigenden Zahl der Fälle beitrage. «In letzter Zeit behandeln wir öfter osteuropäische Prostituierte mit Syphilis.» Die Zunahme lasse sich seit der Öffnung der Grenzen beobachten, da in Osteuropa die Durchseuchung wesentlich höher ist. Neben Prostituierten sind laut Borelli namentlich Männer, die Sex mit Männern haben, von der Syphilis betroffen. Mit Tripper kommen Männer aller Altersklassen, hetero- und homosexuelle, ins Ambulatorium. Frauen weniger, sie suchen eher einen Gynäkologen auf.
Risiko durch Verzicht auf Kondom
Beunruhigt über die zunehmende Verbreitung von Syphilis und Tripper zeigt sich der Zürcher Stadtarzt Albert Wettstein. Er spricht von einer «Kondommüdigkeit». Der ungeschützte Geschlechtsverkehr mit wechselnden Partnern habe massiv zugenommen. Der Grund: Beim Schutz vor einer Ansteckung stand über Jahre hinweg einseitig die HIV-Infektion im Vordergrund. Die Angst vor Aids sei aber heute längst nicht mehr so gross. «Das hat den alten Sexkrankheiten wie Syphilis und Tripper zu einem Comeback verholfen. Es besteht dringend Aufklärungsbedarf.»
Laut Wettstein ist die Stadt Zürich daran, «einen ausserordentlichen Katalog von Massnahmen vorzubereiten», um die ungebremste Verbreitung von Syphilis, Tripper und anderen Sexkrankheiten zu stoppen. Heute würden Plakataktionen und TV-Spots – wie früher bei Aids – zur Aufklärung und Prävention nicht mehr ausreichen. Mit solchen PR-Kampagnen löse man das Problem nicht.
Näher an die Leute
Der Stadtarzt sagt: «Wir müssen näher und ganz gezielt an die verschiedensten Leute heran und herausfinden, welche Umstände zu ungeschütztem Geschlechtsverkehr führen.» Näher an die Freier, an die Prostituierten, an die Homosexuellen und an jene jungen Menschen, welche die herkömmlichen Infektionsgefahren beim Sex kaum mehr kennen und nicht wissen, dass bereits oraler Kontakt eine Infektion mit Tripper oder Syphilis nach sich ziehen kann. Entscheidend sei, so Wettstein, «jeder Risikogruppe die Botschaft am richtigen Ort, zur richtigen Zeit und mit dem richtigen Mittel zu kommunizieren». Das werde die Stadt auch tun. Einzelheiten der Aufklärungsstrategie dürften noch vor Ende des Jahres bekannt werden.
Daten über die Zahl der Infizierten in der Stadt gibt es keine. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) erfasst die Infektionskrankeinheiten lediglich nach Kantonen, und da ist der Kanton Zürich landesweit Spitze: 332 Fälle von Tripper sind seit Jahresbeginn bis Anfang Oktober aufgetreten – das sind nahezu gleich viele wie im gesamten 2009. Laut dem BAG hat sich damit die Zahl der Patienten innerhalb von sechs Jahren verdoppelt.
Nur die Spitze des Eisbergs
Ein ähnliches Bild zeigt sich bei der Syphilis, auch da liegt Zürich mit grossem Abstand vorne – mit bereits 216 Erkrankungen; 2009 waren es 163. Bei beiden Krankheiten nimmt Genf Platz zwei ein. Am Schluss figuriert Uri, wo im laufenden Jahr weder ein Tripper- noch ein Syphilis-Patient beim BAG dokumentiert ist.
Dramatisch an den Zahlen ist laut Dermatologe Borelli die Tatsache, «dass wir nur die Spitze des Eisberges sehen». Die Dunkelziffer dürfte weitaus höher sein. So sei es kaum vorstellbar, dass in Uri kein einziger Tripper aufgetreten sein soll. Vielmehr könnte das bedeuten, das die Infektion nicht gemeldet wurde. «Schliesslich dürfen wir davon ausgehen, dass die Urner wie alle anderen Schweizer auch Geschlechtsverkehr haben.»
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