Ausstellung "Der gelbe Schein"

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Ausstellung "Der gelbe Schein"

Beitrag von ehemaliger_User »

Europäische Auswanderung im Bild
Rote und blaue Stempel

Um 1900 wanderten Millionen junger Frauen aus Europa aus, viele führte der Weg in die Prostitution: Eine Doppelausstellung in Berlin und Bremerhaven widmet sich einem vergessenen Kapitel der Auswanderungsgeschichte.
von Sonja Vogel

BERLIN taz | "Im April dieses Jahres wurde ein junges deutsches Mädchen, das sich Meta Stecher nannte, in völlig verwahrlostem Zustande aufgefunden", heißt es in einem Schreiben, das 1913 vom Kaiserlichen Generalkonsulat in New York an das Auswärtige Amt geht. 15 Jahre alt ist die junge Frau, als sie aufgegriffen und in ein Heim gesteckt wird. Zuvor hatte sie ihre Stelle als Dienstmädchen verloren, schlief auf der Straße - bis einige Männer sie einsperrten, vergewaltigten und zur Prostitution zwangen.

Es ist eine typische Geschichte: 1897 wurde Meta Stecher als achtes Kind im Umland von Bremerhaven geboren. Ihre Mutter starb früh. Vom dortigen Hafen bricht Meta Stecher 1911 in die Neue Welt auf. Um 1900 kehrten Millionen junger Frauen Europa den Rücken. Sie suchten Arbeit. Zehntausende fanden sie in der Prostitution. Viele freiwillig, andere unter Zwang.

"Der Gelbe Schein. Mädchenhandel 1860 bis 1930" folgt ihren Spuren und trägt damit ein weitgehend unbeachtetes Kapitel der Auswanderungsgeschichte nach. Zeitgleich wird die Ausstellung von der Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum und im Deutschen Auswandererhaus in Bremerhaven unweit des Hafens gezeigt.

Die Kuratorin Irene Stratenwerth hat, unterstützt durch die Kulturstiftung des Bundes, mehrere Jahre in Archiven in Odessa, Berlin und Buenos Aires geforscht. Herausgekommen sind bruchstückhafte Lebenswege der Auswanderinnen. Die Dokumente - Fotos, Polizeiakten, Briefe - sind aufwendig präsentiert und mit Hörbeispielen und Zeitungsberichten bereichert. Die Schwerpunkte sind verschieden gesetzt: Während in Bremerhaven der Mädchenhandel als Teilaspekt der Auswanderung gilt, geht es in Berlin um die besondere Betroffenheit von Juden.

Die Kais von Buenos Aires

Großformatige Aufnahmen zeigen die Drehkreuze des Mädchenhandels: Rio de Janeiro, Konstantinopel, New York, Bombay - überlaufene Hafenstädte, in denen Männer in der Überzahl waren. Eindrucksvoll ist eine Luftaufnahme des Hafens von Buenos Aires um 1924. Sie zeigt eine Menschenmasse und unzählige Fuhrwerke am Kai. Unvorstellbar, wie sich Neuankömmlinge dort zurechtfinden konnten. Und so rekrutierten dort gut gekleidete Männer junge Frauen für die Bordelle.

Per se von Zwangprostitution zu sprechen, ist dennoch falsch. Für viele Frauen bot die Prostitution die Chance auf eine Existenz fern ab der patriarchalischen Enge, fern von Armut und Hunger. Einige verdienten in der Neuen Welt viel Geld, gründeten Familien und blieben für immer. Häufig aber entstanden neue Abhängigkeiten von den Zuhältern.

Im Mittelpunkt der Doppelausstellung steht der Gelbe Schein - durch einen Blickkorridor ist er in Berlin schon zu Beginn der Ausstellung zu sehen. In Russland mussten Prostituierte bis 1915 ihre Papiere gegen dieses Dokument tauschen. Es diente der Überwachung, die wöchentlichen medizinischen Untersuchungen wurden dort vermerkt. Ein blauer Stempel bedeutete "gesund", ein roter "Menstruation". Für jüdische Mädchen war der Schein die einzige Möglichkeit, die den Juden zugewiesenen Ansiedlungsrayons im Russischen Reich zu verlassen, erst recht, als sie von antisemitischen Pogromen bedroht waren.

Zu sehen ist der Schein von Julia Mendik, geboren 1849, einer "zum orthodoxen Christentum konvertierte Jüdin". Im umfangreichen Begleitband vermuten die Autorinnen ein Beispiel für die Zwangskonvertierung. So wurde das Einwanderungsverbot von Juden nach Russland umgangen.

Es gibt auch Spektakuläres zu sehen, etwa einen auf 1862 datierten Brief Otto von Bismarcks, zu dieser Zeit Königlicher Gesandter in St. Petersburg. Er bittet um Unterstützung für Marie Haase, die, angeworben als Aushilfe in einem Weingeschäft, in einem Bordell gelandet war. Dokumentiert ist auch der Prozess gegen die jüdische Vereinigung "Zwi Migdal" in Buenos Aires, die offiziell Beerdigungen der als unrein geltenden Prostituierten abwickelte, jedoch ein Kartell von Zuhältern gewesen sein soll. Geführt wurde er von der Prostituierten Raquel Lieberman - auf Fotos posiert sie im Bademantel. Auch einige Männer werden porträtiert, etwa Shulim Babki, ein verurteilter "internationaler Mädchenhändler", der zwischen Deutschland, Mexiko und Kuba seine Geschäfte machte.

Besonders die Zuhälter-Porträts sind brisant. Der Mädchenhandel galt immer als jüdisches Geschäft. Plakate warnten die Frauen um 1900 vor "fremden" Männern, stereotyp mit Uhrenkette und Hut gezeichnet. Das Centrum Judaicum geht offensiv damit um. Das Klischee vom jüdischen Kuppler hatte aber auch eine andere Funktion: Es stützte das überkommene bürgerliche Frauenideal, nach dem die Prostituierte als Opfer männlicher Gier und nie als Protagonistin des eigenen Lebens galt. Diese Doppelmoral, die Prostitution zwar anerkennt, aber als unredlich brandmarkt, erklärt zum Teil die schwierige Archivlage: Erinnerungen wurden von den Familien meist aus Scham vernichtet.

"Der Gelbe Schein" in der Stiftung Neue Synagoge Berlin - Centrum Judaicum bis 30.12.2012

http://www.taz.de/Europaeische-Auswande ... d/!102337/


Ausstellung:
19.08.2012 - 30.11.2012
Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum, Berlin
26.08.2012 - 28.02.2013
Deutsches Auswandererhaus, Bremerhaven

Symposien:
Warschau, 1.10. – 30.11.2012
Kiew 1.10. – 30.11.2012

Kontakt:
Stiftung Neue Synagoge Berlin - Centrum Judaicum
Oranienburger Str 28/30
10117 Berlin

http://www.kulturstiftung-des-bundes.de ... chein.html
http://www.rbb-online.de/kultur/ausstel ... chein.html

http://www.ndr.de/kultur/kunst_und_auss ... in101.html
Mit Bildern und einem TV-Beitrag

Der Gelbe Schein - Mädchenhandel


Rosa Nelken ist zwanzig, als ihr eigener Mann sie aus dem polnischen Lemberg nach New York schickt - als Prostituierte. Sie soll die Familie daheim ernähren. Olga Koprivec schreibt an ihre Eltern Klagebriefe aus der Ferne: "Hier werden die Mädchen wie Kühe und Kälber verkauft." Paula Waismann, neunzehn, ist Ausreißerin. Ein reicher Bekannter verspricht ihr Paris. Das wahre Ziel lautet Mexiko. Sein wirklicher Beruf ist Mädchenhändler.

Paula, Olga und Rosa sind drei gehandelte Mädchen von Zehntausenden. Ihre Geschichten erzählt die Schau "Der Gelbe Schein". Es geht um frühen Mädchenhandel, der teilweise 150 Jahre her ist: Für die Kuratoren eine Tiefenbohrung in den Archiven in aller Welt. "Es gibt wenig private Dokumente", sagt Kuratorin Irene Stratenwerth. "Es gibt nicht die Oma, die ihren Kindern noch mal erzählt, wie das damals war im Bordell in Buenos Aires. Das ist völlig klar."

Der Gelbe Schein - Mädchenhandel

Sie hofften auf ein besseres Leben: Die Ausstellung "Der Gelbe Schein. Mädchenhandel 1860 bis 1930" erzählt von einem lange totgeschwiegenen Kapitel der Auswanderungsgeschichte.

Mädchen als hochbegehrte Ware

Manchmal fand sich ein Polizeifoto von den Mädchen, ein Schnipsel Brief, ein Aktenvermerk. Mehr ist oft nicht übrig geblieben. Die Ausstellung macht den Besucher zum Schreibtischstudiosus. Man liest und hört von märchenhaften Orten: Bombay, Kalifornien, Buenos Aires. Die Neue Welt lockte alle Europäer: auch die Mädchen und ihre Händler. Ein Geschäft mit Frauen. Und eines, das die Einwandererstaaten allzu gern sahen. "Die hatten ein Interesse daran, dass Einwanderer kommen", so die Kuratorin. "Und wenn sie Interesse daran haben, dass Männer kommen, dann haben sie auch ein Interesse daran, dass Frauen kommen, dass diese Männer da etwas vorfinden. Es ist tatsächlich eine Situation gewesen, in der junge Mädchen eine hochbegehrte Ware waren und auch eine Mangelware."

Auswanderung ins Bordell

Die Doppelausstellung "Der Gelbe Schein" erzählt vom Mädchenhandel um 1900. Bildergalerie bei ARD.de.

Junge Mädchen wie Sophia Chamys: Nur eine Zeichnung gibt es noch von ihr, da war sie schon erwachsen. Die Polizeiprotokolle über sie rollen eine Schauerbiografie auf: verkauft von den polnischen Eltern als Dienstmädchen. Tatsächlich muss sie sich in Buenos Aires prostituieren als sie 13 Jahre alt ist. Erst vergewaltigt sie ihr Zuhälter, dann nimmt er sie zur Frau. Schläge und Liebesschwüre wechseln sich ab. Einmal flieht sie zu den Eltern nach Polen, aber sie liebt ihren Mann und kehrt um.

Ein amtlicher Identitätsverlust

Irene Stratenwerth ist Kuratorin der Doppelschau "Der Gelbe Schein". Die Rückkehr in die alte Welt, in das erste Leben, war fast unmöglich - davon erzählt auch das Herzstück, der Namenspatron, der Ausstellung - "Der Gelbe Schein": ein Ausweis, den Prostituierte tragen mussten. "Die Frauen mussten ihre Personalpapiere abgeben", erzählt Stratenwerth. "Die gaben sozusagen ihre bürgerliche Identität ab, und es war der einzige Ausweis, den sie hatten. Immer dann, wenn sie ihren Ausweis zeigen mussten, war klar: Sie sind Prostituierte und damit auch ein Stück weit auch aus der Gesellschaft ausgegrenzt."

Es war ein Leben, das oft für die Frauen geführt wurde - von ihren Zuhältern. Aber diese Frauen waren auch ganz schön stark. Hier wird nicht nur Leidensgeschichte erzählt, sondern auch die Pionierinnen-Geschichte. Die "Hurdy-Gurdy-Girls" zum Beispiel brachen mit ihren Leierkästen zu den Goldsuchern und Cowboys in Kalifornien auf. Bald merkten sie, dass man nicht nur mit Musik Geld verdienen kann. Sie schrieben Saloongeschichte - eine weibliche Seite der großen Auswanderungswelle, die bisher unerzählt blieb.

Mädchenhandel damals und heute

Die Zwillingsschau in Bremerhaven und Berlin zeigt - fast identisch - Mädchenhandel von 1860 bis 1930. Und irgendwie bis heute. "Es gibt eben eine Gesellschaft, die von diesen Frauen und Mädchen lebt. Die werden ja in Anspruch genommen. Die stehen ja auch nicht umsonst auf der Straße und bieten ihre Dienstleistungen an. Diese Gesellschaft ist so geprägt, dass Männer darauf sehr häufig auch gegen Geld zurückgreifen. Und das unterschiedet sich überhaupt nicht von damals", so die Kuratorin.

Es sind immer noch die gleichen Geschichten: Manche Frauen werden verraten und verkauft - ohne Pass und Hoffnung. Splitterfaserallein. Andere suchen selbst nach einem besseren Leben. Eines ist bis heute geblieben: Es sind Frauenleben, die nur so viel wert zu sein scheinen, wie jemand für sie zu zahlen bereit ist.
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Marc of Frankfurt
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Wichtige Dokumente unserer Geschichte

Beitrag von Marc of Frankfurt »

Danke für die Infos. Faszinierende Materialsammlung.



Anmerkungen zur Doppel-Ausstellung
Der gelbe Schein (Prostituierten-Ausweis)
70 Jahre Mädchenhandel 1860-1930



Es ist nicht ungefährlich, wenn die Geschichte unter einer einseitigen Perspektive aus der Gegenwart aufgearbeitet wird. Die Erforschung der Vergangenheit könnte zur Gegenwartsbewältigung verkommen.

Bei dem Thema Migrations-Geschichte zwischen 1860-1930 ist diese fragwürdige einseitige Perspektive die heutige herrschende Sicht auf Migration und Sexarbeit unter den Schlagwörtern Menschenhandel, sog. Zwangsprostitution und Modern Day (Sex-)slavery.

"Um 1900 kehrten Millionen junger Frauen Europa den Rücken" zitiert die TAZ. Sollen wir bei solchen Formulierungen glauben dass wären alles Zwangsprostituierte? "Insgesamt 63 Millionen Europäer wanderten in die Neue Welt aus und wollten diese europäisieren", so Simone Blaschka-Eick vom Deutschen Auswandererhaus Bremerhaven.

Mädchenhandel wird 1862 auch Otto von Bismarck erwähnt (in einem Brief, wo er sich um eine internierte Sexarbeiterin bemüht, weil zu der Zeit die Migrationswelle gerade Richtung Rußland ging). Er war damals deutscher Gesandter in St. Petersburg und ist für uns heute der deutsche Machtpolitiker schlechthin; gründete er doch im Jahre 1871 in Versailles das Deutsche Reich (imperialistisches Kaiserreich), welches 1918 im 1. Weltkrieg grausam unterging. Sehr wahrscheinlich folgen konservative Machtpolitiker bis heute derselbe Argumentationslinie gegen Prostitution und Sexworker-Migration, wenn sie an Nation und Volk denken. Auch CDU/CSU-Politiker wie Dr. Krings oder Dr. Uhl agumentieren mit Frauenhandel wenn sie die Verschärfung des ProstG fordern.

Dass es sich auch damals um freiwillige Migration in die Sexarbeit gehandelt haben könnte so wie auch heute wird dabei an den Rand der Betrachtung gedrängt, so wie Prostituierte an den Rand der Gesellschaft werden. Die Ausstellung und insbesondere wie sie von der Medienöffentlichkeit aufgegriffen wird, stellt m.E. mehr eine kollektive Verarbeitung dar, wie unsere heutige Gesellschaft mit ihren Traumata umgeht bzgl. Frauenunterdrückung/Prostitution, Hunger/Auswanderung, Sklaverei/Kolonialismus und Verarmung/Strukturwandel. So mitleidtriefend die Ausstellung daherkommt, so klar ist ihre politische Agenda erkennbar.

Das das Thema noch nicht aufgearbeitet ist trifft zu und auch wieder nicht. Zumindest die "White Slavery Diskurse" sind bereits dekonstruiert worden:
"The 'White Slavery' Panic - Anti-prostitution activists have been equating sex work with slavery for over a century":
www.sexworker.at/phpBB2/viewtopic.php?p=63390#63390
'White Slavery' As Metaphor Anatomy of a Moral Panic
www.walnet.org/csis/papers/irwin-wslavery.html or http://userwww.sfsu.edu/epf/journal_arc ... rwin_m.pdf

> "Per se von Zwangprostitution zu sprechen, ist dennoch falsch" schreibt die TAZ daher zu Recht. Um das allerdings auch zu untermauern, dürfen entsprechende Dokumente nicht der Öffentlichkeit und den Sexworkern vorenthalten werden. Das können z.B. Verdienstaufzeichnungen sein oder Belege über sozialen Aufstieg (erfolgreiche Bordellgründung;-)... (Siehe die Verdienstkalkulationen der Latina-Migrantinnen in Frankfurter Laufhäusern und zahlreichen Dokumente hier im Forum für Migrant_innen & Sexworker.)





Beispielschicksale:

Eine 20jährige aus dem "polinischen Lemberg" nach NYC wird erwähnt. Aber die wichtigste Stadt der Westukraine, Lemberg gehörte 1772–1918 zu Österreich !!! Heute eine 700.000 Einwohner zählende Großstadt:
http://maps.google.de/maps?ll=49.839444 ... ,24.032778

Menschenhandels-Prozess gegen die jüdische Vereinigung „Zwi Migdal“ in Buenos Aires, die offiziell Beerdigungen der als unrein geltenden Prostituierten abwickelte, jedoch ein Kartell von Zuhältern gewesen sein soll, geführt von der Prostituierten Raquel Lieberman, die auf Fotos im Bademantel possiert. Da scheint einiges aus Sexworker-Perspektive nicht so recht zusammenzupassen, vgl. die heutigen Prozesse gegen Madams aus Nigeria, wo gemeinsame Gewinninteressen von Sexworkern und Madam nachgewiesen sind.

Auch heute werden sogar Hilfsvereine wie Hydra oder Madonna als Zuhälter diffamiert.

Sophia Chamys: Eine ehemalige "Kinderprostituierte", die sich arrangiert und hochgearbeitet hat und bei ihrem Mann, Vergealtiger und Zuhälter in Buenos Aires geblieben ist auch wenn sie zwischenzeitlich die Eltern in Polen besucht hatte.

Bild

Vgl. das Geschäftsmodell der Drehleier/Hurdy Gurdy Girls aus Hessen im Wilden Westen:
www.sexworker.at/phpBB2/viewtopic.php?p=8373#8373





Wenn Rassismus, Misogynie, Antisimismus UND Prostitutionsfeindlichkeit (Putophobie) zusammen treffen:
Mädchenhandel galt immer als jüdisches Geschäft.


Das Klischee vom jüdischen Kuppler hatte aber auch eine andere Funktion: Es stützte das überkommene bürgerliche Frauenideal, nach dem die Prostituierte als Opfer männlicher Gier und nie als Protagonistin des eigenen Lebens galt. Diese Doppelmoral, die Prostitution zwar anerkennt, aber als unredlich brandmarkt, erklärt zum Teil die schwierige Archivlage: Erinnerungen wurden von den Familien meist aus Scham vernichtet [TAZ].

Fast 4 Millionen Juden wanderten bis 1930 aus Osteuropa aus. Die meisten von ihnen gehörten zu den Ärmsten der Armen.





Werbeflyer für die Migration in die neue Welt

Bild
63 Millionen Europäer wanderten in die Neue Welt aus und wollten diese europäisieren (Kulturimperialismus und ein riesen Geschäft). 4 Millionen Juden verließen Osteuropa.
Werbekarte des Auswanderungsagenten Max Weichmann in Myslowitz (bei Kattowitz, Schlesien in Polen), um 1900.

Migrationskarten von heute:
www.sexworker.at/phpBB2/viewtopic.php?t=949
www.bit.ly/sexworkinternet
www.sexworker.at/international
www.sexworker.at/migration

Geschichte der Prostitutionsgesetze ab 1800
www.sexworker.at/phpBB2/viewtopic.php?p=81901#81901

Die Berichterstatter damals und heute tun so, als gäbe es den Mißbrauch nur in den Auswanderungsgebieten. Aber zeitgleichwurde 1879 in Bremen die Helenenstraße als weltweit erste sog. "Kontrollstraße" (Bordellstraße) umgewandelt und eingerichtet (vgl. Herbertstraße Hamburg, Antoniusstrasse Aachen, Kleine Brinkgasse Köln...). Das kann man auch als Arbeitslager oder Huren-KZ unter Polizeikontrolle interpretieren. Mit frauengeführten Bordellen in anderen historischen Epochen oder heute als Wohnungsbordelle hatte das wenig gemein.

So wurde damals bereits gewarnt und aufgeklärt:

Bild
Ausstellung 2006 HH

Poster von 1900, Staatsarchiv Bremen.





Der weltweit erste Sexworker Verein wurde 1919 in Berlin gegründet mit Unterstützung vom Dr. Magnus Hirschfeld:

Bild
(vmtl. nicht in dieser Ausstellung)

"Lotterieverein 'Goldene Dose'" und "Hilfsbund der Berliner Prostituierten"
www.hirschfeld.in-berlin.de/institut/de ... eo_28.html





Abgestempelt: Ein medizinisches Billet für Prostituierte

"Der Gelbe Schein" ist ein umgangsprachlicher Ausdruck für den Prostituierten-Ausweis im vorrevolutionären-zaristischen Russland


Er ist das titelgebende Symbol für die Doppelausstellung 70 Jahre Mädchenhandel 1860-1930.

Offiziell wurde der "Gelbe Schein" in jener Zeit "medizinisches Billet" genannt vgl. den deutschen Bockschein bis spätestens 2001 oder Deckel/grüne Karte heute noch in Wien.

Im Tausch(!) gegen ihre Personalpapiere erhielten Frauen ihn von den Polizeiärzten und verpflichteten sich damit etwa, sich regelmäßigen wöchentlichen(!) Gesundheitskontrollen zu unterziehen.

Das heißt es wurde ihnen wie nach Menschenhändler- und Zuhältermanieren von den staatlichen Organen die bürgerlichen Papiere weggenommen !!!

Kontrolluntersuchungen oder besser invasiv-genitale Zwangsuntersuchungen im Gynstuhl, wurden mit Stempeln quittiert so wie auch heute noch in Österreich.

Arbeitsverbot per rotem Stempel = Abgestempelt. Stempel = Stigma.

Doch für jüdische Mädchen war der Schein die einzige Möglichkeit, die den Juden zugewiesenen Ansiedlungsrayons im Russischen Reich zu verlassen, erst recht, als sie von antisemitischen Pogromen bedroht waren.

Medizinisches Billet = SW-Ausweis im vorrevolutionären Rußland
Bild
vollständig und groß anzeigen

Gelber Schein, offiziell "Medizinisches Billet", für Julia Mendik, St. Petersburg 1875. (© Staatliches Historisches Archiv, St. Petersburg)

Bild
Innenseite eines Gelben Scheins, 1894. Dokument gefunden in einem Archiv in St. Petersburg. (© State Historical Archive Saint Petersburg)

Blauer Stempel bedeutete gesund,
Roter Stempel hieß, dass die Eigentümerin des Scheins eine Geschlechtskrankheit hatte und nicht arbeiten durfte.
Roter Stempel heißt Menstruation schreibt die TAZ.


Schein von Julia Mendik damals 45 Jahre alt, geboren 1849, einer „zum orthodoxen Christentum konvertierte Jüdin“. Evt. ein Fall von (selbstgewählter) "Zwangskonvertierung", denn so konnte das Einwanderungsverbot von Juden nach Russland umgangen werden.

Das wäre ein starker Beleg, was Migrant_innen alles (freiwillig) auf sich nehmen (müssen), um Migration und damit die erhoffte Sicherung des Lebensunterhalts erreichen zu können. Heute etwa nehmen sie Kreditaufnahme/Verschuldung bei Migrationsdienstleistern/Menschenhändlern oder Verwendung falscher Ausweispapiere in Kauf.


Bild
Deckel/grüne Karte heute immernoch in Wien verwendet, um aus Frauen und Sexworkern sog. "Kontrollprostituierte" zu machen, die gezwungen werden sich wöchentlich untersuchen zu lassen. Den einzigen "Fortschritt" seit dem zaristischen Rußland den ich erkenne ist, dass man in Wien die rote Farbe und einen 2. Stempel eingespart hat :009





Quellen:
http://wissen.dradio.de/maedchenhandel- ... _id=217967
http://web.ard.de/galerie/content/nothu ... 10482.html
http://web.ard.de/galerie/content/nothu ... 10485.html
http://www.taz.de/Europaeische-Auswande ... %21102337/


Kuratorin Irene Stratenwerth erforschte unsere Geschichte, will aber vermutlich aus ihrer bürgerlichen Perspektive eher vor heutigem Menschenhandel warnen, als uns über historische Migrationsgeschäftsmodelle aufzuklären.

Bild

Sie hat 3 Jahre in Archiven in Odessa, Berlin und Buenos Aires geforscht.
Gemeinsam mit bzw. gefördert von "Stiftung Neue Synagoge Berlin - Centrum Judaicum" und das "Deutsche Auswandererhaus Bremerhaven".

Doppelausstellung
Bremerhaven (Auswandereraus bis 28.2.13): Mädchenhandel als Teilaspekt der Auswanderung
Berlin (Neue Synagoge bis 30.12.12): besondere Betroffenheit von Juden.

Die Heinrich Böll Stiftung begleitet das Projekt mit 2 Symposien zum Thema „Sexarbeit und Migration“
(aber nur) in Warschau und Kiew.





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Zuletzt geändert von Marc of Frankfurt am 22.10.2012, 17:30, insgesamt 6-mal geändert.

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Body-Imperialism & Bockschein

Beitrag von Marc of Frankfurt »

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Zwangsuntersuchungen gibt in Europa nur in: Greece, Lituania, Austria, Hungary:
https://docs.google.com/spreadsheet/ccc ... tml&gid=23

Z.B. in Wien:
www.sexworker.at/phpBB2/viewtopic.php?p=96577



In Australien und Teilen von Nevada testen Sexworker ihre Gäste selbst auf STI vor jeder Sexdienstleistung.

Dazu gibt es eigene Räume, Taschenlampen und Fortbildungen für Sexworker:
www.sexworker.at/phpBB2/viewtopic.php?t=1310
Zuletzt geändert von Marc of Frankfurt am 22.10.2012, 17:07, insgesamt 1-mal geändert.

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Re: Body-Imperialism & Bockschein

Beitrag von Zwerg »

          Bild
Marc of Frankfurt hat geschrieben:Zwangsuntersuchungen gibt in Europa nur in: Greece, Lituania, Austria, Hungary:
In Ungarn wurden sie Anfang dieses Jahres - mit dem Hinweis auf die dadurch begangene Menschenrechtsverletzung - abgeschafft!