"Splitterfasernackt" Lilly Lindner

Ein nahezu unerschöpfliches Thema: Psychologische Betrachtungsweise der Sexarbeit
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Aoife
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RE: "Splitterfasernackt" Lilly Lindner

Beitrag von Aoife »

Auch wenn wir jetzt so nebenbei doch schon Allerhand bezüglich Psychotrauma erwähnt habe, so möchte ich doch (nachdem das thread jetzt im Psychobereich ist) nocheinmal auf Fraences' Eröffnungspost zurückkommen:

Was mich so betroffen gemacht hat, dass ich gleich die staatlichen Versuche diese Selbstheilungsstrategien auszubeuten angegriffen habe, ist die Tatsache, dass Lilly Lindner nicht wie so manche andere Autorin im Hinblick auf das "normale" bezahlende Publikum schreibt. Gerade was in der literaturpsychologisch analysierenden Rezension als "nicht wirklich nachvollziehbar" gewertet wird, ist typisch für die traumabedingte Spaltung.

Wobei Lilly ja mit ihrem Aktivwerden ja schon einen ganz wichtigen Schritt gegangen ist um das Trauma bzw seine Auswirkungen zu brechen, so dass auch das erklären könnte, warum sie mehr erinnert als der typische Traumatisierte.

Und doch scheint die Geschichte mit dem Nachbarn nicht der wahre Kern zu sein, nur so nahe dran wie sie es sich zumuten kann: Ihre Einschätzung ihrer Eltern und die Tatsache dass sie sich auch keinem anderen anvertrauen kann spricht IMHO Bände, da muss wohl schon vorher etwas vorgefallen sein, an das sie sich nicht erinnert. Auch das angegebene Alter von 6 Jahren bei dem Vorfall ist zumindest grenzwertig, nicht wirklich auszuschließen, aber die später entwickelte Symptomatik lässt vermuten, dass ihr Grundstein zumindest etwas früher gelegt wurde.

Lilly leidet ja offensichtlich nicht an einem "normalem" posttraumatischen Belastungssyndrom (flashbacks, Übererregung, Vermeidungsverhalten), das in jedem Alter ausgelöst werden kann, sondern zumindest an einem komplexen posttraumatischen Belastungssyndrom (entspricht in etwa der "Borderlinesymptomatik", Ende der verletzbaren Phase ca. mit dem 5. Geburtstag) oder auch an Borderlinepersönlichkeitsstörung (Ursache im Zeitraum vom 18. bis 24. Lebensmonat). Trotz allem "Erinnern" und "Bearbeiten" des Erinnerten vermute ich daher noch frühere Traumatisierungen, die ihr selbst völlig unbekannt sind.

Auch wenn dies natürlich nur meine Phantasien sind, bestenfalls als informed guess zu betrachten, so bleibt unabhängig von deren Richtigkeit auf alle Fälle Lilly's großartige Offenheit bezüglich ihres sich selbst nicht Verstehens. Und gerade dass sie nicht versucht das dem Durchschnittsleser nachvollziehbar zu erklären macht das Buch so glaubwürdig für mich.

Jetzt hätte ich fast geschrieben "wir alle kennen das ja" ... aber ich will natürlich niemanden vereinnahmen, also: Diejenigen von uns die beispielsweise ritzen, oder auch hungern oder kotzen, kennen das ja bestens, wir wissen ja auch nicht, warum wir das tun. Haben vielleicht eine glaubwürdige psychologische Erklärung dafür gehört und diese akzeptiert, aber wirklich "wissen" tun wir es nicht.

Oder auch dass Lilly "eigentlich" keinen Sex will und ihn gerade "deshalb" zum Beruf macht kann ich bestens nachvollziehen. Das ist für die normalen Leser hier vielleicht ein gutes Beispiel, was ich damit meine, wenn ich weiter oben geschrieben habe, dass nach dem Trauma nur noch dissoziierte Dinge geschehen. So gesehen ist es genaugenommen falsch, wenn die RezensentIn Normalität unterstellt und "Verdrängen" schreibt ... das können *wir* nämlich überhaupt nicht, Verleugnen ebensowenig, es läuft immer auf Abspalten, also dissoziieren als einzigen zur Verfügung stehenden psychischen Abwehrmechanismus hinaus.

Ebenfalls sehr schön zeigt sich, wie Trauma geschützt wird - völlig unabhängig davon, ob die Geschichte mit dem Nachbarn jetzt wirklich ursächlich für die folgende Entwicklung war oder nur die früheste Erinnerung darstellt die harmlos genug ist erinnert zu werden. Wie auch immer, Trauma wird durch Scham geschützt, dadurch kann es dann chronifizieren. Warum das so ist kann jeder selbst erleben, wenn er an die Rolle von Lilly's Eltern denkt. Da kommt doch massive Wut hoch, oder? Nur ein Kind kann sich diese Wut nicht erlauben, es braucht die Eltern zum Überleben (bitte: das ist das biologische Programm, Überlegungen bezüglich Jugendamt kommen da nicht vor). Dazu kommen kindliche Allmachtsphantasien (völlig normal in diesem Alter), das Kind "glaubt" also wenn es seine mörderische Wut rausläßt sind wirklich alle tot, also legt die Natur Schuldgefühle davor. Deshalb ist auch eine effektive Traumatherapie kein Spaziergang, der Therapeut muß nicht nur sehr viel Übertragungen aushalten können, er muß auch "abgebrüht" sein, wer in solch einer Situation moralisch wertet (auch wenn er es nicht offen ausspricht) retraumatisiert den Patienten - was im Extremfall nicht nur für den Patienten schlimm ausgehen kann.

Übrigens, Marc, dürfte daraus auch deutlich werden, warum der erste Teil deines post weiter oben absolut den Nagel auf den Kopf trifft: Wenn bei den Anonyma die Mama das als schlimmen, aber normalen Vorgang akzeptiert hat, so gibt es keinen Grund zur familienmörderischen Wut und somit auch nicht zu Trauma chronifizierenden Schamgefühlen.

So, ich hoffe das ich jetzt, nachdem ich mich anfangs zu einem ganz speziellen statement habe hinreißen lassen, vielleicht doch noch ein etwas runderes Bild abliefern konnte :002

Liebe Grüße, Aoife
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rainman
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Beitrag von rainman »

Hallo Aoife,

Danke sehr für Deine vorangehenden Ausführungen! Hier im Forum hat vor einiger Zeit eine Deiner Kolleginnen ganz lapidar geschrieben, sie habe ihren ersten Geschlechtsverkehr mit 6 Jahren gehabt (ich finde die Quelle so schnell leider nicht). Da ich mich für Schlüsselsituationen im menschlichen Leben sehr interessiere, gehe ich seit einiger Zeit der Frage nach, ob milieutheoretische Überlegungen, wie R. Girtler (Wien 5/2004) sie angestellt hat, für die Motivation zur Sexarbeit bedeutsam sind, oder ob auch psychich bedingte Faktoren eine Rolle spielen, für die namentlich in der älteren Literatur (z.B. D. Röhr, Frankfurta.M. 1972) Belege zu finden sind. Normalerweise hasse ich es, von multifaktorieller Bedingtheit zu reden, aber hier komme ich anscheinend nicht daran vorbei.

Dein Beitrag Nr. 20 zu diesem Thread klingt sehr pessimistisch.Hier möchte ich Dir Mut machen mit einem alten chinesischen Sprichwort: "Der Mann, der den Berg abgetragen hat, hat mit einem Stein angefangen". Es ist nicht einfach, in unserer Gesellschaft etwas zu bewegen, aber unmöglich ist es auch nicht.

Liebe Grüße und einen schönen Sonntagnachmittag!

rainman

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Aoife
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Beitrag von Aoife »

Danke lieber rainman!

Und für alle Anderen hier sei mir der Hinweis erlaubt, dass diese Diskussion an vorderster wissenschaftlicher Front stattfindet, ich somit darum bitte keine meiner Äußerungen als gesichtertes Lehrbuchwissen aufzufassen, sondern eher als ein Ausforschen der Möglichkeiten, unter welchen theoretischen Gesichtpunkten wir wohl am ehesten einen Weg finden können um den Menschen zu mehr Wohlbefinden zu verhelfen.

          Bild
rainman hat geschrieben:Da ich mich für Schlüsselsituationen im menschlichen Leben sehr interessiere, gehe ich seit einiger Zeit der Frage nach, ob milieutheoretische Überlegungen, wie R. Girtler (Wien 5/2004) sie angestellt hat, für die Motivation zur Sexarbeit bedeutsam sind, oder ob auch psychich bedingte Faktoren eine Rolle spielen, für die namentlich in der älteren Literatur (z.B. D. Röhr, Frankfurta.M. 1972) Belege zu finden sind. Normalerweise hasse ich es, von multifaktorieller Bedingtheit zu reden, aber hier komme ich anscheinend nicht daran vorbei.
Ich denke diese Frage ist rein epidemiologisch-statistisch nicht zu klären. Dabei können sich zwar gewisse Korrelationen zeigen - sofern diese überhaupt signifikant sind, siehe unsere Diskussion zur Zürich study - aber die letzliche Klärung welche der beiden statistisch zusammenhängenden Eigenschaften nun Ursache und welche Wirkung ist ist keine Frage der Statistik, sondern der zur Erklärung der Kausalität zugrundegelegten Theorie.

So gesehen ist ja schon die Suche nach "Schlüsselsituationen" eine theoretische Vorstellung, die unser Blickfeld einengen kann und falls sie nicht optimal das Beobachtete erklärt unsere weitere Erkenntnis behindern wird. Gerade wegen der Erfahrung, dass zunächst einmal erkannte Schlüsselsituationen dann regelmäßig gezeigt haben, dass sie wohl manchmal, aber bei weitem nicht immer "wirken", hat ja Schultz-Hencke in seinem neoanalytischen Modell stattdessen die "atmosphärischen Einflüsse" hervorgehoben, also sogennannte Schlüsselerlebnisse als nur besonders ausgeprägte und deshalb erinnerliche Auswüchse einer grundsätzlichen und über längere Zeit einwirkenden Grundstimmung aufgefasst.

Ich selbst habe allerdings solche Wissenschaft schon lange nicht mehr betrieben und gebe ganz offen zu, dass meine Meinung sich vor allem daran orientiert, was in der Praxis funktioniert. Und aus dieser Sicht spielen NUR psychische Faktoren eine Rolle, "Milieu" entwickelt sich aus dem Zusammenspiel der Menschen mit diesen psychischen Besonderheiten.

Natürlich kann das so entstehende Milieu wieder ursächlich für die psychische Entwicklung der nachrückenden Generationen sein, aber praktisch spielt das keine Rolle. Wir haben nun einmal die Menschen mit diesen Bedürfnissen und Verhaltensweisen, und selbst wenn man das als unteroptimal bewerten würde und gerne ändern würde, dann ist der Versuch das Mileu "auszutrocknen" oder wie auch immer die Weitergabe seiner psychischen Auswirkungen zu unterbinden so absurd wie der Versuch der Nazis Erbkrankheiten auszurotten.

Aus meiner Sicht gibt es also im idividuellen Fall (dem einzigen, an dem ich praktisches Interesse habe) nur psychische Gründe, diejenigen, die die KlientIn mitbringt, alles was an milieu-/gesellschaftlichem Einfluß dazu geführt hat ist außerhalb unserer Reichweite und die Welt idealistischerweise für zukünftige Generationen verbessern zu wollen ist höchst gefährlich. Somit sehe ich das als typisch an:

          Bild
fraences hat geschrieben:Hier, in der Welt der Huren und Zuhälter, findet sie, was ihr die Familie nie geben konnte: Geborgenheit.
Unsere eigenen Besonderheiten bringen uns in das Milieu, in dem wir uns besser fühlen als in einem anderen. So gesehen praktisch ganz monokausal.

Trotzdem, lieber rainman, sehe ich hier keine Möglichkeit die unerwünschte "Erklärung multifaktoriell" wirklich loszuwerden.

Denn gerade bei der menschlichen Psyche weise ich ja ständig darauf hin, dass sie eben nicht mit einem Computer vergleichbar ist, also eine bestimmte Eingabe keineswegs ein vohrhersagbares output hat. Nur ganz grobe Vergleiche können etwas verdeutlichen, etwa dass ein Programm auf ungeeigneter hardware nicht richtig läuft, aber in Feinheiten verhalten Mensch und Computer sich völlig unterschiedlich.

Zu den einflußreichen Faktoren zähle ich Belastung, Resilenz (die Fähigkeit die Belastung "wegzustecken"), und aus praktisch-therapeutischer Sicht spielen die von Boszormenyi-Nagy beschriebenen "Familienschuldkonten" eine erhebliche Rolle, und dann, wie man (hoffentlich!) an mir selbst sieht haben auch Kompensationsmechanismen einen großen Einfluss. Gerade bei Persönlichkeitsstörungen ist die Stärkung der Kompensationsmöglichkeiten wohl der einzig gangbare therapeutische Weg.

Um abschließend nochmals auf die Wissenschaft zurückzukommen: Was ich weiter oben über Therapeuten geschrieben habe:

          Bild
Aoife hat geschrieben:..., der Therapeut muß nicht nur sehr viel Übertragungen aushalten können, er muß auch "abgebrüht" sein, wer in solch einer Situation moralisch wertet (auch wenn er es nicht offen ausspricht) retraumatisiert den Patienten - was im Extremfall nicht nur für den Patienten schlimm ausgehen kann.
wäre grundlegend auch vom Wissenschaftler zu fordern. Denn wenn dieser nicht abstinent ist, und sei es auch aus den "besten Gründen", so wird die in seine Wissenschaft einfließende moralische Gesinnung die therapeutischen Konsequenzen beeinflussen und somit den Klienten weiter schädigen.

Um es etwas sarkastisch zu formulieren:

Ist ja schön, dass so viele sich um uns besorgte Gedanken machen und helfen wollen, aber solange nicht der pro Kopf gleiche Aufwand betrieben wird um die zu Nonnen und Beamten führenden psychischen Störungen und deren Ursachen zu erforschen wird da nichts Gutes bei herauskommen.

Liebe Grüße, Aoife
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Beitrag von ehemaliger_User »

Dein Sarkasmus trifft den Nagel auf den Kopf, liebe Aoife. Was sind denn überhaupt "psychische Störungen"? Wer definiert, was "normal" ist, wenn wir bis heute (fast) keine Ahnung davon haben, wie ein Hirn überhaupt funktioniert?
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rainman
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Beitrag von rainman »

Hallo Aoife,

vielen Dank für Deine ausführlichen Erörterungen; sie haben mich zu vielen weiteren Überlegungen angeregt. Danke auch Dir, Fraences, dass Du das Besondere des vorliegenden Falles so präzise auf den Punkt gebracht hast.

Etwas erschrocken war ich aber schon über den Schlusssatz; habe ich doch mehr als drei Jahrzehnte meines Berufslebens im Beamtenstatus verbracht. Aber keine Sorge: ich verstehe das schon richtig und habe auch Humor: Honni soit, qui mal y pense!
Übrigens: Was die Nonnen betrifft, so habe ich einmal vor einiger Zeit mit einer Sexarbeiterin, die ich gut kenne, ein Gedankenspiel über die Parallelität von Sexarbeit und Ordensleben veranstaltet: interessant.

Liebe Grüße

rainman

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Aoife
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Beitrag von Aoife »

          Bild
rainman hat geschrieben:Aber keine Sorge: ich verstehe das schon richtig und habe auch Humor
Ja, weder an deinem Verständnis noch an deinem Humor hatte ich irgendwelche Zweifel.

Trotzdem habe ich schon lange vor deiner Antwort angefangen zu überlegen, ob ich das nicht für alle anderen die hier mitlesen können (ist ja öffentlicher Bereich) vielleicht doch etwas klarer ausdrücken sollte noch. Also:

Fraences hat sicherlich Recht mit ihrer kritischen Frage "Wer überhaupt kann "Normalität" definieren?"

Diese Frage hat ja Ronald Laing schon vor Jahrzehnten zum Thema gemacht, die daraus folgende Antipsychiatriebewegung kann ich in ihrer letzten Konsequenz, dem therapeutischen Nihilismus, jedoch nicht unterstützen. Weil der Schluß: "Wenn keiner die Definitionsmacht über Krankheit hat, dann müssen wir alles als "gesund" akzeptieren" viel zu theoretisch ist und dabei das trotz allem Zweifel an einer Krankheitsdefinition existenziell nun einmal vorhandene Leiden völlig ausgeblendet wird.

Ich bin überzeugt, dass unser allzu nachvollziehbares Problem mit Krankheitsdefinitionen primär gar nicht auf der Ebene der Definitionsmacht entsteht ... diese zu diskutieren ist nur Folge davon, dass viele Menschen sich von einer Definition die auf gesellschaftlichem Funktionieren beruht vergewaltigt fühlen.

Wobei dem Mensch ja zugegebenermaßem im Spannungsfeld zwischen Individuum und gesellschaftliches Wesen zu sein leben muß, so daß beide Bereiche sich nicht letztendlich trennen lassen.

Trotzdem plädiere ich dafür, den Zugang (sagen wir mal um vorbelastete Worte wie Krankheit oder Störung zu vermeiden:) "Hilfsbedürftigkeit" ganz betont auf der Ebene des Leidens, des "sich nicht Wohlfühlens" zu suchen. Eine Wissenschaft die diesen Ansatz verweigert und alle diejenigen, die zwar leiden, dabei aber funktionieren ausblendet, dürfte sich eigentlich nicht Psychologie nennen, müsste Funktionologie genannt werden :002

Aber Spass beiseite: Ein grundlegendes Verständnis für das Wohlbefinden (oder zumindest für das weniger Leiden) des Menschen können wir IMHO nur erreichen, wenn wir das Leiden insgesamt untersuchen und uns nicht auf die Fälle mit gesellschaftlich unerwünschten Folgen beschränken. Deshalb warne ich vor den Ergebnissen einer Wissenschaft, die glaubt Traumaforschung anhand von gesellschaftlich unerwünschten Extremfällen wie Prostitution betreiben zu können.

Auch wenn ich dem einzelnen Beamten natürlich nichts unterstellen kann und das auch gar nicht will (ebensowenig wie der einzelnen Prostituierten), so führt die Struktur der "beschützten Werkstatt" von Klöstern und Beamtentum doch dazu, dass ganz bestimmte Persönlichkeitstypen bevorzugt angezogen werden, welche daher wiederum an auffälligen Häufungen von bestimmten Leidensformen leiden. Eine Wissenschaft, die hiervor die Augen verschließt und sich für eine mögliche traumatische Entstehung dieser Verhaltensweisen gar nicht erst interessiert, weil nach aussen hin ja alles zu funktionieren scheint (zumindest bis zur Frühpensionierung wegen Tinnitus :002 ) wird ihrem Forschungsauftrag nicht gerecht.

Liebe Grüße, Aoife
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rainman
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Beitrag von rainman »

Noch ganz unter dem Eindruck des Fernsehfilms "Der falsche Sohn" stehend (Mo., 3. 10., ZDF, gedreht nach einer wahren Begebenheit) möchte ich meine Betroffenheit über die offenbar zahlreichen Vergehen zum Ausdruck bringen, die in der Psychiatrie offenbar ganz vorsätzlich begangen worden sind. Und das nicht nur in der Spätzeit der alten Sowjetunion, wo zahlreiche Regimekritiker die Psychiatrischen Anstalten zwangsbevölkert haben, sondern auch in den ach so gottesfürchtigen USA. Die Menschen mit Husten, Schnupfen und Heiserkeit haben es ganz offensichtlich besser als ihre Leidensgenossen in der Psychiatrie, vielleicht, weil in der somatogenen Medizin noch so etwas wie öffentliche Kontrolle möglich ist.

Das hier diskutierte Buch "Splitterfasernackt" hat mich auch zu Überlegungen über das Verhältnis zwischen Leit- und Teilkulturen angeregt. Grundsätzlich ist es offenbar so, dass die Angehörigen der Leitkultur diejenigen der Teilkultur mit Argusaugen beobachten und ihrem Misstrauen regelmäßig mit Feindseligkeit Ausdruck geben. Das anstehende Problem soll teils durch Integration gelöst oder, wenn das auf Schwierigkeiten stößt, durch Sanktionen aus der Welt geschafft werden ("Und willst du nicht mein Bruder sein, dann schlag ich dir den Schädel ein"). Andererseits versuchen die Angehörigen einer Teilkultur, von der Leitkultur "Anerkennung" (Aoife s.o., Beitrag Nr. 20) zu erhalten, wollen aber ihre Eigenständigkeit nicht aufgeben. Dieses Dilemma ist letztlich nicht zu lösen, aber man kann Brücken bauen. Eine solche Brücke ist m.E. dieses Forum, das in der Anonymität des Internets die Distanz wahrt und doch tiefgreifende Kommunikation zwischen den Angehörigen einer Teil- und einer Leitkultur ermöglicht: den Betreibern zolle ich Respekt und Anerkennung!

Im Sinne eines Brückenbauens habe ich nicht die geringsten Vorbehalte, wenn sich eine Frau (oder ein Mann) entschließt, ihren Lebensunterhalt in freier Entscheidung als SexarbeiterIn zu verdienen. Ich habe aber auch nichts dagegen, wenn sie sich - ebenfalls in freier Entscheidung - entschließt, diese Teilkultur zu verlassen und, da das gar nicht so leicht ist, dabei fremde Hilfe in Anspruch zu nehmen. Nur wenn diese Hilfe eine Eigendynamik entwickelt und nach dem von Aoife häufig zitierten Karpman-Dreieck der Helfer zum Täter mutiert, dann sehe auch ich rot.

Liebe Grüße

rainman

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Beitrag von Aoife »

Vielen Dank für deine Anmerkungen, lieber rainman!

Ich bitte darum, meine Gedanken dazu auch in diesem Zusammenhang zu verstehen:
viewtopic.php?p=105056#105056

          Bild
rainman hat geschrieben:Grundsätzlich ist es offenbar so, dass die Angehörigen der Leitkultur diejenigen der Teilkultur mit Argusaugen beobachten und ihrem Misstrauen regelmäßig mit Feindseligkeit Ausdruck geben. Das anstehende Problem soll teils durch Integration gelöst oder, wenn das auf Schwierigkeiten stößt, durch Sanktionen aus der Welt geschafft werden ("Und willst du nicht mein Bruder sein, dann schlag ich dir den Schädel ein").
Du hast sicherlich Recht, rainman, dass das so ist. Und im Hinblick auf unsere derzeitige Gesellschaftsform ist das auch "grundsätzlich" so, insofern diese Struktur sämtliche Gesellschaftsbereiche durchzieht.

"Grundsätzlich" in dem Sinn dass es immer und überall so sein muß ist es aber meiner Auffassung nach nicht, nicht nur aus der Kenntnis der Geschichte heraus, dass es auch andere Kulturen und damit auch andere Gesellschaftsformen geben kann, die dieser Struktur nicht folgen, sondern auch aus meinem Menschenbild heraus, dass die sogenannte Leitkultur auch ihre Anhänger oft massiv schädigt. Ein Bischof der im Zusammenhang mit pädophilem Mißbrauch durch die Medien gezogen wird hat auf der sozialen Ebene nicht weniger Probleme als wir, ganz zu schweigen von all denen, die an "anerkannten", jedoch keineswegs weniger psychogenen Erkrankungen leiden und sterben ... also offensichtlich gibt es hier auch kein Schlaraffenland für Anhänger der "Leitkultur" und ich frage mich ernsthaft, ob man diese ihnen selbst mehr schadende als nutzende Anhängerschaft überhaupt noch als selbstbestimmt betrachten darf.
rainman hat geschrieben:Dieses Dilemma ist letztlich nicht zu lösen, aber man kann Brücken bauen.
Absolut, sehe ich doch ganz genauso, und das Bild des Brückenbauens ist genial. Denn eine Brücke braucht beiderseits ein tragfähiges Fundament. Und gerade die Einstellung "assimiliere dich oder du wirst ausgerottet" ist nach meiner Überzeugung ein Zeichen extremer Schwächer, wer sein Fundament kennt und darauf vetraut hat eine solche Haltung nicht nötig. Das ist Agression, die aus Angst geboren wird.
rainman hat geschrieben:Andererseits versuchen die Angehörigen einer Teilkultur, von der Leitkultur "Anerkennung" (Aoife s.o., Beitrag Nr. 20) zu erhalten, wollen aber ihre Eigenständigkeit nicht aufgeben.
Schwierig, gebe ich gerne zu. Andererseits sehe ich meine Beitrag #20 gar nicht einmal so negativ. Dass viel zu ändern wäre macht das ja nicht unmöglich. Pessimistisch wäre das IMHO nur zu verstehen wenn man überzeugt ist, dass dieser "Leitkutur-Teilkulturen-Antagonismus" überhaupt notwendigerweise so bestehen muss. Mir geht es somit gar nicht darum von der Leitkultur anerkannt zu werden, mein *therapeutisches Ziel* ist für ALLE den Leitkulturgedanken aufzugeben und zu menschengemäßeren Lebensformen zurückzufinden. Da diese Leitkultur nicht nur für uns, sondern mindestens ebenso für die ihr Angehörenden massiv pathogen ist, geht es nicht um die Scheinalternative "wie beschützt sich die Leitkultur vor den Ansprüchen von Minderheiten", sondern darum eine Form des Zusammenlebens zu finden, die zwischenmenschlichen Respekt und gegenseitige Gerechtigkeit in den Mittelpunkt stellt. Denn schon bei genauerem Hinschauen ist diese Leitkultur ja auch nur "des Kaiser's neue Kleider" ... würden wir nicht das zur Schau getragene Öffentlichkeitsbild sehen, sondern den koksenden Spitzenpolitiker, den bestechlichen Polizeichef, den pädophil mißbrauchenden Priester, den ständig geschwindigkeitsüberschreitenden Recht-und-Ordnung-Apostel, den paysex in Anspruch nehmenden Nachbarn Saubermann, die für Wohltätigkeitsveranstaltungen engagierte Alkoholikerin direkt erkennen können, so würde jeder, der von einer durch diese Personen konstituierte Leitkultur sprechen würde zumindest schief angesehen werden.

So sehr uns die bigotte Doppelmoral anwidert, diese Lebensweisen sind für die Betroffenen extrem belastend, wie diejenigen von uns, die ein Doppelleben führen (müssen) bestens wissen. Ich bin überzeugt dass es für ALLE besser wäre auf den Schein einer Leitkuktur zu verzichten - für diejenigen die zu Subkulturen gehören ebenso wie für diejenigen die sich selbst vergewaltigen um zur Leitkultur gehörig zu erscheinen. Und aus meiner Lebenserfahrung bin ich subjektiv zu der Überzeugung gelangt, dass beide Gruppen zusammen die absolute Mehrheit der hiesigen Bevölkerung ausmachen.

Es gibt diese Geschichte von der Stadt, in der 6 von 10 Honoratioren Selbstmord begangen haben sollen, nachdem sie einen anonymen Brief mit dem Inhalt "es ist alles herausgekommen" erhalten hatten. Nicht dass ich diese Geschichte wörtlich glauben würde, aber dass wohl nicht nur ich mir vorstellen kann dass sie wahr sein könnte, wirft schon ein besonderes Licht auf unsere derzeitige Gesellschaftsform.

Liebe Grüße, Aoife
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Beitrag von rainman »

Liebe Aoife,

vielen Dank für Deine aufschlussreichen Ausführungen.

Wenngleich das Thema durchaus ernst ist, so hat doch Dein letzter Satz den Lachfalten in meinem Gesicht weitere Konturen gegeben. Ich bin mit Dir der Meinung, dass diese Geschichte, möge sie auch ein Witz sein, der Wahrheit schon recht nahe kommt. Während wir hier gemütlich plaudern, sitzt beispielsweise in der JVA in Augsburg ein gewisser Ludwig Holger Pfahls, der einmal Präsident des Bundesnachrichtendienstes und Staatssekretär im Verteidigungsministerium gewesen ist, in U-Haft und wartet auf seinen Prozess. Nun gilt für ihn wie für alle anderen bis zum Abschluss des Verfahrens die Unschuldsvermutung, so dass ich alles, was ich im Folgenden sage, im Konjunktiv formulieren muss. Sollte also das, was die Staatsanwaltschaft diesem ehemaligen Beamten (!) vorwirft, der Wahrheit entsprechen, so wäre dieser von Kopf bis Fuß gleichsam in Straftaten eingewickelt!

Liebe Grüße

Walter

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Beitrag von ehemaliger_User »

Dieser Satz aus "Splitterfasernackt" gefällt mir ganz besonders:

"Wir haben Eltern, die uns nicht ertragen, wegen unseres Betragens oder weil wir nicht tragen wollen, was sie uns auftragen, oder weil sie es nicht vertragen, uns mit sich zu tragen auf dem Weg dieser Tragödie ins ertragreiche Land."
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Beitrag von Aoife »

Ja lieber ehemaliger_User, das ist sprachlich wunderschön ausgedrückt!

Mir ist es jedoch wichtig, darauf hinzuweisen, dass das elterliche Handeln zwar ursächlich, jedoch nicht "schuldhaft" ist, daher meine Bemerkung:

          Bild
Aoife hat geschrieben:Zu den einflußreichen Faktoren zähle ich ... die von Boszormenyi-Nagy beschriebenen "Familienschuldkonten"
Und da Sexarbeit trotz aller gesellschaftlichen Widerstände dies anzuerkennen zumindest verkappte Psychotherapie IST (Klienten suchen uns auf, weil sie sich erhoffen, dass es ihnen durch unser Handeln psychisch besser gehen wird), hier für alle Interessierten die wissenschaftliche Grundlage:

http://www.amazon.de/Unsichtbare-Bindun ... 827&sr=8-1

nicht wirklich billig, aber absolut empfehlenswert.

Übrigens eines der wenigen Bücher, die ich aus Kostengründen auf Deutsch gelesen habe, wer sich für das erheblich teurere englische Original interessiert, hier ist es:

http://www.amazon.de/Invisible-Loyaltie ... 931&sr=1-3

Liebe Grüße, Aoife
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Beitrag von ehemaliger_User »

Danke für den Hinweis, liebe Aoife. Hat mich bewogen, ein wenig nachzuforschen:
Hier gibts eine ausführliche Rezension:
http://www.systemagazin.de/buecher/klas ... dungen.php
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Marc of Frankfurt
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Vergangenheitsbewältigung

Beitrag von Marc of Frankfurt »

Danke für Links und Postings.

Hier gibt es historische Fallanalysen. Es geht um den Umgang der Enkel der Nachkriegsgeneration mit dem Erbe der Großväter der Vorkriegsgeneration und ihren jeweiligen Ideologien.

Der Krieg ist der 30jährige Krieg (1618-48), bei dem sich die Christenheit in grausigen Machtkämpfen aufgespalten hat in Katholiken (Papst, Rom 1000jähriges HHR), Protestanten (Luther, Ostdeutschland) und Reformierte (Zwingli-Calvin, NL, CH). Das Auf- und Abarbeiten von Schuld ist durchaus vergleichbar unserer heutigen Situation bezogen auf WWII und Verstrickungen unserer Großväter in Nazideutschland/Naziösterreich.



Es werden 3 «Modelle» der Individuation im Familiensystem nach Boszormenyi-Nagy/Spark gezeigt: Ich nenne das im Zusammenhang mit Sexwork: Stigma-Management

Es geht um Coming-out (Familienbeichte), Aneignung und Abtragung von Familienschuldkonten um die unsichtbaren Verstrickungen der Parentifizierung zu entmächtigen...

Alle 3 Fälle erzählen beredt von den Schwierigkeiten, um 1700 ein «belasteter» Enkel (schwarzes Schaf oder/mit Familiengeheimnis) zu sein.
  • Passiv, neutrale Überlieferung und Familienerbfolge - Fall Jablonski: Er hält sich vornehm und vorsichtig zurück; Trennung zwischen intern/familiär/freunde und extern/öffentlich/beruf/politik.

    Großvater [Vorkriegszeit]: Johann Amos Comenius, bömischer Theologe und Pädagoge, Gründer der Brüder-Unität
    Enkel [Nachkriegszeit]: Daniel Ernst Jablonski, brandenburgisch-preussischer Hofprediger
  • Aneignung durch aktive Opposition und Coming-out - Fall Gundling: Er geht frühzeitig in die Offensive.

    Großvater: Johann Vogel, Krypto-Sozinianer, Schüler vom antitrinitarische Krypto-Sozinianer Ernst Soner
    Enkel: Nikolaus Hieronymus Gundling, Juraprofessor in Halle, Preussen, Schüler vom Frühaufklärer Christian Thomasius, sein Bruder war „Hofnarr“ im Tabakskollegium des Soldatenkönigs
  • Krankmachende Verdrängung unter lebensbedrohendem Loyalitätskonflikten - Fall Hinckelmann: Er stösst sein Erbe ab und verheimlicht die Beziehung zugleich.

    Großvater: Benedikt Hinckelmann aka Balthasar Walther, Berater und evt. Koautor vom «enthusiastischen» kabbalistisch, alchemistisch Philosophen, Mystikers und Schuster Jakob Böhme aus Böhmen
    Enkel: Abraham Hinckelmann, Hamburgs Hauptpastor, liberal, orthodox evangelisch aber gewechselt zum Pietismus, Kabala Kenner, starb an Blutsturz (aufgebrochenem Magengeschwür) im Hamburger Pietismusstreit
Damals gab es:
- Enthusiasten oder Spiritualisten, die an persönliche Offenbarungen glaubten, den Weg Christi als inneren Erlösungsweg ansahen und ein bevorstehendes Ende der Geschichte erwarteten
- Sozinianer oder Photinianer, die die Heilige Trinität (Dreifaltigkeit Gottes) ablehnten.
- Eklektik Modelle der Offenheit und Unverbindlichkeit, die schon bald in die Aufklärung münden sollten.
[Hegel: These+Antithese=Synthese]

www.nzz.ch/nachrichten/kultur/literatur ... 67674.html





Wie wäre es ein Familien-Stellen nach Bert Hellinger mal für Sexworker anzubieten? Ich kann die Methode nur allen nahe legen auch wenn sie kontrovers diskutiert wird, da Konten und unsichtbaren Bande nicht naturwissenschaftlich nachweisbar.

Mein Sammelthema "Stigma-Management - Wortgebrauch und Leitbilder Prostitution":
www.sexworker.at/phpBB2/viewtopic.php?t=919





Kernthema und prägend für unsere Situation ist die doppelte Verquickung:
- Sexwork und Paysexkonsum mit seiner psychoanalytisch, egoistischen Triebstruktur nach Sex und Geld und die
- gesellschaftlich-familiäre Tabuisierung, Ausgrenzung, Stigmatisierung bis hin zu Kriminalisierung in kranken-dysfunktionalen, dem Machtparadigma funktionalisierten Familiensystemen...


Wir müssen Feminismus d.h. die Emanzipationstheorie nochmal hervorholen und überarbeiten...





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RE: "Splitterfasernackt" Lilly Lindner

Beitrag von Aoife »

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ehemaliger_User hat geschrieben:Hier gibts eine ausführliche Rezension
Danke für die wirklich guten Rezensionen (es sind ja 2) - ich denke sie bieten eine verlässliche Entscheidungshilfe für jemanden, der noch unentschlossen ist das Buch zu kaufen.

Die zurecht bemängelte schlechte Lesbarkeit der Theoriekapitel habe ich für übersetzungsbedingt gehalten, deshalb mein Hinweis darauf dass auch das englische Original erhältlich ist. Da ich dieses nicht kenne kann ich zwar für nichts garantieren, aber meine persönliche Erfahrung ist dass solch "sperrigen" deutschen Texten zumeist ein brillantes englisches Original zugrundeliegt, das aufgrund der Dichte und Bildergewalt seiner Sprache kaum übersetzbar ist.

Zudem fußen die weltanschaulichen Überlegungen auf einem ausgesprochen wertkonservativen und ungebrochen patriachalen Weltbild und sind heute für Frauen zumeist nur schwer verdaulich.

Stimmt zwar, ist aber für uns, die wir das "Spiel der Geschlechter" kennen und mitspielen können wohl weit leichter zu relativieren und weiterzuentwickeln als für akademische NoPorn-Feministinnen. Wobei, wie schon anderswo diskutiert, das Patriarchst für unsere Breiten ohnehin kaum echte historische Wurzeln hat, selbst die "mittelalterliche Monarchie" ist weitgehend erfunden um den neuzeitlichen top-down-Beherrschungssystemen einen Gründungsmythos zu liefern.

Auch wenn Boszormenyi-Nagi zweifellos einen für die USA der 70erjahre typischen Wertkonservativismus vertritt, gerade in seiner Erkenntnis dass das Streben nach Gerechtigkeit eine menschliche Grundeigenschaft ist sehe ich den systeminternen Ansatzpunkt diese orts- und zeitgebundenen Beschränkungen zu überwinden.

Liebe Grüße, Aoife
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Re: Vergangenheitsbewältigung

Beitrag von Aoife »

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Marc of Frankfurt hat geschrieben:Kernthema und prägend für unsere Situation ist die doppelte Verquickung:
- Sexwork und Paysexkonsum mit seiner psychoanalytisch, egoistischen Triebstruktur nach Sex und Geld und die
- gesellschaftlich-familiäre Tabuisierung, Ausgrenzung, Stigmatisierung bis hin zu Kriminalisierung in kranken-dysfunktionalen, dem Machtparadigma funktionalisierten Familiensystemen...
Hört sich jetzt wohl sehr theoretisch an, aber aus ganz praktischen Gründen bin ich der Überzeugung, dass diese Verquickung nur scheinbar ist.

Punkt 1 können wir IMHO getrost vergessen, die psychoanalytische "egoistische Triebstruktur" ist ein Artefakt, dessen vermeintliche Existenz sich aus dem Irrglauben nährt, die bürgerliche Gesellschaftsstruktur sei etwas Reales.

So gesehen also keine Verquickung, sondern direkte und logische Folge von Punkt 2.

Was letzlich bedeutet dass das derzeitige nicht der Natur des Menschen angemessene Machtparadigma zentrale Ursache der Probleme ist. Wenn das Streben nach Gerechtigkeit eine menschliche Grundeigenschaft ist, dann können wir es ebensowenig an einen Herrscher (oder seinen "demokratisch" bestimmten Ersatz) abgeben (und genau das bedeutet staatliche Gesetzgebungskompetenz ja) wie wir bei unserer Sexualität einem König oder einem Parlament die Erlaubnis oder den Auftrag erteilen können, diese für uns zu erledigen.

Oder besser gesagt, wir können schon, wenn wir verrückt genug sind, und was dabei herauskommt sehen wir ja deutlich.

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Re: Vergangenheitsbewältigung

Beitrag von ehemaliger_User »

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Aoife hat geschrieben:dann können wir es ebensowenig ... wie wir bei unserer Sexualität einem König oder einem Parlament die Erlaubnis oder den Auftrag erteilen können, diese für uns zu erledigen.
Das will ich auch gar nicht! Nur der "König" will das immer um seinen Herrschaftsanspruch zu unterstreichen.
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Re: Vergangenheitsbewältigung

Beitrag von Aoife »

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ehemaliger_User hat geschrieben:Nur der "König" will das immer um seinen Herrschaftsanspruch zu unterstreichen.
Moderne Könige ja, aber bei weitem nicht alle. Ich verweise nochmals auf diesen Beitrag:
viewtopic.php?p=105056#105056

Das von dir, ehemaliger_User, implizierte Königtum trat in Ulster erst auf als Conn Bacach O'Neill 1542 den britischen Titel Earl of Tyrone annahm - seine Vorgänger waren Könige ohne das Recht der Gesetzgebung gewesen, und auch sein Sohn Seáin O'Neill hat das neue System abgelehnt und wie viele seiner Nachfahren für ein Königtum ohne diesen Herrschaftsanspruch gekämpft.

Wobei ich diese geschichtliche Betrachtung (nicht nur aus persönlichen Gründen) hier keineswegs OT empfinde, die von Boszormenyi-Nagi beklagte, weil psychisch so schädliche Anomie (Gesetzlosigkeit) hat ja gerade ihren Ursprung in der fehlenden Anarchie, also Herrschaftslosigkeit.

Was nur beim ersten Blick ein Paradox darstellt, denn wenn Gesetzgebung von Herrschern ohne wirkliches Recht dazu (außer dass sie die grünen Männchen mit den Pistolen befehligen) usurpiert wird, dann beudeutet das logischerweise, dass die von ihnen gemachten sogenannten "Gesetze" keine Entsprechung in der menschlichen Seele haben und somit als psychischer Rahmen wirkungslos bleiben.

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RE: "Splitterfasernackt" Lilly Lindner

Beitrag von Lucide »

Ich kann den teils autobiografischen Roman absolut empfehlen, denn Lilly Lindner hat hier durchaus auch literarischen Mehrwert geschaffen und endlich das hervorgebracht, was ich im Bereich der tatsächlich erlebten und in Romanform gepressten Prostitution bisher vergeblich gesucht habe: Sprachgewalt und Kreativität.

Ich störte mich vor allem daran, dass "Nuttenromane" immer auch irgendwie vulgär waren, es berührte mich daher nie auch nur eines der auf den Markt geworfenen Werke langfristig (wenn auch ein gewisser voyeuristischer Drang durchaus bedient wurde).

Bravo, kann ich nur sagen, außerordentlich gut gemacht, Lilly!

Ihre Lesung am 3. November werde ich mir nicht entgehen lassen, da ich sehr gespannt auf sie bin.

rainman
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Beitrag von rainman »

Hallo Lucide,

da möchte auch ich einmal laut "bravo" sagen, und zwar in doppelter Hinsicht:

einmal, was das Werk von Lilly Lindner betrifft und zum zweiten, was Du über die - wie Du es nennst - "Nuttenromane" schreibst.

Ich habe einmal die Autobiographie von Lisa Moos angelesen, weil der Verlag so töricht(?) war, eine Leseprobe davon ins Internet zu stellen. Bereits nach der dritten Seite war mir klar, dass ich mir dieses Buch nie kaufen würde. Bei Lilly Lindner liegen die Verhältnisse anders.

LG rainman

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Hilft Schreiben?

Beitrag von ehemaliger_User »

ZumThema "Verarbeiten durch Schreiben" berichtete die "Sonntag aktuell" am 16.10.2011:

Die Psychologin Elisabeth Marburg aus Bad Essen meint, die "Intensiv-Tagebuch-Therapie" sei hilfreich, Vergangenes zu verarbeiten.
Ein Forscherteam um Elaine Duncan von der Caledonian Univerity stellte allerdings fest, dass Tagebuchschreiber in vielerlei Hinsicht schlechter dran sind.
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