Das Prekariat der Tagungs-Aktivisten, Soloselbstständigen Intellektuellen und freischaffenden Künstler sitzt in der Falle. Verdienen heute nur noch Sexarbeiter?:
Wir kuratieren uns zu Tode: Chris Dercon über das Elend der Projektemacher, die Ghettos der Kreativen- und über die Frage, ob wir eine Revolution brauchen
Interview mit Chris Dercon,
geboren 1958 im belgischen Lier, Direktor des Hauses der Kunst in München
und ab dem Frühjahr 2011 neuer Chef der Londoner Tate Gallery of Modern Art.
? Kreativ sind wir alle: Sind Künstler, die ihre Ideen ohne existenzielle Absicherung zu Markte tragen, heute Rollenmodelle?
In einer Gesellschaft ohne feste Löhne, mit einem Heer freier Dienstleister?
! Exakt. Man nennt sie
Enthusiasten: eine Armee sogenannter kreativer Dienstleister. Man spricht von creative industries, aber das ist nur ein Trick, um das ökonomische Modell der kostenlosen Arbeit salonfähig zu machen.
Man will Enthusiasten erzeugen, ihren Input nutzen, ohne Löhne zu zahlen. Im Mai feierte die Tate Modern zehnjährigen Geburtstag – ein gigantisches Fest mit etwa 90.000 Besuchern.
Das Projekt heißt „No Soul For Sale“.
Dutzende von unabhängigen Projektemachern stellen sich vor. Sie haben nichts zu verkaufen, bieten nur ihre Dienste und ihre Ideen an.
Oft ist die Hoffnung auf Festanstellung die Motivation für das kostenlose Anbieten der eigenen Dienste.
Das nennt sich heute auch Kreativwirtschaft, worunter eine
stille Übereinkunft der politischen Parteien von links wie rechts verstanden wird, Selbstausbeutung zu stimulieren.
In Frankreich heißen diese Selbstausbeuter
les intermittents, woanders
digitale Bohemiens – es gibt inzwischen jede Menge theoretischer Schriften über sie, von
- Maurizio Lazzaratos Essay „Immaterielle Arbeit“ über
- Luc Boltanskis „Leben als Projekt“,
- Brian Holmes’ „The Flexible Personality“,
außerdem Texte von Matteo Pasquinelli, Paolo Virno, Toni Negri und Tony Judt, kürzlich noch Jan Verwoert, Merijn Oudenampsen oder Lars Bang Larsen. Auf diese Ansätze beziehe ich mich.
? Wird unbezahlte Arbeit zum Standard?
! Ja. Es geht aber nicht nur um Künstler, sondern auch um Kunstvermittler, um Akademiker, Designer, um junge Pseudo urbanisten, Photographen, Herausgeber, Journalisten und ihren Nachwuchs, die free bloggers.
Interessanterweise werden Letztere immer jünger. Mit nicht einmal 15 werden Blogger zu Modenschauen eingeladen. Mittlerweile haben wir ein Millionenheer von Enthusiasten, von sieben bis 77 – wie die Zielgruppe der Ravensburger Gesellschaftsspiele –, die nicht wissen, welcher gesellschaftlichen Gruppe sie angehören, für die es keine parteipolitischen Programme gibt.
Diese Gruppe wächst an, und man hofft, dass sie selbst nicht erkennt, wie groß sie ist.
Dass sie sich selbst weiter ausbeutet unter dem Schirm von Events, Kongressen, Partys und so weiter.
? Was heißt das im Rückschluss für die Künstler? Müssen die sich andere Formen suchen, wie sie ihre Ideen verwirklichen?
! Das Problem ist, dass die Künstler, um ihre Selbstverwirklichung weiterzutreiben, sich andere Jobs suchen. Damit sie den kreativen Teil ihres Lebens fortsetzen können.
Das bedeutet, man lebt von Projekt zu Projekt. Nun werden die Phasen zwischen den Projekten, die Übergänge, immer schmerzhafter. Luc Boltanski nennt das die
„Prekarisierung des Privatlebens“.
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Entgegen der Meinung der Funktionalisten befindet sich Kultur dort, wo Nützlichkeit endet
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Jeder will ein Kurator sein, möglichst sein eigener Kurator. Ich kuratiere meine Freizeit. Die ersten Kuratoren waren im 16. Jahrhundert die Mönche, die die Reliquien in der Kirche zählten. Sie zündeten für die Priester die Kerzen an. Heute haben wir Kuratoren als Manager und Pseudokreativwirtschaftsspezialisten [Gatekeeper in der Aufmerksamkeitsökonomie]
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? Heute ist jeder sein eigener Kurator – aber auch Lebenskünstler, vielmehr: Überlebenskünstler?
! Natürlich. So wie jedermann bloggt.
Jedermann ist Journalist geworden, jedermann ist auch Webdesigner. Das home office ist das perfekte Bild der Gegenwart.
Man kreiert seine eigene Pornografie, seine eigene Kunst, sein eigenes Web, man designt sein eigenes Haus, aber niemand verdient etwas.
Es geht um Überlebensstrategien, die geknüpft sind an Virtuositätskonzepte. Lauter verarmte Intellektuelle.
? Kommt das alles nicht einem Staat entgegen, der damit beschäftigt ist, den Euro zu retten und sich über Generationen zu verschulden, und auf der anderen Seite Sozialleistungen kürzt?
! Absolut.
Die Selbstausbeutung findet nicht statt innerhalb eines Produktionsprozesses, sondern über Kooperation. Das größte Problem ist die Disponibilität der Leute. Man ist disponibel, man stellt sich zur Verfügung.
Wer das kontrollieren kann durch ein parteipolitisches Programm oder durch ein ökonomisches Modell, hat die Macht. Ich warne vor einer Revolution oder einem Kinderkreuzzug à la „Mad Max“.
Was passiert, wenn sich diese Tausenden von Selbstausbeutern und Enthusiasten, die an ihrer Disponibilität leiden, an den 24 Stunden pro Tag im home office, in ein ökonomisches Modell eingepasst werden?
Man muss auch mal lernen, Nein zu sagen, die Disponibilität infrage zu stellen. Nein zu kostenlosen Katalogtexten, obwohl hundert andere es machen.
Oder Schlaf als eine Art Subversion - Ruth Noacks geplante Ausstellung „Sleeping with a vengeance [Rache, Vergeltung], dreaming of a life“ behandelt genau dieses Thema.
Irgendwo muss man anfangen, wenn man kein Zombie werden will. Warum fallen eigentlich alle vom Stuhl, wenn man das sagt?
ganzer Artikel:
http://www.monopol-magazin.de/artikel/2 ... ariat.html
http://die-rote-fahne.eu/headline17891.html
weiterführende Literatur:
- Maurizio Lazzarato „Immaterielle Arbeit“. In: Negri, Antonio, Maurizio Lazzarato, Paolo Virno, und Thomas Atzert “Umherschweifende Produzenten: immaterielle Arbeit und Subversion“, Berlin 1998, ID-Verlag
http://www.generation-online.org/c/fcim ... abour3.htm
- Luc Boltanski „Leben als Projekt. Prekarität in der schönen neuen Netzwerkwelt“, Zeitschrift Polar
http://www.s173721806.online.de/fronten ... id=110#110
- Brian Holmes „The Flexible Personality. For a New Cultural Critique“, 2001, Magazin Transform
- Sennet "Der Flexible Mensch"