"Prostitution produziert Tote und Waisenkinder"

Berichte, Dokus, Artikel und ja: auch Talkshows zum Thema Sexarbeit werden hier diskutiert
Boris Büche
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"Prostitution produziert Tote und Waisenkinder"

Beitrag von Boris Büche »

. . . so die Süddeutsche Zeitung, von Lästerern auch "Alpenprawda" genannt, als Überschrift zu einer Anhörung im Bayrischen Landtag [Link].

Offenbar möchte man von Bayern aus die Evaluation des ProstSchG vorantreiben - die erst zu 2025 geplant ist. Oder besser noch,
eine Evaluation obsolet machen, indem man vorher die Vorstellungen der in der SZ überwiegend zitierten Angehörten umsetzt,
die da waren: Inge Bell (TdF), Viktoria K. (Netzwerk Ella), Helmut Sporer (ehemaliger Polizist) und Liane Bissinger, laut SZ
"Frauenärztin in München, sie kümmert sich seit Jahren um Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter."

Besonders der letzte Satz ist geeignet, die journalistische Sorgfalt der Lückenpresse zu demonstrieren. Wenn man Frau Bissinger
googelt, erscheint neben dem Bild ihres Praxisteams (das stimmt also!) unmittelbar ein Bild von Ingeborg Kraus (was für ein Zufall!),
und man findet auch tout-de-suite ein pdf einer ähnlichen Veranstaltung im Landtag NRW aus dem vergangenen Jahr,
in der Frau Bissinger angab:

"Von 1996 bis 2000 habe ich als Fachärztin für Gynäkologie und Geburtshilfe in einer Einrichtung der Behörde für Arbeit, Gesundheit
und Soziales (BAGS) der Hansestadt Hamburg, der „Zentralen Beratungsstelle für Sexuell Übertragbare Erkrankungen“ („ZB“) gearbeitet.
Mein folgender Bericht bezieht sich auf meine Arbeit und Erfahrung dort und somit liegt der Fokus auf den somatischen Auswirkungen.
"

Das "sich seit Jahren kümmern" ist also eher ein "seit zwei Jahrzehnten NICHT kümmern", bzw. eines ohne Beteiligung, gar Zustimmung
der Umkümmerten, jedenfalls keines von ärztlicher Natur. Ein Kümmern politischer Art, ja, das schon - dafür fährt eine Münchner Gynäkologin
auch mal ein paar hundert Kilometer!

Ihr faible für "somatische Auswirkungen" demonstrierte Frau Bissinger erneut, und wird von der SZ ausführlich wiedergegeben:
"fünfmal am Tag wird der Körper einer Frau anal, oral oder vaginal penetriert. Andere Gewalt, zum Beispiel die Penetration
mit der Faust, ist da nicht eingerechnet.
" usw.

Dass Frau Bissinger "vom Zustand, in dem sich viele Frauen, aber auch Männer und Transpersonen befinden, die sie behandelt"
berichtet habe, möchte ich anhand ihrer doch recht aktuellen, amtlich protokollierten Selbstaussage bezweifeln. Dies dürfte eher der
ergänzenden Fantasie des SZ-Autors geschuldet sein. Patrick Wehner hat im Westjordanland studiert, bei der Haaretz gearbeitet,
und ist so politisch bewusst und zeitgemäß, dass "Männer und Transpersonen" in seinem Text einfach vorkommen müssen, wie un-
möglich es im ersten Fall auch erscheinen mag, dass die Gynäkologin solche behandelt, oder wie unwahrscheinlich, dass sich im Fall
der zweiten Gruppe Menschen entschließen sollten, ausgerechnet einer TdF-Ärztin ihr Vertrauen zu schenken.

Ich möchte daran erinnern, dass es ebenfalls die SZ war, die Seyran Ateş öffentlich "erledigt" hat, bevor sie ihr geplantes Projekt zum
Thema Sexarbeit fertigstellen konnte, und dass es die SZ war, die ich einmal beim Presserat anzeigte, u.A. wegen einer diffamierenden
Überschrift, mehr aber wegen der Verletzung journalistischer Sorgfalt nach dem Motto: Wozu prüfen, das hält doch nur auf und wer merkt's?
Stimmt ja auch -
hätte Claas Relotius nicht alles erfunden, sondern nur die Hälfte - er könnte heute Chefredakteur sein, oder?
Zuletzt geändert von Boris Büche am 29.05.2022, 21:55, insgesamt 1-mal geändert.

Boris Büche
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Re: "Prostitution produziert Tote und Waisenkinder"

Beitrag von Boris Büche »

Mail ging raus:

Geehrte Redaktion, auf folgenden Fehler möchte ich aufmerksam machen:

"Bissinger ist Frauenärztin in München, sie kümmert sich seit Jahren um Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter.
Sie berichtet vom Zustand, in dem sich viele Frauen, aber auch Männer und Transpersonen befinden, die sie behandelt."

Diese Aussage ist überwiegend falsch.
Frau Bissinger ist Frauenärztin in München, und behandelt deswegen keine Männer.
Ob Transpersonen - fragen Sie mal nach. Es erscheint bei der Nähe von Frau Bissinger zu
"Terre des Femmes" unwahrscheinlich, dass solche Menschen ihr Vertrauen schenken würden.

Frau Bissinger selbst gab kürzlich öffentlich an, dass die Zeit, in der sie Sexarbeitende behandelt hat,
1996 - 2000 war. Durch kurzes googlen hätte dieser Punkt geklärt werden können:
https://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/d ... 7-3453.pdf

Bitte klären Sie auf, ob die von ihnen veröffentlichten Falschaussagen von Frau Bissinger getätigt,
und von ihrem Autor Patrick Wehner lediglich zitiert wurden, oder ob dieser sich die Freiheit nahm,
zu ergänzen, was nicht gesagt wurde.

Ich möchte darauf hinweisen, dass die im Artikel zitierte Sachverständige Ruby Rebelde (Hydra e.V.)
sich ebenfalls falsch wiedergegeben sieht, und weiter auf eine Reaktion Ihrerseits wartet.

m.f.G., Boris Büche, Berlin

Boris Büche
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Re: "Prostitution produziert Tote und Waisenkinder"

Beitrag von Boris Büche »

Dona Carmen dazu:
"Lumpenjournalismus in Reinkultur"
[ . . .] Journalisten*innen, die offenbar außerstande sind, elementare Zusammenhänge zu
begreifen, sich für kleine Münze verdingen und glauben, sich an der Stimmungsmache gegen
Sexarbeiter*innen beteiligen zu müssen, ruinieren den Ruf von Qualitätsjournalismus und
tragen ihn zu Grabe. Dazu bedarf es keiner Querdenker mehr.


https://www.donacarmen.de/wp-content/up ... beit-1.pdf

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floggy
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"Prostitution produziert Tote und Waisenkinder"

Beitrag von floggy »

Die Möglichkeiten, einmal im Leben auszurasten, sind meines Erachtens immens gestiegen, und es wird genauer hingeschaut. Gewalt ist sehr häufig Ausdruck von Hilflosigkeit. Also müssen wir mit unserer Hilflosigkeit umzugehen lernen. Ich bewundere Mütter, die ihre schreienden und tobenden Sprösslinge mit einer Geduld zur Seite stehen, und durchlaufe jedesmal meine eigene Kindheit, wo das noch nicht möglich war, und reflektiere die Konflikte in meinem Leben, die mit Sanftheit nicht hätten sein müssen. Das hat nichts mit fehlender Empathie zu tun, in diesem Zustand ist man einfach blockiert, hilflos. Es kann nur so gelöst werden, informieren, informieren und nochmals informieren. Gefährdete Menschen müssen informiert sein, damit sie rechtzeitig sich selbst helfen, oder fremde Hilfe in Anspruch nehmen können.

Bei den transidenten Sexworkers handelt es sich sicherlich um die im Buch von Susi aufgeworfenen Probleme in Ländern wie der Türkei, Asiens, und vielleicht Südamerikas? Doña Carmen e.V. hat die Problematisierung von Susi ja kritisiert. Und jetzt schreiben sie halt ab, einer nach dem anderen. Eben, der Kontext ist den Gegnern Scheiß egal. Hauptsache draufgehaut. Sind ja nur Huren!
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Re: "Prostitution produziert Tote und Waisenkinder"

Beitrag von Kasharius »

Ich möchte @Boris für diese Aufklärungsmission in Sachen "ausgewogene" Berichterstattung bedanken!

Herzlich

Kasharius grüßt

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Re: "Prostitution produziert Tote und Waisenkinder"

Beitrag von friederike »

Da möchte ich mich anschließen - großartige Arbeit!

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"Prostitution produziert Tote und Waisenkinder"

Beitrag von floggy »

Es ist leider wie es ist. Auch die SZ will sowohl die eine Hälfte als auch die andere Hälfte der Leserschaft bedienen. Und der Diskurs um Prostitution spaltet ja bekanntlich die Gesellschaft. Darum bin ich durch die SZ Wechselbäder der Gefühle zu der Ansicht gelangt, daß jeder einmal schreiben darf, was er bzw sie denn so denkt, und am liebsten täte, ließe man ihn oder sie nur währen.

Helena Ott ist eine von den Guten. Ich war dabei, als die Managerinnen vom Pearls (ehemals Mädchen WG 1 in München unter vormaliger Leitung) das Interview gaben, und sah sie mit dem Rennrad und Rucksack auf dem Rücken wegfahren.

https://www.sueddeutsche.de/projekte/ar ... ft-e168854

https ://www .sueddeutsche .de/projekte/artikel/muenchen/sexarbeit-in-muenchen-vom-bordell-zur-notunterkunft-e168854

https://www.sueddeutsche.de/autoren/hel ... -1.4220891

https ://www .sueddeutsche .de/autoren/helena-ott-1.4220891

Leider finde ich den Artikel von einem Herrn Preuß nicht mehr, der einer Bordellöffnung im Juli 2020 offen gegenüber stand. Die Überschrift lautete "Sex mit Maske, warum nicht?". Da kamen dann auch Mimikry Frau Fröhlich und Sittenpolizist Herr Feiner vor, der 2012 mutmaßlich zu meinem SW Engagement beigetragen hatte, als es um die 18 jährige Rumänin ging, die angeblich in einem Kellerverlies in München Lehel gefangen gehalten und zur Prostitution gezwungen werden sollte. Eineinhalb Jahre später war dann die Gegendarstellung in der SZ zu lesen. Herr Feiner hatte wohl zuviel Tatort Wegwerfmädchen gesehen, und darum Aussagen gemacht, die nicht haltbar waren.

Kurz nach dem guten Artikel kam dann gleich das Draufgehaue der Weltverbesserer.
Wo Schatten ist, muß auch Licht sein.