Interview mit Hydra (Berlin)

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Aoife
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Interview mit Hydra (Berlin)

Beitrag von Aoife »

»Die meisten sind eben keine Opfer«

Vor 30 Jahren wurde die autonome Hurenorganisation »Hydra e.V.« gegründet, die sich für die Interessen von Sexarbeiterinnen einsetzt und ihnen Beratung anbietet. Seit 1980 hat sich deren Situation verändert. 2002 trat das »Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der Prostituierten« in Kraft, das die rechtliche und soziale Stellung von Prostituierten verbesserte. Doch das Ziel des Vereins, die Entstigmatisierung des Gewerbes, ist auch nach 30 Jahren nicht erreicht. Simone Kellerhoff ist zuständig für Gesundheitsprävention, Frauenhandel und Lobbyarbeit bei Hydra e.V.

Interview: Oliver Matz

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Hydra feiert dieses Jahr dreißigjähriges Bestehen. Inwieweit hat sich die gesellschaftliche Sicht auf die Prostitution in den vergangenen 30 Jahren verändert?

Da hat sich einiges verändert. Auch durch das Prostitutionsgesetz, das 2002 in Kraft trat. Es wird auch viel über Prostitution berichtet, es wird mehr darüber gesprochen und es gibt auch mehr Frauen, die an die Öffentlichkeit gehen. Dadurch bekommen die Menschen plötzlich ein Bild von einer Frau, die ganz alltäglich aussieht. Sie sieht aus wie meine Nachbarin oder die Freundin, und diese Frauen sind nicht dumm. Leider ist dieses Bild aber durch den Begriff Menschenhandel, der in der Presse vorwiegend auf die Prostitution angewandt wird, etwas gekippt, obwohl es auch im Baugewerbe und in Diplomatenhaushalten, die sich Hausangestellte halten, Menschenhandel gibt. In der Prostitutionsdebatte wird das Problem des Menschenhandels stark betont, die tatsächlichen Fallzahlen sind aber nicht so hoch, wie suggeriert wird. Die Migrantin, die sich prostituiert, erscheint in der Debatte dann per se als Opfer von Menschenhandel und als fremdbestimmt. Außerdem wird die Rolle der Männer nicht genug beachtet. Berichte über Freier gibt es so gut wie gar nicht. Gesellschaftliche Akzeptanz würde erfordern, dass der gesamte Komplex der Sexarbeit beleuchtet wird und nicht nur die Seite der Sexarbeiterinnen.

Wie kam es 1980 zur Gründung von Hydra?

Die Hurenbewegung begann in Frankreich. Die Frauen, die dort im Sexgewerbe tätig waren, unterlagen starken Repressalien des Staates und starker Stigmatisierung. Es kam zu vielen Gewalttaten gegen Prostituierte, sowohl von Seiten des Staates als auch von Seiten der Zivilgesellschaft, und es gab eine Reihe von Morden an Prostituierten, ohne dass es zu Prozessen kam. Die Prostitution in Frankreich ist auch heute nicht legal. 1975 haben dann 20 Sexarbeiterinnen, wie wir sie heute nennen, in Lyon eine Kirche besetzt, um auf ihre Situation aufmerksam zu machen. Diese Frauen haben dort auch Schutz durch die Kirche gefunden. Dies hat international für viele Presseberichte gesorgt, da die Frauen zum ersten Mal in der Geschichte der Prostitution selbst an die Öffentlichkeit gegangen sind. So kamen die Nachrichten auch nach Deutschland. Im Jahr 1979 trafen sich dann Sozialarbeiterinnen, die sich mit der Thematik beschäftigten, mit einigen Prostituierten in Berlin und sprachen über die Notwendigkeit, eine Selbsthilfeorganisation zu gründen. Ein Jahr später wurde Hydra zunächst als Treffpunkt und Selbsthilfeorganisation von Sexarbeiterinnen gegründet.

Geht es über die Selbsthilfe hinaus bei Hydra auch um ein politisches Ziel?

Primäres Ziel unserer Arbeit ist die Gleichstellung des Sexarbeiterinnen mit anderen Berufsgruppen im Sinne einer Entstigmatisierung des Gewerbes der Prostitution. Auch in Deutschland war die Prostitution lange Zeit nur geduldet. Es gab keine Möglichkeiten für die Frauen, sich sozial abzusichern.

Hydra ist auch als Beratungsstelle für Prostituierte bekannt.

In unserer Arbeit trennen wir zwischen Verein und Beratungsstelle. In den letzten 30 Jahren hat sich die Beratungsstelle von Hydra stark professionalisiert, hier arbeiten sehr professionelle Mitarbeiterinnen, teils Psychologinnen und Sozial­arbeiterinnen, die zum Teil auch selbst Prostitutionserfahrungen besitzen. Der Verein besteht derzeit zu 90 Prozent aus aktiven Sexarbeiterinnen. Die Beratungen sind anonym und kostenlos.

Suchen Sie zur Beratung die Sexarbeiterinnen auch auf? Und wie funktioniert das mit der Kontaktaufnahme?

Wir gehen unangemeldet zu den Adressen, die uns bekannt sind. Dabei kommt es zu unterschiedlichen Reaktionen. Es kann sein, dass wir hineingebeten werden, weil Frauen uns kennen, es kann aber auch sein, dass wir gerade stören, weil hohe Geschäftstätigkeit herrscht. Im letzteren Fall liefern wir dann einfach nur unser Infomaterial ab und vereinbaren, wenn das möglich ist, einen Termin. Es kann auch passieren, dass wir abgelehnt werden. Das hat mit dem Alltag der Frauen zu tun. Nicht alle mögen Hydra. Es gibt Frauen, die sagen, wir haben dieses Prostitutionsgesetz mit ins Leben gerufen, so dass sie Steuern zahlen müssen. Das stimmt aber nicht, sie mussten auch vorher schon Steuern zahlen. Es gibt auch Misstrauen, da viele Frauen uns nicht kennen und die Sex-Etablissements häufig vom Zoll und vom Landeskriminalamt aufgesucht werden. Manchmal sagen die Frauen dann auch zu uns, hier gibt es gar keinen Sex. Damit müssen wir dann leben.

Wird die Beratung der Sexarbeiterinnen durch ihre Stigmatisierung erschwert?

Viele Frauen führen ein Doppelleben. Häufig sind diese Frauen dann nicht so selbstbewusst, offen über ihren Beruf zu sprechen. Sie sagen dann uns gegenüber: »Wir machen ja keinen Sex.« Als Berater einer Randgruppe werden wir selbst ebenfalls zu einer Randgruppe. Es ist in meinem Tätigkeitsbereich wie auch in meinem Privatleben so, dass wir zu einer Projektionsfläche werden. Wir gelten dann in den Augen der Außenstehenden häufig als Expertinnen für Partnerangelegenheiten, als Berater für Sex und alles, was dem Bereich der Prostitution so assoziiert wird. Das setzt Phantasien frei.

Und was stellen sich die Menschen dann vor?

Etwa, dass ich hier durch meine Tätigkeit zur »Sexpertin« werde. Das ist natürlich Quatsch. Zur Phantasie gehört auch, dass die Gesellschaft die Frauen, die in der Prostitution tätig sind, primär als Opfer betrachtet. Dies widerspricht der Realität, weil die große Mehrheit der Sexarbeiterinnen selbstbestimmt handelt, die meisten sind eben keine Opfer. Wenn wir dies öffentlich vertreten, kommt es auch zu Beschimpfungen, weil wir damit gegen Normen des hiesigen Wertesystems verstoßen. In diesem Wertesystem sind wir dann eben auch die Huren und nicht mehr die Heiligen.

Was sind denn die Anliegen der Frauen, die in die Beratungsstelle von Hydra kommen?

Die sind ganz unterschiedlich. Es kommen eigentlich alle Altersgruppen zu uns. Wir nennen unsere Einstiegsberatung deshalb auch Berufsberatung. Dabei gehen wir sowohl auf die rechtlichen Fragen einer Existenzgründung als Sexarbeiterin ein, die ja dann als Freiberuflerin ihr Gewerbe beim Finanzamt anmelden muss, als auch auf Fragen wie Safer Sex. Dabei bemühen wir uns herauszufinden, was die Motivation der Frau ist, um zu sehen, ob sie das, was sie in der Sexarbeit sucht, da auch finden kann. Es gibt auch Motivationen, bei denen wir davon abraten, in die Prostitution zu gehen, etwa wenn es der Frau darum geht, Machtverhältnisse zu verändern, Machtverhältnisse, die sie in ihrer Rolle als Ehefrau oder als Kind als Opfer sexuellen Missbrauchs erlebt hat. Diese Frauen würden in der Prostitution weiter verletzt werden, da sie nicht die Fähigkeiten und Eigenschaften mitbringen, die für eine erfolgreiche Sexarbeit notwendig sind.

Welche Fähigkeiten und Eigenschaften sind denn dafür notwendig?

Der Einstieg würde bedeuten zu sagen: »Ich bin eine Kleinunternehmerin.« So melden sich die Frauen ja auch beim Finanzamt an. Sie und ihr Körper sind ihr Kapital, sie muss für sich sorgen. Das erfordert eine sehr bewusste, betriebswirtschaftliche Herangehensweise. Man sollte wenig Emotionalität mit hineinbringen. Es sollte eine gewisse Leidenschaft für den Beruf vorhanden sein, da die Frauen mit so vielen Männern in Kontakt geraten. In den Bordellen findet nicht maßgeblich Sex, sondern eine kurze Beziehung statt. Die Frauen werden auch als Psychologinnen und Sozialarbeiterinnen gefordert. Sie verkaufen eine Vision von Wellness, wie man es heute nennt, eine Vision des Angenommenwerdens, von Geborgenheit. Die Einstiegsberatung umfasst zwei bis drei Termine, und es kommt vor, dass Frauen hier rausgehen und sagen: »Ich weiß jetzt doch noch nicht, ob ich das verwirkliche.« Der Alltag der Sexarbeiterinnen ist häufig anders als sich das Neueinsteigerinnen vorstellen. Der Großteil der Zeit in Bordellen besteht aus Sitzen und Warten. Die Wirtschaftskrise ist überall. Die Freier, die kommen, suchen sich dann eine Frau aus, und die anderen setzen sich halt wieder hin und warten weiter. Es gibt viele Männer, die Sex ohne Kondom wollen, und dann sind die Frauen gefordert, das aus Gründen der eigenen Sicherheit abzulehnen. Und wenn eine Frau bereits seit drei Tagen kein Geld mehr verdienen konnte, ist es natürlich schwierig, abzulehnen.

Helfen Sie auch Frauen, die den Ausstieg aus der Prostitution suchen?

Wir als Verein bieten eine Umstiegs- und Ausstiegsberatung für solche Frauen an. Ausstieg bedeutet eine völlige Beendigung der Arbeit in der Prostitution, während der Umstieg eine Qualifizierung für eine andere Tätigkeit bedeutet. Wenn dabei eine konkrete Bedrohung der Frauen im Spiel ist, schauen wir erst einmal, wer bedroht, wo bedroht wird und welche Notwendigkeiten sich aus der Situation ergeben. Wir arbeiten in diesem Fall auch mit dem LKA zusammen. Dabei versuchen wir, unsere Interessen zu wahren, wir sind ja nicht die rechte Hand des LKA. So versuchen wir zum Beispiel, die Frau woanders unterzubringen. Die Zeugenschutzprogramme sind leider so schlecht, dass kaum eine Frau es wagt, eine Aussage zu machen. So raten wir auch kaum zu einer Aussage vor Gericht, da wir ein schlechtes Gewissen hätten, wenn wir es täten.

Gibt es denn Drohungen gegen Hydra seitens krimineller Organisationen?

Nein, überhaupt nicht. Wir haben immer wieder mal mit Stalkern zu tun, die häufig Freier sind, die sich in die Frauen verlieben und ihnen dann aus Eifersucht nachstellen. Der eine oder andere dieser Stalker hat dann schon mal Drohungen geäußert, nicht weil wir schlecht mit ihm umgegangen wären, sondern weil wir die Interessen der Frauen vertreten. Wir bieten übrigens auch Freierberatungen an.

Wie viele Mitarbeiterinnen hat Hydra, und wie finanziert sich diese Arbeit?

Wir arbeiten hier zu fünft, und das in Teilzeit. Wir gehen davon aus, dass es in Berlin ca. 700 Prostitutionsstätten gibt. Dazu zählen Bordelle, Sex­kinos, Clubs etc. Und wir beraten auch Personen aus anderen Bundesländern. Angesichts dessen haben wir eine sehr geringe Zahl von Mitarbeiterinnen. Die Finanzierung erfolgt hauptsächlich aus öffentlichen Mitteln. Wir erhalten Gelder von der Senatsverwaltung für Frauen sowie von der für Gesundheit. Vom Senat für Frauen werden wir als Anti-Gewalt-Projekt geführt. Aber in den letzten Jahren wurde ja im sozialen Bereich viel gekürzt, und dies betrifft auch unsere Arbeit, deshalb sind wir zunehmend auf Spenden angewiesen. Es gibt mittlerweile Organisationen, die in Konkurrenz zu uns stehen und eher Gelder erhalten als wir. Deshalb ist finanzielle Unabhängigkeit Voraussetzung für unser weiteres Bestehen. Ich hoffe sehr, dass wir das schaffen.

Original: http://jungle-world.com/artikel/2010/32/41519.html
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nina777
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Beitrag von nina777 »

20.8.2010

MITARBEITERIN DER HURENORGANSIATION HYDRA

"Sexarbeit ist eine Dienstleistung"

Ohne die Lobbyarbeit des Vereins Hydra wäre Sexarbeit heute immer noch illegal. Die erste Hurenorganisation Deutschlands wird 30 Jahre alt. Ein Grund zum Feiern – und für ein Interview.


taz: Frau Kellerhoff, ist Hydra immer schon so selbstbewusst mit dem Wort Hure umgegangen?

Simone Kellerhoff: Ja, aber heute haben wir uns politisch korrekt auf die Bezeichnung "Sexarbeiterin" geeinigt. So wird deutlich, dass es sich um eine Dienstleistung handelt, um Arbeit.

Was genau macht Hydra?

Auf der einen Seite sind wir eine professionelle Beratungsstelle. Auf der anderen Seite setzt sich der Verein politisch dafür ein, die Tätigkeit der Sexarbeiterinnen anderen Erwerbstätigen gleichzustellen. Wir versuchen, das Stigma aufzulösen, das an Prostitution hängt und das die Prostituierten auch selbst tradieren.

Warum geben die Prostituierten dieses Stigma weiter?

Weil sie ein Teil der Gesellschaft sind. Scham und Tabus bleiben, auch wenn Frauen als Sexarbeiterinnen arbeiten. Deshalb führen sie oft ein extremes Doppelleben.

Ist es demnach Ziel Ihrer Arbeit, dass eine Prostituierte, wird sie nach ihrem Beruf gefragt, stolz sagt: Ich bin Sexarbeiterin?

Das ist unsere Vision, aber zunächst ist unser Ziel, dass Prostituierte physisch und psychisch gesund bleiben. Dafür ist es wichtig, das Bewusstsein der Frauen zu stärken. Doppelleben heißt doch, dass man seriös auftritt, aber einer Tätigkeit nachgeht, die gesellschaftlich nicht anerkannt ist. Frauen, die jahrelang eine gespaltene Existenz führen, sind sehr isoliert. Isolation macht krank. Wir wollen, dass die Frauen sich für ihre Arbeit nicht schämen müssen.

Was waren vor 30 Jahren die schlimmsten Probleme?

Die Frauen hatten keinerlei Rechte. Gewalt an Prostituierten konnte nicht angezeigt werden - Prostitution war verboten und hat sich im Dunkeln abgespielt, in einem Milieu mit hoher Kriminalität.

Was ist heute anders?

Die größte Errungenschaft der Hurenbewegung ist das Prostitutionsgesetz, das 2002 verabschiedet wurde. Prostituierte können seitdem in die Sozialversicherungssysteme einbezahlen. Sie können ihren Lohn einklagen, falls der Kunde ihn schuldig bleibt. Früher war Prostitution ein sittenwidriges Geschäft. Heute ist es eine Dienstleistung. Auch, dass es jetzt Bordellbetriebe geben darf, ist eine Errungenschaft. Früher nannten sich Bordelle nur Zimmervermietung. Der Vermieter durfte aber keine Kondome bereitstellen, keine Handtücher auslegen - dann war das nämlich Förderung von Prostitution und damit Zuhälterei.

Ist das Image der Prostituierten heute besser?

Mit dem Prostitutionsgesetz wurde die Stigmatisierung der Prostitution nicht abgeschafft. Sexarbeiterinnen werden entweder als Opfer von Dritten betrachtet - oder man nimmt an, dass sie als Kind missbraucht wurden. Als Opfer ökonomischer Zwänge hingegen werden sie selten wahrgenommen.

Was sind heute die größten Probleme?

Lohndumping und die wirtschaftliche Krise. Außerdem wird Prostitution ständig im selben Atemzug genannt mit Frauenhandel und Zwangsprostitution. Dabei hat sexuelle Ausbeutung nichts mit Sexarbeit an sich zu tun.

Lohndumping und verschärfte Konkurrenz macht die Frauen wieder verletzlicher. Sehen Sie das als Rückschritt?

Das Prostitutionsgesetz war der erste Schritt. Ein Problem sehen wir darin, dass das Gesetz beim Frauenministerium verankert ist, nicht beim Arbeitsministerium. Der nächste Schritt müsste sein, dass Sexarbeiterinnen Berufsgenossenschaften gründen können. Arbeits- und Hygienestandards müssen definiert, Bordelle zertifiziert werden.

Die Wirtschaftskrise führt dazu, dass immer mehr Frauen in der Prostitution arbeiten. Gibt es noch andere Entwicklungen, die damit einhergehen?

Es gibt neue Formen von Prostitution, neue Vermarktungsschienen. Ich bin sehr erschüttert über solche Angebote wie den Internetdienst "Hobbyhure".

Wie verändert sich der Anteil von Migrantinnen unter Sexarbeiterinnen?

Es gab schon immer einen hohen Anteil von Frauen mit Migrationshintergrund. Früher waren es häufig Asiatinnen. Seit 2007 sind viele osteuropäische Frauen dazugekommen. In der Regel hatten die Frauen in ihren Ländern bereits Kontakt zur Prostitution. Sie kommen selbstbestimmt her, oft aus prekären Verhältnissen. Hier aber gibt es Sprachbarrieren, und sie kennen die arbeitsrechtliche Situation nicht: Dass sie sich selbstständig machen müssen, dass sie eine Krankenversicherung brauchen. So können sie leicht ausgebeutet werden. Das ist eine Riesenherausforderung für uns.

Ist die selbstbewusste Hure aus heutiger Sicht ein Mythos?

Es war und ist kein Mythos. Wir reden allerdings lieber von selbstbestimmt. Viele Frauen möchten aber lieber etwas anderes arbeiten - eines unserer Angebote ist der Ausstieg. Ausstieg steht allerdings nicht im Widerspruch zur Selbstbestimmtheit. Man kann nur zwischen den Möglichkeiten wählen, die man hat. Wir versuchen, neue Möglichkeiten zu eröffnen.

Sind freiwillige Untersuchungen bei Prostituierten heute Usus?

Das Kapital der Sexarbeiterinnen ist ihre Gesundheit und ihr Körper, deswegen haben sie natürlich ein großes Interesse daran, gesund zu bleiben. Im Zuge des Lohndumpings haben Freier viel Macht. Immer mehr Männer fragen nach Sex ohne Kondom. Für eine Frau, die ökonomisch darauf angewiesen ist, ist es auf lange Sicht schwierig, diese Männer abzuweisen.

Freier sind aber keine Zielgruppe in der Präventionsarbeit.

Das kritisieren wir sehr stark. Wir reden immer über die Frauen. Niemand redet über die Kunden. Da wo Frauen durchweg als Opfer gesehen werden, werden Männer als Täter gesehen. Das macht es Männern schwer, sich als Prostitutionskunden zu outen. Damit sind sie auch nicht greifbar, nicht ansprechbar. Dabei sind sie so wichtig in dem ganzen Szenario.

http://www.taz.de/1/leben/alltag/artike ... tleistung/
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Marc of Frankfurt
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Was ich wichtig finde:

Beitrag von Marc of Frankfurt »

Jetzt bekommt unsere älteste Sexworker-Organisation und Beratungsstelle anläßlich ihres 30jährigen Bestehens -zudem ich herzlich gratuliere *freu*- etwas Medienbeachtung aber versäumt es auf die gröbsten aktuellen Mißstände aufmerksam zu machen. Diese sind:
  • Ein regional-lokales Gesetzeswirrwar mit großen Umsetzungsdefiziten des hochgelobten ProstG, welches die vielen mobilen Sexworker oft nicht durchschauen können und dann in eine Falle tappen. Keine öffentliche Stelle, die zentral bundesweit Berufsfachinformationen koordiniert oder sammelt außer diesem ehrenamtlich betriebenem Internet-Forum und den wenigen Sozialberatungsstellenmitarbeitern, die man persönlich sprechen kann nach vorheriger Anmeldung.

    Fehlende Bundesweite Sexworker Hotline.
  • Keine Hinweise auf Defizite des ProstG, die zur Folge haben, daß es keinen einzigen angestellten Sexworker gibt/geben kann, obwohl das das vorrangiges Ziel des Gesetzes war.

    Das Thema "Arbeitsverhältnisse mit fester, kundenunabhängien Entlohnung" wurde vielmehr als Grund für eine beispielose Kampagne gegen Prostitution und zur Rückabwicklung des ProstG aufgebaut, wozu auch eine (m.E. zu zahme) Hydra Aussage vorliegt: Flatrate-Pussy-Club)
  • Diskriminierendes Sonderschutzalter Prostitution. Dies bildet die Arbeitsgrundlage der herrschenden Razzienpolitik. Da Ausländerinnen die deutsche Sonderregel oft nicht kennen und auch nicht darüber informiert werden (man will ja keine Gastarbeiter für Sexwork anlocken;-), gibt es für die Beamten immer gut zu tun.
  • Runde Tische vielerorts im Lande aber ohne Sexworkerinklusion, sondern teilw. als prostitutionsfeindliches Propagandainstrument um Gesetzesverschärfungen vorzuschlagen (Marburg).
  • Landesweit Vertreibungen und Schließung auch von diskreten, oft unsichtbaren Wohnungsbordellen durch Bespitzelungen (Scheinfreier), Falschanzeigen, organisierte Anwohnerproteste, Baurecht sowie Sperrgebietsverordnungen.
  • Kein Anti-Diskriminierungsgebot und keine Entstigmatisierungskampagnen.
  • Menschenrechtlich fragwürdige Kondomüberwachung durch die Sitten-Polizei in Bayern. Wenn Regelverstöße ermittelt und bestraft werden, richten sich diese einseitig meist gegen Sexworker oder Arbeitsplatzgeber.
  • Über das BKA und Menschenhandelsstatistiken beteiligt sich die Regierung an Hetze und prostitutionsfeindlichen Klima, welches sich gegen selbstbestimmte Sexarbeit richtet bzw. diese schwächt.
  • Bisher gibt es keine Informationsübersicht darüber welche Ausstiegsprojekte es überhaupt für den Berufswechsel gibt und welche Projekte vom Familienministerium gefördert werden.
  • Die Medien (auch Print) verdienen nach wievor viel mit Sexworker-Anzeigen, aber lassen teilweise für Sexworker unakzeptale lebensgefährliche Praktiken bewerben (unsafe Sex codiert als 'tabulos' während der code 'safer sex' tabu ist). Und in der selben Ausgabe stehen dann im Nachrichtenteil vojeuristisch aufgepeppte Horrorgeschichten über Menschenhandel und Zuhälterei mit scharfen Insiderphotos ins Milieu.
  • Der Arbeitsmarkt der Sexworker genießt keinen Schutz. Außer Polizeirazzien 'kümmert' sich keine Kammer, kein Verband oder keine eigene Gewerkschaft. Genau deshalb wird die Ausbreitung von ruinösem Lohnwettbewerb unter prekarisierten DienstleisterInnen zugelassen (sog. Marktversagen).
  • Viele Verbesserungsnotwendigkeiten bei STD-Stellen und Gesundheitsämtern, die Services für Sexworker vorhalten.
  • Keine öffentliche Förderung für oder Diskussion über:
    - Sexworker-Gewerkschaftsbildung
    - Sexworker Akademie
    - Sexwork-Selbstverwaltungs Gremien (Hier gehört die Debatte um "Qualitäts-Sterne" hin)
    - Sexwork Forschungsinstitut
    - Sexwork Werberat
    - Sexworker Sozialkasse
    - Sexworker Altenheim
    - Sexworker Mikrokredit- und Spar-Genossenschaft
    - Genossenschaftsbordell
    - ...
  • Sonderbesteuerung durch Steuerfahndung nach sog. Düsseldorfer Verfahren über den Vermieter aber bisher ohne jede gesetzliche Grundlage.

    Zusätzlich ein föderalistischer Flickenteppich von diversen Sexsteuern.
  • ...


.
Zuletzt geändert von Marc of Frankfurt am 22.08.2010, 01:41, insgesamt 1-mal geändert.

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Re: Was ich wichtig finde:

Beitrag von Zwerg »

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Marc of Frankfurt hat geschrieben:etwas Medienbeachtung aber versäumt es auf die gröbsten aktuellen Mißstände aufmerksam zu machen. Diese sind:
@marc

Ich kann jetzt nicht abschätzen, wie viele Interviews Du bisher gegeben hast. In wie weit Du Einblicke hast, wie so etwas über die Bühne geht und auch, welches Risiko damit verbunden ist.

Aus meiner Erfahrung kann ich nur sagen: Wenn ein Interview erscheint, ist es in den meisten Fällen gekürzt - es wird fast immer nur ein Teil des Gesagten gedruckt.

Davon abgesehen: Ich finde es nicht richtig, wenn hier über das Sexworker Forum andere Organisationen bzw. Personen, die sich für die Rechte von SexarbeiterInnen einsetzen (also unsere MitstreiterInnen!!!), Zurufe erhalten "was sie vielleicht, in den Augen eines Users unseres Forums, besser machen hätten können"

christian

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Re: Was ich wichtig finde:

Beitrag von Aoife »

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Marc of Frankfurt hat geschrieben:... aber versäumt es auf die gröbsten aktuellen Mißstände aufmerksam zu machen.
Ja, Marc, ich denke das ist tatsächlich ein schwieriger Balanceakt, bei solchen Mißständen im zielorientierten konstruktiven Dialog zu bleiben und nicht zum (allenfalls belächelten) notorischen Nörgler zu werden.

Wobei wir hier deinen Unterpunkt "Keine öffentliche Förderung ..." in der Tat als nicht relevant betrachten - denn wer bezahlt, der bestimmt, deshalb sind wir im Gegensatz zu dir der Meinung, dass es besser ist, uns vor allem durch selbsterbrachte (nicht "ehrenamtliche", wie bereits mehrfach besprochen) Leistung zu "finanzieren".

Für meine Begriffe hat Simone ein wirklich super Interview gegeben.

Liebe Grüße, Aoife
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Beitrag von Zwerg »

Ich habe in meinem obigen Beitrag vergessen meine Hochachtung vor Simone von Hydra/Berlin zum Ausdruck zu bringen und ihr für das gelungene Interview zu gratulieren, was ich hiermit nachreiche.

liebe Grüße


christian