Was mich so betroffen gemacht hat, dass ich gleich die staatlichen Versuche diese Selbstheilungsstrategien auszubeuten angegriffen habe, ist die Tatsache, dass Lilly Lindner nicht wie so manche andere Autorin im Hinblick auf das "normale" bezahlende Publikum schreibt. Gerade was in der literaturpsychologisch analysierenden Rezension als "nicht wirklich nachvollziehbar" gewertet wird, ist typisch für die traumabedingte Spaltung.
Wobei Lilly ja mit ihrem Aktivwerden ja schon einen ganz wichtigen Schritt gegangen ist um das Trauma bzw seine Auswirkungen zu brechen, so dass auch das erklären könnte, warum sie mehr erinnert als der typische Traumatisierte.
Und doch scheint die Geschichte mit dem Nachbarn nicht der wahre Kern zu sein, nur so nahe dran wie sie es sich zumuten kann: Ihre Einschätzung ihrer Eltern und die Tatsache dass sie sich auch keinem anderen anvertrauen kann spricht IMHO Bände, da muss wohl schon vorher etwas vorgefallen sein, an das sie sich nicht erinnert. Auch das angegebene Alter von 6 Jahren bei dem Vorfall ist zumindest grenzwertig, nicht wirklich auszuschließen, aber die später entwickelte Symptomatik lässt vermuten, dass ihr Grundstein zumindest etwas früher gelegt wurde.
Lilly leidet ja offensichtlich nicht an einem "normalem" posttraumatischen Belastungssyndrom (flashbacks, Übererregung, Vermeidungsverhalten), das in jedem Alter ausgelöst werden kann, sondern zumindest an einem komplexen posttraumatischen Belastungssyndrom (entspricht in etwa der "Borderlinesymptomatik", Ende der verletzbaren Phase ca. mit dem 5. Geburtstag) oder auch an Borderlinepersönlichkeitsstörung (Ursache im Zeitraum vom 18. bis 24. Lebensmonat). Trotz allem "Erinnern" und "Bearbeiten" des Erinnerten vermute ich daher noch frühere Traumatisierungen, die ihr selbst völlig unbekannt sind.
Auch wenn dies natürlich nur meine Phantasien sind, bestenfalls als informed guess zu betrachten, so bleibt unabhängig von deren Richtigkeit auf alle Fälle Lilly's großartige Offenheit bezüglich ihres sich selbst nicht Verstehens. Und gerade dass sie nicht versucht das dem Durchschnittsleser nachvollziehbar zu erklären macht das Buch so glaubwürdig für mich.
Jetzt hätte ich fast geschrieben "wir alle kennen das ja" ... aber ich will natürlich niemanden vereinnahmen, also: Diejenigen von uns die beispielsweise ritzen, oder auch hungern oder kotzen, kennen das ja bestens, wir wissen ja auch nicht, warum wir das tun. Haben vielleicht eine glaubwürdige psychologische Erklärung dafür gehört und diese akzeptiert, aber wirklich "wissen" tun wir es nicht.
Oder auch dass Lilly "eigentlich" keinen Sex will und ihn gerade "deshalb" zum Beruf macht kann ich bestens nachvollziehen. Das ist für die normalen Leser hier vielleicht ein gutes Beispiel, was ich damit meine, wenn ich weiter oben geschrieben habe, dass nach dem Trauma nur noch dissoziierte Dinge geschehen. So gesehen ist es genaugenommen falsch, wenn die RezensentIn Normalität unterstellt und "Verdrängen" schreibt ... das können *wir* nämlich überhaupt nicht, Verleugnen ebensowenig, es läuft immer auf Abspalten, also dissoziieren als einzigen zur Verfügung stehenden psychischen Abwehrmechanismus hinaus.
Ebenfalls sehr schön zeigt sich, wie Trauma geschützt wird - völlig unabhängig davon, ob die Geschichte mit dem Nachbarn jetzt wirklich ursächlich für die folgende Entwicklung war oder nur die früheste Erinnerung darstellt die harmlos genug ist erinnert zu werden. Wie auch immer, Trauma wird durch Scham geschützt, dadurch kann es dann chronifizieren. Warum das so ist kann jeder selbst erleben, wenn er an die Rolle von Lilly's Eltern denkt. Da kommt doch massive Wut hoch, oder? Nur ein Kind kann sich diese Wut nicht erlauben, es braucht die Eltern zum Überleben (bitte: das ist das biologische Programm, Überlegungen bezüglich Jugendamt kommen da nicht vor). Dazu kommen kindliche Allmachtsphantasien (völlig normal in diesem Alter), das Kind "glaubt" also wenn es seine mörderische Wut rausläßt sind wirklich alle tot, also legt die Natur Schuldgefühle davor. Deshalb ist auch eine effektive Traumatherapie kein Spaziergang, der Therapeut muß nicht nur sehr viel Übertragungen aushalten können, er muß auch "abgebrüht" sein, wer in solch einer Situation moralisch wertet (auch wenn er es nicht offen ausspricht) retraumatisiert den Patienten - was im Extremfall nicht nur für den Patienten schlimm ausgehen kann.
Übrigens, Marc, dürfte daraus auch deutlich werden, warum der erste Teil deines post weiter oben absolut den Nagel auf den Kopf trifft: Wenn bei den Anonyma die Mama das als schlimmen, aber normalen Vorgang akzeptiert hat, so gibt es keinen Grund zur familienmörderischen Wut und somit auch nicht zu Trauma chronifizierenden Schamgefühlen.
So, ich hoffe das ich jetzt, nachdem ich mich anfangs zu einem ganz speziellen statement habe hinreißen lassen, vielleicht doch noch ein etwas runderes Bild abliefern konnte

Liebe Grüße, Aoife