LSG NRW - Entscheidungen zu Freizügigkeit von StraßenSW

Wo melde ich meinen Beruf an, mit welcher Steuerlast muss ich rechnen, womit ist zu rechnen, wenn ich die Anmeldung verabsäume, ... Fragen über Fragen. Hier sollen sie Antworten finden.
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Kasharius
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LSG NRW - Entscheidungen zu Freizügigkeit von StraßenSW

Beitrag von Kasharius »

Hier zwei interessante Urteile bzw. Beschlüsse des LSG NRW zu EU-Freizügigkeitsregelungen und deren Anwendung auf bulgarische SW die auf der Straße arbeiteten:

Sexarbeiter-Migrantinnen kämpfen vor den Sozial-Gerichten um Sozialhilfe und Prozesskostenhilfe





1. Fall
Sexarbeiterin wird HIV+
beantragt Sozialhilfe
reicht eine Steuererklärung nach
Streetworker bescheinigen Prostitutionstätigkeit
=> gewinnt den Prozess

2. Fall
Sexarbeiterin wird schwanger mit Komplikation
beantragt Sozialhilfe
=> verliert den Prozess, weil sie illegal/schwarz und weniger als 1 Jahr gearbeitet hat
(obwohl sie im Eros-Center Vorsteuer bezahlt hat)



1. Fall
Landessozialgericht NRW, L 19 AS 1071/12 B ER

Datum:
02.07.2012
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
19. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
L 19 AS 1071/12 B ER

Vorinstanz:
Sozialgericht Köln, S 17 AS 1232/12 ER
Sachgebiet:
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Rechtskraft:
rechtskräftig

Tenor:
Auf die Beschwerde der Antragstellerin [Sexarbeiterin] wird der Beschluss des Sozialgerichts Köln vom 04.05.2012 geändert. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig verpflichtet, der Antragstellerin ab dem 29.03.2012 bis zum 31.07.2012 Regelbedarf nach § 20 SGB II ["Sozialhilfe"] in Höhe von 374,00 EUR mtl. zu gewähren. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen. Der Antragsgegner hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu erstatten. Der Antragstellerin wird ab dem 15.06.2012 Prozesskostenhilfe ratenfrei bewilligt und Rechtsanwältin T, L, beigeordnet.

1
Gründe:
2
I.
3
Die am 00.00.1984 geborene Antragstellerin ist bulgarische Staatsangehörige [28jährige Sexworker-Migrantin]. Nach ihren Angaben hält sie sich seit ca. 2002 in der Bundesrepublik Deutschland auf, lebte in C, ca. fünf Jahre in G und seit etwa zwei Jahren in L. In der Zeit vom 05.08. bis 02.10.2007 war die Antragstellerin unter der Adresse U-weg 00, X gemeldet. Gegenüber der Meldebehörde in X gab sie an, dass sie am 00.00.2007 aus Bulgarien ersteingereist sei. Die Abmeldung erfolgte von Amts wegen. Eine Meldung der Antragstellerin in G liegt nach der telefonischen Auskunft des Einwohnermeldeamtes der Stadt G nicht vor. Am 20.03.2012 meldete sich die Antragstellerin unter der Adresse T-straße 00, L an. Wohnungsinhaber ist J T. Laut Vermerk der Meldebehörde gab die Antragstellerin an, dass sie vom U-weg 00, X zugezogen sei. Die Antragstellerin besitzt keine Freizügigkeitsbescheinigung nach § 5 Freizügigkeitsgesetz/EU (FreizügG/EU) und keine ArbeitserlaubnisEU/ArbeitsberechtigungEU nach § 284 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III).
4
Die Antragstellerin bestritt ihren Lebensunterhalt nach eigenen Angaben bis zum 01.02.2012 durch die Ausübung von Prostitution. Eine Mitarbeiterin der Arbeitsgemeinschaft gegen internationale sexuelle und rassistische Ausbeutung e.V. (B) bestätigte schriftlich, dass sie im Rahmen ihrer Tätigkeit als Streetworkerin seit Mai 2011 die Antragstellerin in den Jahren 2011 und 2012 auf dem Straßenstrich im L Süden bei der Ausübung der Prostitutionstätigkeit angetroffen habe. Unter dem 04.06.2012 fertigte die Antragstellerin eine Steuererklärung über Betriebseinnahmen aus Prostitution in Höhe von 8.400,00 im Jahr 2011 an. In der beigefügten Gewinnermittlung. gab sie u. a. an , dass sie in den Monaten Januar bis April 2011 Einkünfte von 610,00 EUR bis 820,00 EUR erzielt habe.
5
Nach der Diagnose einer HIV-Infektion Anfang Februar 2012 gab die Antragstellerin die Tätigkeit als Prostituierte auf. Zum 15.03.2012 meldete sie sich bei der Bundesagentur für Arbeit online arbeitsuchend. Als gewünschte Tätigkeit gab sie "Reinigungskraft" an. Sie sei seit dem 01.02.2012 voraussichtlich arbeitslos. Eine Bewerbung bei Arbeitgebern sei noch nicht erfolgt. Sie gehe nicht davon aus, in den nächsten drei Monaten eine Stelle zu finden.
6
[Antrag auf Sozialhilfe gestellt:] Am 10.02.2012 beantragte die Antragstellerin schriftlich beim Antragsgegner die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). In einem Telefon-Vermerk vom 14.02.2012 wurde festgehalten, dass nach Angaben der B sich die Antragstellerin "seit ein paar Wochen wieder in Deutschland" aufhalte. Durch Bescheid vom 15.02.2012 lehnte der Antragsgegner den Antrag unter Berufung auf § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ab.
7
[Widerspruch gegen Ablehnung des Antrages:] Hiergegen legte die Antragstellerin Widerspruch ein, den der Antragsgegner durch Widerspruchsbescheid vom 17.04.2012 zurückwies. Die Antragstellerin erhob Klage, S 17 AS 1761/12, vor dem Sozialgericht Köln mit dem Begehren, den Beklagten zur Gewährung von Leistungen nach dem SGB II zu verurteilen.
8
Am 14.06.2012 beantragte die Antragstellerin bei der Stadt L die Gewährung Leistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII). Sie gab an, dass sie sich vorübergehend bei einem Freund in O aufhalte, der sie mit Obdach und Essen versorge, bis sie ihre Ansprüche geklärt habe
9
Am 29.03.2012 hat die Antragstellerin einen Antrag auf Erlass einer Regelungsanordnung beim Sozialgericht Köln gestellt.
10
Sie hat die Auffassung vertreten, dass der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nicht eingreife. Sie sei freizügigkeitsberechtigt, da sie ihre Tätigkeit als Prostituierte unfreiwillig habe aufgeben müssen. Jedenfalls ergebe sich ein Leistungsanspruch aus der VO (EG) 883/2004 bzw. dem Europäischen Fürsorgeabkommen.
11
Sie habe ihren gewöhnlichen Aufenthalt in L. Sie sei von G nach L gezogen. In G sei sie gemeldet gewesen. Der Bordellbetreiber habe sie angemeldet und Steuern für sie abgeführt. Diese seien über die "Miete" für das Zimmer abgerechnet worden. Sie habe zunächst in L in einem Hotel für Wohnungslose gewohnt und im März 2012 bei Freunden, C Straße, L, übernachtet. Ab 15.03.2012 habe sie mit einigen Bekannten eine Wohnung angemietet. Sie habe am 20.04.2012 diese Wohnung verlassen, da sie nicht in der Lage gewesen sei, die Miete zu zahlen. Seit dem 20.04.212 übernachte sie bei einer Freundin, B-straße 00, L.
12
Der Antragsgegner hat dargelegt, dass die Antragstellerin keiner Erwerbstätigkeit nachgehe, so dass davon auszugehen sei, dass sie sich lediglich zum Zwecke der Arbeitssuche in der Bundesrepublik Deutschland aufhalte.
13
Durch Beschluss vom 04.05.2012 hat das Sozialgericht Köln den Antrag abgelehnt. Auf die Gründe wird Bezug genommen.
14
Am 04.06.2012 hat die Antragstellerin Beschwerde eingelegt.
15
Sie verfolgt ihr Begehren weiter.
16
Sie trägt vor, dass sie aktuell bei Herrn M, F-straße 00, übernachte, zu dem sie eine eher schwierige Beziehung unterhalte. Ihre Kleidung und persönlichen Gegenstände seien noch in der Wohnung ihrer Freundin, B-straße 00, L. Sämtlich Korrespondenz werde über den B e.V. in L geführt. Sie habe ihre gewöhnlichen Wohnsitz nicht in O.
17


II.
18
Die Beschwerde ist zulässig und teilweise begründet.
19
Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruches (d. h. eines materiellen Anspruchs, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird) sowie das Vorliegen des Anordnungsgrundes (d.h. der Unzumutbarkeit, bei Abwägung aller betroffenen Interessen die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten) voraus. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund bzw. die besondere Eilbedürftigkeit sind glaubhaft zu machen (§ 86 Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung - ZPO -).
20
Einen Anordnungsgrund hinsichtlich der Übernahme der Kosten für Unterkunft und Heizung nach § 22 SGB II hat die Antragstellerin nicht glaubhaft gemacht. Ein solcher kann nur bejaht werden, wenn der Antragstellerin schwere und unzumutbare Nachteile drohen, die durch die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr revidiert werden können. Anhaltspunkte für eine aktuelle Gefährdung der Unterkunft der Antragstellerin ergeben sich weder aus dem Akteninhalt noch aus dem Vortrag der Antragstellerin, zumal aus dem pauschalen Vortrag der Antragstellerin nicht ersichtlich ist, dass überhaupt Kosten für Unterkunft und Heizung seit der Antragstellung bei Gericht angefallen sind.
21
Ein Anordnungsanspruch und - grund auf Gewährung eines Regelbedarfs nach § 20 SGB II als Alleinstehende in Höhe von 374,00 EUR nach § 20 SGB Abs. 2 II ist ab Antragstellung bei Gericht glaubhaft gemacht.
22
Die Antragsstellerin hat das 15 Lebensjahr vollendet und die Altergrenze des §§ 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, 7a SGB II noch nicht erreicht. Sie ist hilfebedürftig i.S.v. § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB II. Insoweit nimmt der Senat auf die zutreffenden Ausführungen des Sozialgerichts Bezug. Die von Herrn M nach Angaben der Antragstellerin zur Verfügung gestellte Kost und Logis ist nicht als Einkommen zu berücksichtigen (vgl. BSG Urteil 20.12.2011 - B 4 AS 46/11 R = juris Rn 17).
23
Die Antragstellerin hat ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik glaubhaft gemacht (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II). Dabei kann dahinstehen, ob die Auffassung der Bevollmächtigten zutrifft, dass für die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts i.S.d. § 7 Abs. 1 SGB II allein die tatsächlichen Umstände maßgebend sind, oder ob der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts bereichsspezifisch dahin auszulegen ist, dass ein prognostisch auf Dauer gesicherter Aufenthalt zu fordern ist, der ein Erreichen des Regelungsziels des SGB II - Beseitigung der Bedürftigkeit durch die Aufnahme einer Tätigkeit mit existenzsichernden Ertrag - ungefährdet erscheinen lässt (vgl. hierzu LSG NRW Beschluss vom 22.06.2012 - L 19 AS 845/12 B ER). Auch wenn für die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts i.S.v. § 7 Abs. 1 Satz 12 Nr. 4 SGB II gefordert wird, dass einem Ausländer ein Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik zusteht, hat die Antragstellerin das Bestehen eines solchen Aufenthaltsrechts glaubhaft gemacht. Glaubhaftmachung bedeutet das Dartun der überwiegenden Wahrscheinlichkeit, d. h. vorliegend die gute Möglichkeit, dass ein Aufenthaltsrecht der Antragstellerin nach dem FreizügG/EU besteht, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können. Es genügt, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist, weil nach Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit spricht (vgl. zum Begriff der Glaubhaftmachung: BSG Beschluss vom 07.04.2011 - B 9 VG 15/10 B -). Zwar verfügt die Antragsstellerin nicht über eine Freizügigkeitsbescheinigung nach § 5 FreizügG/EU (vgl. hierzu BSG Urteil vom 25.01.2012 - B 14 AS 138/11 R = juris Rn 17 m.w.N). Jedoch ist das Bestehen eines Aufenthaltsrechts der Antragstellerin nach § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB II FreizügG/EU hinreichend wahrscheinlich. Danach bleibt das Recht nach Abs. 1 - Einreise und Aufenthalt von Staatsangehörigen anderer Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (Unionsbürger) - für Arbeitnehmer und selbständig Erwerbstätige unberührt bei unfreiwilliger durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigter Arbeitslosigkeit oder Einstellung einer selbständigen Tätigkeit infolge Umständen, auf die der Selbständige keinen Einfluss hatte, nach mehr als einem Jahr Tätigkeit.
24
Das Sozialgericht hat zutreffend festgestellt, dass nach derzeitiger Aktenlage die Antragstellerin zum Zeitpunkt der Aufgabe ihrer Tätigkeit als Prostituierte nicht abhängig beschäftigt und keine Arbeitnehmerin i.S.v. § 2 FreizügG/EU war (vgl. zu den Anforderungen an eine abhängige Beschäftigung zur Begründung des Arbeitnehmerstatus: BSG Urteil vom 16.10.2010 - B 14 AS 23/10 R - m.w.N.).
25
Jedoch ist die Antragsstellerin bis Anfang Februar 2012 selbständig tätig gewesen. Denn sie übte als Straßenprostituierte eine selbständige Erwerbstätigkeit aus. Die tatsächliche Ausübung einer Tätigkeit als Straßenprostituierte ist durch die eigenen Angaben der Antragstellerin, die eine Streetworkerin, deren Einsatzbereich der Straßenstrich im L Süden war, bestätigt hat, hinreichend belegt. Die Tätigkeit wurde entgeltlich erbracht und stellte auch einen Teil des Wirtschaftslebens dar (vgl. zu dazu OVG Bremen, Beschluss vom 21.06.2010 - 1 B 137/10 = juris 7 m.w.N.; EuGH Urteil vom 20.11.2011 - C -268/99 Jany = NVwZ 2002, 327). Im Hinblick auf den in der Steuererklärung angegeben Gewinn von 8.400,00 EUR im Jahr 2011 handelte es sich nicht um eine völlig untergeordnete und unwesentliche Tätigkeit. Eine Deckung des Existenzminimums durch den Gewinn aus der selbständigen Tätigkeit ist nicht erforderlich (BSG Urteil vom 16.10.2010 - B 14 As 23/10 R = juris Rn 19). Auch ist die Kontinuität dieser Tätigkeit hinreichend belegt.
26
Die selbständige Tätigkeit als Straßenprostituierte begründet zwar nicht ein Aufenthaltsrecht der Antragstellerin als niedergelassene selbständige Erwerbstätige nach § 2 Abs. 2 Nr. 2 SGB II, da eine solche [selbständige] Tätigkeit eine feste Einrichtung bezogen auf die selbständige Tätigkeit, d. h. eine organisatorisch verfestigte Existenz, erfordert (BSG Urteil vom 19.10.2010 - B 14 AS 23/10 R = juris Rn 19; vgl auch VG Gelsenkirchen Beschluss vom 21.10.2011 - 16 L 874/11 - zur Ausübung von Straßenprostitution). Die Existenz einer solchen Niederlassung, wie z. B. durch Anmietung eines Raums, ist im Fall der Antragstellerin zumindest im Hinblick auf die zuletzt ausgeübte Tätigkeit nicht belegt.
27
Es spricht aber viel dafür, dass die Antragstellerin bei der Ausübung der Tätigkeit als Prostituierte auf dem Straßenstrich in L ein Aufenthaltsrecht nach § 2 Abs. 2 Nr. 3 FreizügigG/EU hatte. Danach sind Unionsbürger, die, ohne sich niederzulassen, als selbständige Erwerbstätige Dienstleistungen im Sinne des Artikels 50 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft erbringen, freizügigkeitsberechtigt, wenn sie zur Erbringung der Dienstleistung berechtigt sind. Es spricht viel dafür, dass die Vorschrift des § 2 Abs. 2 Nr. 3 FreizügG/EU nicht nur Selbständige, die die gemeinschaftsrechtliche Dienstleistungsfreiheit nach Art. 56 AUEV , in Anspruch nehmen - also Unternehmer, die Leistungen außerhalb des Staates ihrer Niederlassung erbringen - erfasst (so VG Gelsenkirchen Beschluss vom 21.10.2011 - 16 L 874/11 - m.w.N.; LSG Hessen Beschluss vom 13.09.2007 - L 9 AS 44/07 ER), sondern auch selbständigen Erwerbstätige ohne Niederlassung, die sich ständig in einem Aufnahmemitgliedstaat aufhalten. Denn mit dem FreizügG/EU wird die Unionsbürgerrichtlinie RL 2004/38 EG vom 29.04.2004 in nationales Recht umsetzt. Diese Richtlinie regelt das in Art. 21 AUEV statuierte Freizügigkeitsrecht von Unionsbürgern und sieht ein abgestuftes System der Aufenthaltsrechte vor (vgl. EuGH Urteil vom 21.12.2011 - C - 424/10 - und C - 425/10). Nach Art. 7 Abs. 1 Nr. a der Unionsbürgerrichtlinie RL 2004/38 EG vom 29.04.2004 hat jeder Unionsbürger das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaates für einen Zeitraum von über drei Monaten, wenn er Arbeitnehmer oder Selbständiger im Aufnahmemitgliedsstaat ist. In der Richtlinie wird nicht zwischen Selbständigen mit Niederlassung und ohne Niederlassung unterschieden. Ob der in Art. 7 der RL 2004/38 EG verwandte Begriff "Selbständiger" nunmehr im Hinblick auf die in Art. 49 AEUV (seit dem 01.12.2009 in Kraft) geregelte Niederlassungsfreiheit (siehe hierzu Müller-Graff in Streinz, EUV/AEUV, 2 Aufl., § 49 AuEV , insbesondere Rn 17ff) und die in Art. 56 AEUV geregelte Dienstleistungsfreiheit Selbständige ohne Niederlassung mit ständigem Aufenthalt nicht erfassen soll, ist offen. Insoweit spricht viel dafür, die Vorschrift des § 2 Abs. 2 Nr. 3 FreizügG/EU europarechtskonform dahingehend auszulegen, dass sie auch auf selbständige Unionsbürger ohne Niederlassung, die sich ständig im Aufnahmemitgliedstaat aufhalten, bezieht, zumal die Ausübung einer selbständigen Tätigkeit im heutigen Wirtschaftsleben nicht zwangsläufig die Innehabung einer festen Niederlassung bedingt. Die Ausübung der Prostitution ist vom Schutzbereich europarechtlicher Vorschriften erfasst (vgl. EuGH Urteil vom 20.11.2001 - C-268/99, Jany u.a., a.a.O.; BVerwG, Beschluss vom 24.10.2002 - 1 C 31/02). Die Antragstellerin übte nach derzeitiger Aktenlage ihre selbständige Tätigkeit auch erlaubt aus, da nicht erkennbar ist, dass sie diese in einem Sperrbezirk ausgeübt hat. Die Ausübung von Prostitution ist generell in der Bundesrepublik nicht verboten (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 06.05.2009 - B 11 AL 11/08 R). Mithin hatte die Antragstellerin während der Ausübung der Tätigkeit als Straßenprostituierte ein Aufenthaltsrecht nach § 2 Abs. 2 Nr. 3 FreizügG/EU inne.
28
Die Antragstellerin stellte ihre selbständige Tätigkeit Anfang Februar 2012 ein infolge von Umständen, nämlich der Diagnose einer HIV-Infektion, auf die sie keinen Einfluss hatte.
29
Nach der im einstweiligen Rechtschutzverfahren möglichen Prüfungsdichte übte die Antragstellerin, ihre das Freizügigkeitsrecht nach § 2 Abs. 2 Nr. 3 FreizügG/EU begründende Tätigkeit vor Einstellung ihrer Tätigkeit mehr als ein Jahr aus. Die vorgelegte Steuererklärung für das Jahr 2011 weist die Erzielung von Einnahmen aus Prostitution in jedem Monat dieses Jahres aus. Die schriftliche Erklärung der Streetworkerin bestätigt die Angaben der Antragstellerin zu ihrer Tätigkeit bis zur Diagnose einer HIV-Infektion. Damit ist zur Überzeugung des Senats hinreichend belegt, dass die Antragstellerin vor Einstellung ihrer selbständigen Tätigkeit Anfang Februar 2012 mehr als ein Jahr als selbständige Prostituierte in der Bundesrepublik tätig war. Die im Telefonvermerk festgehaltenen Angaben des B e.V., wonach sich die Antragstellerin "seit ein paar Wochen wieder in Deutschland" aufhalte, begründen zwar Zweifel an der Kontinuität der Ausübung der Straßenprostitution durch die Antragstellerin. Dies genügt aber nicht, um eine Glaubhaftmachung der Dauer der selbständigen Tätigkeit zu verneinen. Insoweit sind diese Zweifel im Hauptsacheverfahren etwa durch die Befragung der Antragstellerin und der Mitarbeiter des B e.V. zu klären.
30
Die Erwerbsfähigkeit der Antragstellerin i.S.v. § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, 8 SGB II ist gegeben (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, 8 SGB II). Dem Sachverhalt sind keinerlei Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Krankheit, die sie an der Ausübung einer Erwerbstätigkeit unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes für mindestens drei Stunden täglich hindern könnten, zu entnehmen. Allein die Diagnose einer HIV-Infektion begründet nicht die Annahme einer Erwerbsunfähigkeit i.S.v. § 8 Abs. 1 SGB II.
31
Nach der im einstweiligen Rechtschutzverfahren möglichen Prüfungsdichte ist die Antragstellerin auch erwerbsfähig i.S.v. § 8 Abs. 2 SGB II. Danach können Ausländer nur erwerbsfähig i.S.v. § 8 Abs. 1 SGB II sein, wenn ihnen die Aufnahme einer Beschäftigung erlaubt ist oder erlaubt werden könnte. Die rechtliche Möglichkeit, eine Beschäftigung vorbehaltlich einer Zustimmung nach § 39 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) aufzunehmen, ist ausreichend (Satz 2). Als bulgarische Staatsangehörige benötigt die Antragstellerin zur Beschäftigungsaufnahme in der Bundesrepublik bis zum 31.12.2013 grundsätzlich eine sog. Arbeitsgenehmigung/EU nach § 284 SGB III von der Bundesagentur für Arbeit (§ 13 FreizügG/EU, vgl. zur Rechtlage für bulgarische Staatsangehörige: LSG Niedersachsen-Bremen Beschluss vom 23.05.2012 - L 9 AS 47/12 B ER). Dies kann in Form einer unbefristeten ArbeitsberechtigungEU nach § 284 Abs. 5 SGB III i.V.m. § 12a ArGV nach einer mindestens einjährigen Beschäftigung auf dem deutschen Arbeitsmarkt oder einer befristeten Arbeitserlaubnis/EU nach § 284 Abs. 3 SGB III i.V.m. § 39 Abs. 2-4 u. 6 AufenthG erfolgen (siehe Hackenthal in juris-LPK, § 8 SGB II Rn 34). Die Antragstellerin hat zwar bislang weder eine ArbeitserlaubnisEU/ArbeitsberechtigungEU nach § 284 SGB III beantragt noch ist sie im Besitz einer solchen. Nach § 8 Abs. 2 Satz 1 2. Alt., Satz 2 SGB II kann aber eine Beschäftigung erlaubt werden und damit die rechtliche Erwerbsfähigkeit gegeben sein, wenn für den Ausländer, orientiert am Maßstab des Arbeitsgenehmigungsrechts eine abstrakt-generelle Aussicht auf Erteilung einer solche Erlaubnis besteht, also die Bundesagentur einer Beschäftigungsaufnahme "zumindest rechtlich-theoretisch" zustimmen könnte (vgl. BT-Drs. 17/3404 S. 93; LSG Hessen Beschluss vom 06.09.2011 - L 7 AS 334/11 B ER -; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 17.05.2011 - L 28 AS 566/11 B ER). Da sich die Antragstellerin für eine Tätigkeit als Reinigungskraft arbeitssuchend gemeldet hat und nach Aktenlage auch über keine für den Arbeitsmarkt relevante Berufsqualifikation verfügt, kommt allenfalls eine Erteilung einer Arbeitsleistung/EU für Beschäftigungen ohne qualifizierte Berufsausbildung nach § 284 Abs. 3 SGB III i.V.m. § 39 Abs. 2 bis 4 und 6 AufenthG in Betracht, die eine Vorrangprüfung beinhaltet. Neue Unionsbürger, wie z. B. die Antragstellerin, sind zwar gegenüber Drittstaatenangehörigen vorrangig, gegenüber inländischen Arbeitskräften und Staatsangehörigen aus den alten EU-Mitgliedstaaten aber nachrangig zu behandeln. Ob rechtlich-theoretisch eine Möglichkeit der Erteilung einer Arbeitsleistung/EU für eine Beschäftigung als Reinigungskraft oder für eine sonstige Tätigkeit ohne qualifizierte Berufsausbildung im Hinblick auf den Arbeitsmarkt nach § 284 Abs. 3 SGB III im vorliegenden Fall besteht, ist nach derzeitiger Aktenlage offen. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass in der Rechtsprechung und Literatur auch die Auffassung vertreten wird, dass § 8 Abs. 2 SGB II nicht eingreift, wenn ein Antragsteller ein von der Arbeitsuche unabhängiges Recht auf Freizügigkeit erworben hat (vgl. LSG Berlin- Brandenburg Beschluss vom 20.05.2008 - L 15 B 54/08 SO ER -; Hackenthal in juris-LPK, § 8 SGB II Rn 34).
32
Da die Antragstellerin das Bestehen eines Aufenthaltsrechts nach § 2 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 FreizügG/EU glaubhaft gemacht hat, greift der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nicht ein. Klarstellend weist der Senat daraufhin, dass er seine Rechtsprechung auch unter Berücksichtigung des Gleichbehandlungsgebotes nach Art. 4 der VO (EG) 883/2004 aufrecht hält, dass der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II bei bulgarischen Staatsangehörigen ohne ArbeitserlaubnisEU/ArbeitsberechtigungEU nach § 284 SGB III eingreift, wenn als Aufenthaltszweck allein der der Arbeitsuche in Betracht kommt (vgl. LSG NRW Beschluss vom 22.06.2012 - L 19 AS 845/12 B ER).
33
Mithin ist das Vorliegen Leistungsvoraussetzungen des § 7 SGB II glaubhaft gemacht. Der Anspruch auf Regelbedarf als Alleinstehende nach § 20 Abs. 2 SGB II beläuft sich seit dem 01.02012 auf 374,00 EUR. Nach Aktenlage ist der Antragsgegner auch bislang örtlich für die Leistungserbringung nach § 36 SGB II zuständig.
34
Besteht demnach dem Grunde nach mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Anordnungsanspruch für die Antragstellerin, hat wegen der bestehenden Existenzgefährdung für die Antragstellerin, das Erstattungsrisiko des Antragsgegners bei der gebotenen Folgenabwägung zurückzustehen.
35
Der Senat hat die vorläufige Leistungsverpflichtung des Antragsgegners auf den 31.07.2012 begrenzt. Maßgebend dafür ist, dass nicht abzusehen ist, ob sich die Antragstellerin weiter im Zuständigkeitsbereich des Antragsgegners aufhält. Auch ist das Ergebnis der weiteren Ermittlungen hinsichtlich des Aufenthaltsrechts und der rechtlichen Erwerbsfähigkeit der Antragstellerin nach dem FreizügG/EU, der örtlichen Zuständigkeit des Antragsgegners sowie des Eingreifens des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 4a SGB II abzuwarten. Insoweit ist die Antragstellerin verpflichtet, an der Aufklärung des Sachverhalts, z.B. durch persönliche Vorsprache beim Antragsgegner mitzuwirken.
36
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG. Dabei hat der Senat unter Beachtung des Veranlassungsgrundsatzes berücksichtigt, dass die Antragstellerin erst im Beschwerdeverfahren ihren Vortrag hinsichtlich der Ausübung einer Tätigkeit als Prostituierte von mehr als einem Jahr durch die Vorlage einer Gewinnermittlung zu den Einkünften aus gewerblicher Tätigkeit substantiiert hat.
37
Der Antragstellerin wird Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren ab dem 15.06.2012 bewilligt und Rechtsanwältin T beigeordnet. Die Rechtsverfolgung bietet hinreichende Aussicht i.S.v. § 73a SGG i.V.m. § 114 ZPO. Der Prozesskostenhilfeantrag ist am 15.06.2012 mit der Vorlage der Erklärung der Antragstellerin über ihre persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse bewilligungsreif gewesen (vgl. zum Begriff der Bewilligungsreife: BVerfG Beschluss vom 14.04.2010 - 1 BvR 362/10 - m.w.N.).
38
Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 177 SGG.


http://www.justiz.nrw.de/nrwe/sgs/lsg_n ... 20702.html





[hr]





2. Urteil (anderer Fall)


Landessozialgericht NRW, L 12 AS 531/12 B ER

Datum:
20.08.2012
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
12. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
L 12 AS 531/12 B ER

Vorinstanz:
Sozialgericht Köln, S 17 AS 736/12 ER
Sachgebiet:
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Rechtskraft:
rechtskräftig

Tenor:
Auf die Beschwerde des Antragsgegners [der Sozialbehörde] wird der Beschluss des Sozialgerichts Köln vom 19.03.2012 geändert [so daß das Sozialamt doch kein Geld an die Sexarbeiterin zahlen muß]. Der Antrag [der Sexarbeiterin] auf Erlass einer einstweiligen Anordnung [auf Zahlung von Sozialhilfe] wird abgelehnt. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

1
Gründe:

I.
3
Die 1992 in Bulgarien geborene Antragstellerin [20jährige Sexarbeiter-Migrantin aus Bulgarien] reiste im April 2011 nach Deutschland ein. Sie verfügt über keine Freizügigkeitsbescheinigung, auch wurde ihr nach Auskunft der zuständigen Ausländerbehörde der Stadt T, wo sie sich zunächst anmeldete, kein sonstiger Aufenthaltstitel erteilt. In T arbeitete sie zunächst als Prostituierte auf dem Straßenstrich. Nachdem die Antragstellerin in der Stadt T am 22.08.2012 von Amts wegen abgemeldet wurde, zog sie nach I. In I, wo sie nach ihren eigenen Angaben überhaupt nicht gemeldet war, arbeitete sie als Sexarbeiterin in einem Eros-Center und zahlte pauschal Steuern. Im Winter 2011 reiste sie nach L, wo sie wiederum als Prostituierte auf dem Straßenstrich tätig war. Auch in L war die Antragstellerin nicht gemeldet und verfügte auch nicht über einen festen Wohnsitz. Aufgrund einer Risikoschwangerschaft mit errechnetem Entbindungstermin am 01.04.2012 war sie aufgrund einer Bescheinigung des Gesundheitsamtes der Stadt L spätestens seit Januar 2012 arbeitsunfähig erkrankt.
4
Am 14.02.2012 beantragte sie die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II beim Antragsgegner. Nach ihren eigenen Angaben lebte sie bislang von ihren Einkünften, die jedoch zwischenzeitlich verbraucht seien. Seitdem habe sie nach ihren Angaben von der (Arbeitsgemeinschaft gegen internationale sexuelle und rassistische Ausbeutung e.V. [ www.agisra.de Köln]) sowie von Kolleginnen Notunterstützung erhalten. Die Beigeladene vermittelte ihr eine Unterkunft im Hotel U für Obdachlose. Die Kosten hierfür betragen 21,00 EUR täglich.
5
Am 23.02.2012 stellte sie einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung beim Sozialgericht Köln. Aufgrund der Schwangerschaft und der bestehenden Arbeitsunfähigkeit könne sie ihrer beruflichen Tätigkeit nicht nachgehen.
6
Das Sozialgericht Köln hat die Stadt L - Amt für Soziales und Senioren - beigeladen und sodann den Antragsgegner mit Beschluss vom 19.03.2012 verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig bis 31.05.2012 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II zu gewähren. Der Antragstellerin seien unter Berücksichtigung ihrer grundrechtlichen Belange nach einer Folgenabwägung die begehren Leistungen vorläufig zu bewilligen. Im Rahmen des Verfahrens auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes vermöge das Gericht nicht abschließend zu klären, ob die Antragstellerin einen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II habe. Die Antragstellerin gehöre zwar zum bezugsberechtigten Personenkreis der Leistungen des SGB II, sie sei erwerbsfähig - die Schwangerschaft und die dadurch bedingte Arbeitsunfähigkeit stünden dem nicht entgegen - und auch hilfebedürftig (§ 7 Abs.1 Satz 1 Nr. 1 bis 3 Sozialgesetzbuch (SGB) II). Problematisch sei jedoch die Frage des gewöhnlichen Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II). Mit Urteil vom 16.05.2007 habe das BSG entschieden, dass Ausländer nur dann ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne der genannten Vorschrift in Deutschland hätten, wenn sie über einen Aufenthaltstitel verfügten, der den persönlichen Aufenthalt zulasse (Urteil vom 16.05.2007 - B 11 b AS 37/06 - ).
7
Ein Freizügigkeitsrecht der Antragstellerin ergeben sich nicht aus § 2 Abs. 2 Nr. 5 i. V. m. § 4 Freizügigkeitsgesetz (FreizügG/EU), weil sie über keinen ausreichenden Krankenversicherungsschutz oder sonstige ausreichende Existenzmittel verfüge. Ebenso wenig ergebe sich das Aufenthaltsrecht aus § 4 a FreizügG/EU, weil die Antragstellerin sich seit einem Jahr in Deutschland aufhalte.
8
Das Bestehen eines Aufenthaltsrechts der Antragstellerin aus einer Arbeitnehmereigenschaft bzw. einer selbständigen Tätigkeit (§ 2 Abs. 2 Nr. 1 und 2 FreizügG/EU) lasse sich im Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nicht abschließend klären. Zum Zeitpunkt der Antragstellung am 14.02.2012 habe die Antragstellerin weder eine selbständige Tätigkeit ausgeübt noch habe ein Beschäftigungsverhältnis bestanden. Die Antragstellerin habe glaubhaft gemacht, dass sie aufgrund der Risikoschwangerschaft arbeitsunfähig erkrankt sei. Eine durch die Bundesagentur für Arbeit (BA) erteilte Arbeitsgenehmigung nach § 284 SGB III habe die Antragstellerin nicht vorgelegt. Glaubhaft gemacht habe sie hingegen, dass sie seit ihrer Einreise in die Bundesrepublik im April 2011 durchgängig bis zum 5. Monat ihrer Schwangerschaft als Prostituierte tätig gewesen sei. Ferner habe sie glaubhaft gemacht, in I in einem Eros-Center gearbeitet und pauschal Steuern entrichtet zu haben. Ob es sich bei den ausgeübten Tätigkeiten als Prostituierte in T, I und L um eine selbständige Tätigkeit gehandelt habe, die sie infolge Krankheit vorübergehend nicht habe ausüben können, woraus sich dann ein Aufenthaltsrecht aus § 2 Abs.2 Nr. 1 bzw. Nr. 2 FreizügG/EU ergeben würde, sei im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nicht aufklärbar. Hierzu seien Maßnahmen erforderlich, die im Eilverfahren nicht geleistet werden könnten. Die Antragstellerin dürfte jedoch freizügigkeitsberechtigt sein zum Zwecke der Arbeitssuche nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 Alternative 1 FreizügG/EU. Nach dieser Vorschrift sei ein arbeitsuchender EU-Bürger so lange freizügigkeitsberechtigt, wie er mit begründeter Aussicht auf Erfolg unter Berücksichtigung eines angemessenen Zeitraums Arbeit suche (LSG NRW, Beschluss vom 30.05.2011 - L 19 AS 388/11 B ER -). Von der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts zur Arbeitssuche sei solange auszugehen, bis die Ausländerbehörde von ihrem Recht Gebrauch mache, den Verlust oder das Nichtbestehen des Aufenthaltsrechts nach § 5 Abs. 5 FreizügG/EU festzustellen (BSG, Urteil vom 19.10.2010 - B 14 AS 23/10 R - a.a.O. LSG NRW Beschluss vom 30.05. 2011 - L 19 AS 388/11 B ER -). Die Antragstellerin habe glaubhaft gemacht, zum Zwecke der Arbeitssuche in die Bundesrepublik eingereist zu sein und trotz ihrer Tätigkeiten als Prostituierte mit der Antragstellung beim Antragsgegner im Februar 2012 zum Ausdruck gebracht zu haben, eine Beschäftigung in der Bundesrepublik Deutschland aufnehmen zu wollen. Ob die Antragstellerin vom Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB XII erfasst werde, lasse sich im Verfahren auf vorläufigen Rechtsschutz ebenfalls nicht klären. Die Rechtmäßigkeit für diese Vorschrift sei umstritten, auch die Kammer habe erhebliche Zweifel an der Vereinbarkeit des Leistungsausschlusses mit dem Gemeinschaftsrecht der Europäischen Union. Der Leistungsausschluss sei insbesondere nicht nur für alte EU-Bürger streitig, sondern auch für Mitglieder der neuen EU-Mitgliedstaaten (LSG NRW, Beschluss vom 30.05.2011 - L 19 AS 388/11 B - und vom 07.10.2011 - L 19 AS 1560/11 B -). Hier werde von einem Leistungsausschluss nicht vollständig freizügigkeitsberechtigter EU-Bürger ausgegangen (a. a. Hessisches LSG, Beschluss vom 14.07.2011 - L 17 AS 107/11 B ER -). Lasse sich in einem Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes die Sach- und Rechtslage nicht abschließend beurteilen, sei nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Lichte des Artikel 19 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG) zu entscheiden. Es seien die Folgen abzuwägen, die eintreten würden, wenn die begehrte Anordnung nicht erginge, der Rechtsuchende im Hauptsacheverfahren aber obsiegen würde und den Nachteilen gegenüber zu stellen, die entstünden, wenn die Anordnung erlassen würde, der Rechtsuchende im Hauptsacheverfahren indes keinen Erfolg hätte (BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005 - 1 BvR 569/05 -). Die so vorzunehmende Folgenabwägung falle zugunsten der Antragstellerin aus, da ihr existenzielle Nachteile drohten, im Übrigen sei sie aufgrund der bestehenden Risikoschwangerschaft und der bevorstehenden Entbindung auf einen Krankenversicherungsschutz angewiesen. Für die Gewährung der Leistungen liege auch ein Anordnungsgrund vor, da ihr ein Abwarten in der Hauptsache nicht zumutbar sei. Ohne die Gewährung der Leistungen würde der Antragstellerin die Lebensgrundlage entzogen. Ihr seien daher ab Eingang des Antrags bei Gericht Leistungen nach dem SGB II zu bewilligen gewesen. Die Gewährung der Leistungen sei bis zur Beendigung des Mutterschutzes, also 8 Wochen nach dem errechneten Geburtstermin am 01.04.2012 und damit bis 31.05.2012 zu beschränken. Der Höhe nach seien der Antragstellerin die Regelleistung zu gewähren sowie ein pauschalierter Mehrbedarf für Schwangere und die Kosten der Unterkunft in Höhe von 21,00 EUR täglich.
9
Gegen den ihm am 21.03.2012 zugestellten Beschluss richtet sich die Beschwerde des Antragsgegners vom 21.03.2012. Die Antragstellerin habe entgegen den Ausführungen des Sozialgerichts die von ihr gemachten Angaben nicht glaubhaft gemacht. Ihr Aufenthaltsrecht ergebe sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche, weil die weiteren in § 2 FreizügG/EU normierten Alternativen nicht eingreifen würden. Sie habe insbesondere nicht glaubhaft gemacht, in der Bundesrepublik beschäftigt gewesen oder einer selbständigen Tätigkeit nachgegangen zu sein. Für die Glaubhaftmachung sei zumindest erforderlich, eine schlüssige Geschichte der persönlichen Umstände vorzutragen. Dies sei jedoch unterblieben, denn im Termin zur Erörterung des Sachverhalts habe sich die Antragstellerin, sofern sie sich überhaupt geäußert habe, auch vielfach widersprochen. Damit sei der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nicht widerlegt worden. Im Übrigen ergebe sich auch ein Leistungsausschluss aus § 7 Abs. 1 Nr. 2 i. V. m. § 8 Abs. 2 SGB II, weil eine Nähe zum Arbeitsmarkt nicht gegeben sei, denn die Antragstellerin habe überhaupt keine Kenntnisse der deutschen Sprache. Damit sei auch die Wahrscheinlichkeit der Erteilung einer Arbeitserlaubnis nicht gegeben.
10
Die Antragstellerin hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend und ist darüber hinaus der Ansicht, der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II sei nicht europarechtskonform.
11
Wegen der weiteren Darstellung des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der dem Senat vorliegenden Unterlagen, die Gegenstand der Entscheidung gewesen sind, Bezug genommen.
12



II.
13
Die Beschwerde ist zulässig und in vollem Umfang begründet.
14
Zu Unrecht hat das Sozialgericht den Antragsgegner [das Sozialamt] im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin [Sexarbeiterin] Leistungen nach dem SGB II zu erbringen, denn die Antragstellerin hat einen Anordnungsanspruch, der Voraussetzung für den Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ist, nicht hinreichend glaubhaft gemacht.
15
Der Antragstellerin mangelt es am gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland als Anspruchsvoraussetzung nach § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II für den Leistungsbezug.
16
Nach § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I hat jemand seinen gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Dieser Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts wird nach der Rechtsprechung des BSG nicht einheitlich für sämtliche Bücher des SGB ausgelegt, sondern ist jeweils nach der konkreten rechtlichen Bedeutung und dem Sinn und Zweck der Norm, die den Begriff verwendet, auszulegen (Einfärbungslehre). Entscheidungen und Begriffsbestimmungen zum gewöhnlichen Aufenthalt, die aus anderen Gesetzen stammen oder sich auf anders geartete Materien beziehen, können nur mit Zurückhaltung auf weitere Sachgebiete übertragen werden. Die Frage, wann ein Ausländer seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat, wird für den Bereich verschiedener Sozialgesetze unterschiedlich beantwortet. Für den hier maßgeblichen Bereich der Leistungen der Grundsicherung nach dem SGB II hat das BSG, worauf das Sozialgericht zutreffend hingewiesen hat, entschieden, dass Ausländer nur dann ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne von § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II in Deutschland haben, wenn sie über einen Aufenthaltstitel verfügen, der den persönlichen Aufenthalt zulässt (BSG, Urteil vom 17.05.2007 - B 11 b AS 37/06 -).
17
Eine wie auch immer geartete Aufenthaltserlaubnis wurde der Antragstellerin nach Auskunft der Ausländerbehörde der Stadt T nie erteilt.
18
Nach dem FreizügigG/EU nach der gültigen Fassung vom 12.04.2011 (Bundesgesetzblatt BGBl. I 610) ist die Antragstellerin - zumindest für die Zeit ab Antragstellung bei Gericht am 03.04. 2012 - nicht freizügigkeitsberechtigt.
19
Nach § 2 Abs. 1 FreizügigG/EU haben freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger und ihre Familienangehörigen das Recht auf Einreise und Aufenthalt nach Maßgabe dieses Gesetzes, wobei sich die Voraussetzungen im Einzelnen aus § 2 Abs. 2 und 3 FreizügG/EU ergeben (a). Darüber hinaus unterfällt die Antragstellerin dem Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II (b).
20
a) Das Freizügigkeitsrecht der Antragstellerin ergibt sich nicht aus § 2 Satz 2 Nr. 1 FreizügigG/EU, denn Voraussetzung hierfür ist, dass sich ein Unionsbürger als Arbeitnehmer, zur Arbeitsuche oder zur Berufsausbildung im fremden Staat aufhalten will. Die 3. Alternative der Berufsausbildung kommt augenscheinlich nicht in Betracht. Ebenso wenig kommt die Eigenschaft der Antragstellerin als Arbeitnehmerin in Betracht. Zwar ist sie nach ihren eigenen Angaben nach ihrer Einreise in die Bundesrepublik hier als Prostituierte tätig gewesen, jedoch ist hierzu nichts vorgetragen worden und ergibt sich auch sonst nicht aus den Akten, dass dies in einem Beschäftigungsverhältnis [das gibt es bei Sexarbeit faktisch nicht!!!] erfolgt ist. Das Bestehen eines Beschäftigungsverhältnisses ist hingegen Voraussetzung für die Arbeitnehmereigenschaft. Ein Beschäftigungsverhältnis setzt u.a. ein Über-/Unterordnungsverhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer und die Vereinbarung einer Entgeltzahlung voraus. Die Ausübung der Straßenprostitution durch die Antragstellerin erfüllt diese Merkmale [für Arbeitnehmereigenschaft/Beschäftigungsverhältnis] nicht. Ungeachtet der Voraussetzungen im Einzelfall ist es auch nicht naheliegend, dass die von der Antragstellerin ausgeübte Tätigkeit der Prostitution in einem Beschäftigungsverhältnis ausgeübt wird (vgl. hierzu auch VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 21.10.2011 - 16 L 874/11 -). An der weiteren Voraussetzung der genannten Vorschrift "Aufenthalt zur Arbeitssuche" hat der Senat Zweifel, da die Antragstellerin der deutschen Sprache nicht mächtig ist und sich aus dem gesamten Akteninhalt kein Hinweis darauf ergibt, dass sie in dem Zeitpunkt der Antragstellung bereits 10 Monate dauernden Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland eine Arbeit gesucht hat. Sie ist in diesem Zeitraum immer der Prostitution nachgegangen und war während dieser Zeit nach ihren eigenen Angaben nach dem Wegzug aus T weder in I noch in L gemeldet. Selbst wenn man aber zugunsten der Antragstellerin eine Arbeitsuche als Aufenthaltsgrund in der Bundesrepublik annehmen würde, würde die Antragstellerin vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II erfasst (vgl. dazu, wie bereits erwähnt, unter b).
21
Ebenso wenig ergibt sich das Freizügigkeitsrecht der Antragstellerin aus der Nr. 2 des § 2 Abs. 2 FreizügigG/EU. Voraussetzung hierfür wäre die Berechtigung zur Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit. Die Vorschrift setzt voraus, dass eine Tätigkeit als Selbständiger im Aufnahmestaat tatsächlich ausgeübt wird, wobei zwar nicht erforderlich ist, dass der Gewinn aus der selbständigen Tätigkeit das notwendige Existenzminimum deckt, Voraussetzung ist aber nach Artikel 43 EGV, dass eine wirtschaftliche Tätigkeit auf unbestimmte Zeit mittels einer festen Einrichtung in einen anderen Mitgliedstaat tatsächlich ausgeübt wird (BSG, Urteil vom 19.10.2010 - B 14 AS 23/10 R - Juris-Ausdruck Rdz 19 m. w. N.). Hierfür bestehen keinerlei Anhaltspunkte. Diese lassen sich für den Senat auch nicht daraus ableiten, dass die Antragstellerin nach ihrer eigenen Behauptung in I in einem Eros-Center gearbeitet hat. Zwar würde insofern das Erfordernis einer festen Einrichtung gegeben sein, jedoch fehlt es in dem Zusammenhang an jeglichem Anhaltspunkt dafür, dass die Antragstellerin zu dieser Zeit mit einer gewerblich ausgeübten Tätigkeit gemeldet war. Nach ihren eigenen Angaben war sie noch nicht einmal in I melderechtlich erfasst, so dass auch nicht davon auszugehen ist, dass sie die entsprechenden Anzeigen etwa beim Gesundheits- oder Ordnungsamt gemacht hat. Der Umstand, dass die Antragstellerin hierfür Steuern entrichtet haben will, vermag an dieser Einschätzung nichts zu ändern, denn es drängt sich die Frage auf, wie jemand, der überhaupt nicht melderechtlich in Erscheinung tritt, Steuern entrichten will, da in diesem Fall nicht nachvollziehbar ist, für wen diese Steuern dann als gezahlt verbucht werden. Bei dieser Sachlage ist davon auszugehen, dass die Klägerin ihrer Tätigkeit illegal nachgegangen ist.
[ Hier sieht man, welche menschenrechtlich schrecklichen Konsequenzen das sog. Düsseldorfer Vorsteuer Verfahren hat, was den Bordellbetreibern und durch diese den Sexworkern ohne gesetzliche Grundlage von der Finanzverwaltungen aufgezwungen wird. Anm. Marc ]

Auch wenn die Prostitution in Deutschland nicht verboten ist (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 06.05.2009 - B 11 AL 11/08 R -), ergibt sich nicht schon allein aus deren Ausübung die Annahme einer selbständigen Erwerbstätigkeit. Aus einem derart illegalen Zustand kann die Antragstellerin auch kein Bleiberecht ableiten.

[ Illegale, heimliche, clandestine Sexarbeit als Schwarzarbeit ist also gar keine selbständige Arbeit im Sinne der Behörden und Gesetze !!! Nur die sog. "Kontrollprostituierte" die registriert ist beim Finanzamt, weil UND NACHDEM sie eine eigene Steuererklärung (mit Hilfe einer EÜR) abgegeben hat, wird als Sexarbeiterin anerkannt und hat Rechte auf Sozialleistungen! ]

[ Deswegen ist es so wichtig, dass es Legalisierungs-Workshops und Einstiegs-Beratung für die legale Sexarbeit gibt, damit Sexworker nicht in diese sog. "Prostitutions-Falle" der Illegalität und Schwarzarbeit hineinrennen aufgrund der Stigmatisierung und des Diskretionsbedarfs und sich schleichend verfangen und langfristig verarmen und durch das Soziale-Netz hindurchfallen !!! ]


22
Eine abweichende Beurteilung ergibt sich auch nicht aus § 2 Abs. 3 FreizügigG/EU. In Betracht käme hier allenfalls Nr. 2 - die Voraussetzungen der Nr. 1 sind nicht gegeben, da die Antragstellerin nicht vorübergehend erwerbsgemindert war durch Krankheit oder Unfall, ebenso wenig liegen die Voraussetzungen der Nr. 3 vor, denn die Antragstellerin hat keine Berufsausbildung aufgenommen - jedoch sind die Voraussetzungen dieser Vorschrift nicht gegeben. Nr. 2 setzt voraus, dass die Einstellung einer selbständigen Tätigkeit infolge von Umständen erfolgt, auf die der Selbständige keinen Einfluss hatte und die Tätigkeit mehr als ein Jahr ausgeübt wurde. Rechtsfolge der Vorschrift ist, dass ein Freizügigkeitsrecht für Arbeitnehmer und selbständig Erwerbstätige unberührt bleibt. Ungeachtet der Problematik, ob diese Vorschrift im Zusammenhang mit dem Begriff der selbständigen Tätigkeit auch solche selbständig Erwerbstätigen erfasst, die keine Niederlassung an einem festen Ort haben oder nur solche, die mit einer Niederlassung in fester Einrichtung tätig sind und die Vorschrift dann europarechtskonform auszulegen wäre (vgl. hierzu LSG NRW, Beschluss vom 02.07.2012 - L 19 AS 1071/12 B ER - ), greift diese Vorschrift deshalb nicht statuserhaltend für die Antragstellerin ein, weil das zeitliche Moment nicht gegeben ist, nach dem die Tätigkeit mehr als ein Jahr ausgeübt werden muss. Die Antragstellerin ist im April 2011 in die Bundesrepublik eingereist und war nach den vorgelegten Bescheinigungen des Gesundheitsamtes der Stadt L spätestens seit Januar 2012 arbeitsunfähig erkrankt.
23
Die weiteren Tatbestände des § 2 Abs. 2 FreizügkeitsG/EU sind nicht gegeben. Die Antragstellerin ist keine Empfängerin von Dienstleistungen (Nr. 4), sie verfügt über keinen ausreichenden Krankenversicherungsschutz und keine ausreichenden Existenzmittel (Nr. 5 i. V. m. § 4 FreizügigG/EU), sie ist keine Familienangehörige eines bereits sich in Deutschland aufhaltenden Unionsbürgers (Nr. 6) und sie besitzt auch kein Daueraufenthaltsrechts (Nr. 7).
24
b) Nach alledem kann mangels entgegenstehender Anhaltspunkte allenfalls bei wohlwollender Betrachtung zugunsten der Antragstellerin von einem Aufenthaltszweck der Arbeitssuche ausgegangen werden. Dies hat jedoch zur Folge, dass sodann die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II erfüllt sind. Die Vorschrift stellt geltendes Recht im Rahmen eines förmlichen Gesetzes dar und ist aus diesem Grunde auch anzuwenden. Das gilt umso mehr, als dass es vorliegend um Gewährung von Rechtsschutz im Rahmen des § 86 b Abs. 2 SGG gilt, in dem formelle Gesetze nicht als unwirksam behandelt werden können (vgl. hierzu auch LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 29.02.2012 - L 20 AS 2347/11 - Juris-Ausdruck Rdz 27). Ungeachtet dessen ist dem Senat auch nicht bekannt, dass ein Gericht ein Hauptsacheverfahren in der seit nunmehr 01.04.2006 geltenden Regelung wegen verfassungs- oder europarechtlicher Bedenken ausgesetzt hat. Angesichts dessen hält der Senat eine abschließende Prüfung dieser Rechtsfrage entgegen der Ansicht des Sozialgerichts auch in einem Eilverfahren für möglich, so dass für eine Folgenabwägung kein Raum ist.
25
Die genannte Vorschrift ist nach Auffassung des erkennenden Senats nicht schon wegen des Gleichbehandlungsgebots des Artikel 1 des Europäischen Fürsorgeabkommens (EFA) unanwendbar (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 18.01.2011 - B 4 AS 14/10 R -), denn die Antragstellerin ist vom Schutzbereich des Europäischen Fürsorgeabkommens (EFA) nicht erfasst, weil Bulgarien den Vertrag dieses Abkommens nicht ratifiziert hat. Darüber hinaus geht der Senat auch davon aus, dass der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von Artikel 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004 aus 38 EG - Unionsbürgerrichtlinie - gedeckt ist, soweit Leistungen zum Lebensunterhalt begehrt werden. Nach Artikel 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004 aus 38 EG ist der Aufnahmemitgliedstaat nicht verpflichtet, anderen Personen als Arbeitnehmern oder selbständigen Personen, denen dieser Status erhalten bleibt, und ihren Familienangehörigen während der ersten 3 Monate des Aufenthalts oder gegebenenfalls während des längeren Zeitraums nach Artikel 14 Abs. 4 Buchst. b einen Anspruch auf Sozialhilfe oder vor Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt Studienbeihilfen, einschließlich Beihilfen zur Berufsausbildung, in Form eines Stipendiums oder Studiendarlehens zu gewähren. Der Senat hat bereits entschieden, dass die von der Antragstellerin vorliegend erstrittenen Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts als Sozialhilfeleistungen im Sinne des Artikel 24 Abs. 2 der Unionsbürgerrichtlinie anzusehen sind. Das ergibt sich bereits aus der Systematik des Gesetzes, welches in seinem 3. Kapitel die Leistungsarten aufführt und in Abschnitt 1 die Leistungen zur Eingliederung in Arbeit erwähnt, während es die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts (insbesondere Regelleistungen und KdU) in seinem zweiten Abschnitt abhandelt. Ferner sieht der Senat sich in der Richtigkeit seiner Auffassung bestärkt durch die Ausführungen des BSG in seiner Entscheidung vom 19.10.2010, in der die Regelleistung nach dem SGB II als Fürsorgeleistung entsprechend den Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII angesehen werden (B 14 AS 23/10 R). Der Senat sieht keine Veranlassung, von seiner Auffassung abzuweichen (vgl. hierzu bereits Beschluss vom 04.11.2010 - L 12 AS 1669/10 B ER - ). Gegen die Auffassung, die hier streitigen Leistungen nach dem SGB II seien Leistungen zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt, spricht auch die Regelung des § 19 Abs. 1 SGB II. Nach Satz 2 der Vorschrift erhalten nicht erwerbsfähige Leistungsberechtigte, die mit erwerbsfähigen Leistungsberechtigten in einer Bedarfsgemeinschaft leben, Sozialgeld, soweit sie keinen Anspruch auf Leistungen nach dem 4. Kapitel des SGB XII haben. Satz 3 der Vorschrift bezeichnet die Leistungen als den Regelbedarf, Mehrbedarfe und den Bedarf für Unterkunft und Heizung. Daraus wird deutlich, dass es sich hierbei nicht um Leistungen der Eingliederung in den Arbeitsmarkt handelt, da die Bezieher von Sozialgeld nicht erwerbsfähig sind, so dass bei ihnen auch kein Bedarf besteht, sie in den Arbeitsmarkt einzugliedern. Darüber hinaus fühlt der Senat sich bestätigt durch die Ansicht des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg im Beschluss vom 29.02.2012 (a.a.O.), nach der grundlegendes Merkmal der von der Antragstellerin begehrten Leistung zur Sicherung des Lebensunterhalts deren "Passivität" ist, also deren Existenz sichernde Funktion, demgegenüber seien die Leistungen der Eingliederung in Arbeit als "Aktivleistungen" zu bezeichnen (Juris-Ausdruck Rdz 29 und im Ergebnis zustimmend, wenn auch mit anderer Begründung LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 03.04.2012 - L 5 AS 2157/11 B ER und L 5 AS 2177/11 B PKH - ).
26
Da die Antragstellerin somit nicht uneingeschränkt freizügigkeitsberechtigt ist, hat der Senat keine Veranlassung, den Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II vorliegend europarechtlich in Frage zu stellen oder von seiner Anwendung abzusehen. Dies gilt umso mehr, als dass keine eindeutigen Hinweise auf die Notwendigkeit einer einschränkenden Auslegung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bzw. des EUGH zu finden sind (vgl. hierzu auch Beschlüsse des LSG Berlin-Brandenburg vom 29.12.2012 - L 20 AS 2247/11 B ER - und vom 05.03.2012 - L 29 AS 414/12 B ER -).
27
Eine abweichende Beurteilung ergibt sich für den Senat insbesondere ferner nicht aus der Annahme, auch Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende unterfielen dem Gleichbehandlungsanspruch (LSG NRW, Beschluss vom 17.05.2011 - L 6 AS 356/11 B ER - und Beschluss vom 16.07.2012 - L 7 AS 1047/12 B ER - ). Ausgehend davon sieht der Senat in dieser Annahme einen dann auftretenden Wertungswiderspruch mit der Möglichkeit eines Leistungsausschlusses nach Artikel 24 Abs. 2 der Unionsbürgerrichtlinie (Richtlinie 2034/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24.04.2004), weil nicht anzunehmen ist, dass das Europäische Parlament und der Rat am selben Tag sich widersprechende Regelungswerke in Kraft setzen wollten (so auch LSG NRW, Beschluss vom 22.06.2012 - L 19 AS 845/12 B ER und L 19 AS 846/12 B - m. w. N.). Nach den unterschiedlichen Zielrichtungen beider Rechtsquellen unter Berücksichtigung der Tatsache, dass auch in der vorherigen Verordnung (Artikel 10 a Anlage II A der Verordnung (EWG), Nr. 1408/71) Grundsicherungsleistungen als besondere beitragsunabhängige Leistungen erfasst waren, liegt die Annahme nahe, dass ein Spezialitätsverhältnis vorliegt, in dessen Rahmen Artikel 4 der VO (EG) 883/2004 die allgemeine koordinationsrechtliche Regelung, Artikel 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG hingegen die mit der Einschränkung nach Abs. 2 geltende und insbesondere auch aufgrund Sicherungsleistungen nach dem SGB II anwendbare speziellere Regelung enthält (vgl. hierzu auch LSG NRW, Beschluss vom 22.06.2012, a.a.O., m. w. N.).
28
Die Kostenentscheidung folgt aus einer entsprechenden Anwendung von § 193 Abs. 1 SGG.
29
Der Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG).

http://www.justiz.nrw.de/nrwe/sgs/lsg_n ... 20820.html




Kasharius grüßt

[Hervorhebungen MoF]

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Interner Querverweis

Beitrag von Marc of Frankfurt »

Legalisierungs-Merkblätter für Migrant_innen

in mehreren Sprachen
zum verteilen

www.sexworker.at/phpBB2/viewtopic.php?p=9213#9213





Tipps zur Steuererklärung für Sexworker und Einnahmen-Überschuß-Rechnung (EÜR):
www.sexworker.at/phpBB2/viewtopic.php?p=29178#29178

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Beitrag von Kasharius »

@Marc of Frankfurt

noch mal Danke fürs edieren.

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Sozialrecht: Eine Frage des Geldes

Beitrag von Marc of Frankfurt »

(Kasharius, erst so langsam können wir die Tragweite solcher Urteile verstehen, wenn sie so hervoragend nebeneinandergestellt und diskutiert werden, wie wir das hier im Forum gemeinsam leisten können...)


Die klassischen Vorwürfe gegen die Prostitution lauten: "die Prostitution macht den Menschen zur Ware und verletzt damit seine Würde" - "Selbst die 'heiligsten' menschlichen Werte werden der Käuflichkeit preisgegeben, wenn so intime Dinge wie die Sexualität vermarktet werden" - "deswegen darf Prostitution für Jugendliche nicht sichtbar sein, sie könnten in ihrer Entwicklung verdorben werden" ...


Der Vergleich der zwei obigen Sozialgericht-Urteile lehrt uns jedoch: alles ist in dieser Welt käuflich. Sogar elementare Bürgerrechte müssen erkauft werden z.B. indem man zuvor sein Einkommen selbst erklärt und Steuern abgeführt hat. Das Bürgerrecht auf Sozialhilfe im Notfall nach Unfall, Krankheit oder Arbeitsunfähigkeit erhält also nur diejenige Sexarbeiterin und Migrantin, die auch Steuern bezahlt hat und sich quasi so in das Deutsche Sozialsystem eingekauft hat !!!


Für das oftmals mythisch überhöhte Selbstverständnis des Rechtsstaats eine möglicherweise verheerende Interpretation - für Sexworker ein fundamentaler Lehrsatz in der Einstiegsberatung.
Zuletzt geändert von Marc of Frankfurt am 09.10.2013, 09:04, insgesamt 1-mal geändert.

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RE: LSG NRW - Entscheidungen zu Freizügigkeit von StraßenSW

Beitrag von Kasharius »

@Marc of Frankfurt

ja das gemeinsame einstellen, verschieben, edieren und diskutieren kriegen wir gemeinsam hoffentlich zum Nutzen Aller gut hin.

Zu den beiden Entscheidungen:

Sowohl der 1. als auch der 12. Senat des LSG NRW stufen die Tätigkeit der hier betroffenen SW grundsätzlich als Selbstständig ein und halten dies (europa)rechtlich auch für möglich. Beide knüpfen den Nachweis einer selbständigen Tätigkeit hier an die Besteuerung eben dieser Tätigkeit. Dies ist für sich genommen schon fragwürdig denn es geht hier um die Berechtigung zum Bezug sozialer Leistungen. Ein steuerrechtlicher Zusammenhang besteht schon deshalb nicht, da es nicht um die Frage ging inwieweit sich die betreffenden SW anspruchsmindernd Einkommen oder Vermögen eben aufgrund ihrer Tätigkeit hätten anrechnen lassen müssen. Vielmehr war die Ausübung der selbständigen Tätigkeit bzw. deren unverschuldete Aufgabe allein tatbestandliches Anknüpfungsmerkmal für den berechtigten Bezug von Sozialleistungen. Selbst wenn man aber die Besteuerung der hier betroffenen SW als gültiges Indiz anerkennen will sind die Schlussfolgerungen des 12. Senates (2.Fall) nicht nachvollziehbar. Der 12. Senat stuft die Tätigkeit der SW als illegal ein da sie melde- und steuerrechtlich nicht in ERscheinung getreten sein soll: Sozial(versicherungs)rechtlich kommt es aber auf die de facto und nicht auf die de iure Betätigung an; jedenfalls wenn die Nachentrichtung von Sozialabgaben oder der Entzug zu Unrecht bezogener Leistungen im Raum steht!

Weder von den Beteiligten noch vom Senat selbst wurde die Tätigkeit der SW in dem Eros-Center aber bestritten. Im Rahmen seiner Amtsermittlung auch im Berufungsverfahren hätte für den 12. Senat aber Anlass bestanden, sich genau über Art und Ausmaß der Besteuerung im Allgemeinen und des Düsseldorfer Modells im besonderen zu informieren. Dies gilt jedenfalls dann, wenn er an die Besteuerung die Entscheidung knüpft ob eine (in seinem Verständniß) legale selbständige Tätigkeit, aufgegeben wurde. Diese Auslegung des 12. Senats dürfte auch europarechtlich bedenklich ein, da die Freizügigkeit (mittelbar) so unverhältnißmäßig beschränkt wird.

Soweit meine Anmerkung zu diesen Entscheidungen.

Ich freue mich über Eure Kommentare

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RE: LSG NRW - Entscheidungen zu Freizügigkeit von StraßenSW

Beitrag von Kasharius »

Hier jetzt eine aktuelle Entscheidung des LSG Berlin-Brandenburg vom 28.01.2013 zum Recht auf Freizügigkeit und dem Bezug von Sozialleistungen einer auf der Strasse tätigen SW. Diese sehr positive Entscheidung liegt auf der Linie des oben vorgestellten 1. Falles des LSG NRW:

Landessozialgericht Berlin-Brandenburg 14. Senat 28.01.2013 L 14 AS 3133/12 B ER

Beschluss




Leitsatz
Die den Angehörigen der Mitgliedstaaten durch Art. 49 AEUV zuerkannte Niederlassungsfreiheit schließt (unter bestimmten Voraussetzungen) die Ausübung der selbständigen Prostitution - auch ohne "feste Einrichtung" - ein; aufgrund einer solchen selbständigen Erwerbstätigkeit besteht ein von einer Arbeitsuche unabhängiges Recht auf Aufenthalt.

Tenor
Auf die Beschwerde der Antragsteller wird der Beschluss des Sozialgerichts vom 8. November 2012 geändert.

Der Antragsgegner wird verpflichtet, den Antragstellern bis zu einer Entscheidung des Sozialgerichts in der Hauptsache, längstens jedoch bis zum 30. Juni 2013, vorläufig Leistungen nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuchs (Arbeitslosengeld II bzw. Sozialgeld) zu zahlen, und zwar zur Deckung der Bedarfe für Unterkunft und Heizung ab dem 23. Oktober 2012 und zur Deckung der Regelbedarfe ab Zustellung dieser Entscheidung an den Antragsgegner.

Die Beschwerde im Übrigen wird zurückgewiesen.

Der Antragsgegner hat den Antragstellern drei Viertel der ihnen entstandenen Kosten des Verfahrens zu erstatten.

Den Antragstellern wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe bewilligt und der Rechtsanwalt L A, K Damm, B, beigeordnet; Raten oder Beträge aus dem Vermögen sind einstweilen nicht zu zahlen.

Gründe
1
Die statthafte (§ 172 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes [SGG]), nicht durch § 172 Abs. 3 SGG ausgeschlossene und auch im Übrigen zulässige (§ 173 SGG) Beschwerde der Antragsteller ist im Wesentlichen begründet.

2
Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Entsprechend den Maßstäben des Bundesverfassungsgerichts über den vorläufigen Rechtsschutz gegen die Versagung von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende (vgl. Beschluss vom 12. Mai 2005 – 1 BvR 569/05 –) reicht schon die Möglichkeit, dass die begehrten Leistungen zustehen könnten, allemal aus, um im Wege der Folgenabwägung den Erlass einer zusprechenden einstweiligen Anordnung zu rechtfertigen. Der Senat kann im anhängigen Eilverfahren einen Anspruch der Antragsteller auf die von ihnen begehrten Leistungen jedenfalls nicht mit Bestimmtheit ausschließen.

3
Maßgebend sind – auch im Beschwerdeverfahren – in der Regel die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (vgl. Beschluss des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 18. Oktober 2007 – L 28 B 1637/07 AS ER –; erkennender Senat, Beschluss vom 4. September 2009 – L 14 AS 1063/09 B ER –, nicht veröffentlicht; Schoch, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO), 12. Ergänzungslieferung 2005, § 123 Rdnrn. 165, 166 m. w. N. zur Parallelproblematik in § 123 VwGO). Dies folgt daraus, dass in dem Erfordernis eines Anordnungsgrundes ein spezifisches Dringlichkeitselement enthalten ist, welches im Grundsatz nur Wirkungen für die Zukunft entfalten kann. Die rückwirkende Feststellung einer – einen zurückliegenden Zeitraum betreffenden – besonderen Dringlichkeit ist zwar rechtlich möglich, sie kann jedoch in aller Regel nicht mehr zur Bejahung eines Anordnungsgrundes führen. Denn die prozessuale Funktion des einstweiligen Rechtsschutzes besteht vor dem Hintergrund des Artikels 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) darin, in dringenden Fällen effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten, in denen eine Entscheidung im – grundsätzlich vorrangigen – Verfahren der Hauptsache zu spät käme, weil ohne sie schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (Bundesverfassungsgericht [BVerfG], Beschlüsse vom 22. November 2002 – 1 BvR 1586/02 – und vom 12. Mai 2005 – 1 BvR 569/05 –). Dies bedeutet aber zugleich, dass die Annahme einer besonderen Dringlichkeit und dementsprechend die Bejahung eines Anordnungsgrundes in aller Regel ausscheidet, soweit diese Dringlichkeit vor dem Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung vorgelegen hat, denn insoweit ist die besondere Dringlichkeit durch den Zeitablauf überholt, das Abwarten einer Entscheidung im Verfahren der Hauptsache über den zurückliegenden Zeitraum ist dem Rechtsschutzsuchenden in aller Regel zumutbar.

4
Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, dass das Gebot des effektiven Rechtsschutzes nach Artikel 19 Abs. 4 GG in besonderen Fällen ausnahmsweise auch die Annahme eines Anordnungsgrundes für zurückliegende Zeiträume verlangen kann, so insbesondere dann, wenn anderenfalls effektiver Rechtsschutz im Hauptsacheverfahren nicht erlangt werden kann, weil bis zur Entscheidung im Verfahren der Hauptsache Fakten zum Nachteil des Rechtsschutzsuchenden geschaffen worden sind, die sich durch eine – stattgebende – Entscheidung im Verfahren der Hauptsache nicht oder nicht hinreichend rückgängig machen lassen. Dies schließt dann nicht aus, bei der Beschwerdeentscheidung auch auf einen früheren Zeitpunkt ab Antragstellung der einstweiligen Anordnung beim Sozialgericht abzustellen.

5
Anspruch auf Arbeitslosengeld II haben nach den §§ 7 Abs. 1 Satz 1 und 19 Abs. 1 Satz 1 des Zweiten Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB II) Personen, die das 15. Lebensjahr vollendet, aber noch nicht die Altersgrenze nach § 7a SGB II erreicht haben, erwerbsfähig und hilfebedürftig sind und ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland haben.

6
Diese Voraussetzungen sind für die Antragstellerin zu 1) und den Antragsteller zu 2) glaubhaft gemacht. Die Antragstellerin zu 1) ist 31 Jahre alt, der Antragsteller zu 2) hat im Dezember 2012 das 15. Lebensjahr vollendet. Beide sind erwerbsfähig. Für eine Einschränkung der Erwerbsfähigkeit der Antragstellerin zu 1) aus gesundheitlichen Gründen gibt es keine Anhaltspunkte. Nach § 8 Abs. 1 SGB II ist erwerbsfähig, wer nicht wegen Krankheit oder Behinderung auf absehbare Zeit außerstande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden erwerbstätig zu sein. Dass die Antragstellerin zu 1) aufgrund ihrer Schwangerschaft Einschränkungen in der Erwerbstätigkeit unterliegt, kann insoweit schon aufgrund deren vorübergehenden Charakters keine andere Beurteilung zur Folge haben. Bei einem normalen Verlauf der Schwangerschaft – anderes ist hier nicht ersichtlich – liegt kein regelwidriger Körperzustand der Frau vor und damit nicht einmal eine Arbeitsunfähigkeit (vgl. BAG, Urteil vom 22. März 1995 – 5 AZR 874/93 –). Dass eine Schwangerschaft allein die Erwerbsfähigkeit i.S.d. §§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und 8 Abs. 1 SGB II nicht berührt, ergibt sich im Übrigen aus § 21 Abs. 2 SGB II. Die Antragstellerin zu 1) und der Antragsteller zu 2) sind ferner „rechtlich erwerbsfähig“ i.S.d. § 8 Abs. 2 SGB II, da ihnen jedenfalls die Aufnahme einer (abhängigen) Beschäftigung erlaubt werden könnte. In jedem Fall ist ihnen die Ausübung einer selbständigen Tätigkeit erlaubt.

7
Es ist zudem glaubhaft gemacht, dass sämtliche Antragsteller derzeit hilfebedürftig sind. Freilich bestehen durchaus Zweifel, dass die Antragstellerin zu 1) in den Monaten März bis Juni 2012 aus ihrer Tätigkeit lediglich 500 bis 600 Euro monatlich und keine weiteren Einkünfte erzielt haben will, da sie augenscheinlich zumindest bis Mai 2012 den Mietzins für ihre Wohnung in Höhe von 458,62 Euro monatlich gezahlt hat und außerdem berufsbedingte Ausgaben in Höhe von 150 bis 200 Euro monatlich getätigt haben will. Wovon sie in dieser Zeit ihren Lebensunterhalt und den ihrer Kinder (der Antragsteller zu 2] bis 4]) bestritten hat, hat die Antragstellerin zu 1) ungeachtet einer Aufforderung des Gerichts nicht näher geschildert. Möglicherweise verfügte sie tatsächlich über höhere Geldmittel in bar (die im Juli 2012 geschlossenen Konten bei der B Vbank wiesen offenbar seit mehreren Monaten keine Umsätze auf), was mit Blick auf die von ihr angegebene Tätigkeit auch nachvollziehbar erscheinen würde. Diese Zweifel zwingen jedoch nicht zu der Annahme, dass die Antragstellerin zu 1) auch jetzt noch entsprechende Einkünfte erzielt. Vielmehr ist überwiegend wahrscheinlich, dass sie – wie von ihr an Eides statt versichert – die von ihr zuvor ausgeübte Tätigkeit – auch „zur Abwendung von physischen und psychischen Gefahren für Mutter und Kind“ (Bescheinigung des Zentrums für sexuelle Gesundheit und Familienplanung des Gesundheitsamts des Bezirksamts von B vom 29. Oktober 2012) – zumindest unterbrochen und dementsprechend derzeit keine Einkünfte mehr hat. Ernsthafte Anhaltspunkte dafür, dass sie oder die (7, 14 und 15 Jahre alten) anderen Antragsteller anderes Einkommen (außer dem für die Zeit ab September 2012 bewilligten Kindergeld) oder Vermögen hätten, ergeben sich nicht.

8
Der Leistungsanspruch der Antragsteller entfällt auch nicht aufgrund der Regelung in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II, wonach Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt, und ihre Familienangehörigen keinen Anspruch auf Leistungen nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuchs haben. Die Antragstellerin zu 1) hat ein Aufenthaltsrecht nicht (lediglich) „zur Arbeitsuche“ (§ 2 Abs. 1 und 2 Nr. 1 des Freizügigkeitsgesetzes/EU [FreizügG/EU]), sondern als „niedergelassene selbständige Erwerbstätige“ aufgrund des § 2 Abs. 1 und 2 Nr. 2 FreizügG/EU, ihre sie begleitenden Kinder (die Antragsteller zu 2] bis 4]) nach § 3 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU. Dafür, dass die Antragstellerin zu 1) von August 2011 bis jedenfalls September 2012 eine selbständige Tätigkeit von nicht „völlig untergeordneter und unwesentlicher“ Bedeutung ausgeübt hat, sprechen nicht nur ihr entsprechender Vortrag sowie die Tatsachen, dass sie ein Gewerbe angemeldet und für das Jahr 2011 gegenüber dem Finanzamt eine Steuererklärung abgegeben und im Dezember 2012 einen entsprechenden Bescheid erhalten hat, sondern auch der Brief des Frauentreffs O an den Antragsgegner vom 7. September 2012 sowie die bereits erwähnte Bescheinigung des Zentrums für sexuelle Gesundheit und Familienplanung des Gesundheitsamts des Bezirksamts von B vom 29. Oktober 2012. Unerheblich wäre, wenn die dadurch erzielten Einkünfte nicht ausgereicht haben sollten, um davon die nach den Maßstäben des Zweiten Buchs des Sozialgesetzbuchs berechneten Bedarfe der Antragsteller zu decken. Hilfen vom Antragsgegner oder anderen Ämter haben die Antragsteller jedenfalls nicht in Anspruch genommen.

9
Auch die Art der von der Antragstellerin zu 1) ausgeübten Tätigkeit steht ihrem Aufenthaltsrecht nicht entgegen. Vielmehr schließt die den Angehörigen der Mitgliedstaaten (jetzt) durch Artikel 49 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) zuerkannte Niederlassungsfreiheit die Ausübung auch dieser selbständigen Tätigkeit ein (vgl. bereits Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, Urteil vom 20. November 2001, Rs. C-268/99, Aldona Malgorzata Jany u.a. gg. Staatssecretaris van Justitie, Slg. S. 8657, und daran anschließend BVerwG, Beschluss vom 24. Oktober 2002 – 1 C 31/02 –, Buchholz 451.9 Art. 52 EG-Vertrag Nr. 1).

10
Es ist danach unerfindlich, woraus herzuleiten sein sollte, dass die Antragstellerin zu 1) ihrer Tätigkeit „illegal“ nachgegangen wäre und deshalb kein „Bleiberecht“ hätte. Wie auch das Sozialgericht erkannt hat, ist deren Ausübung in Deutschland nicht verboten. Ob die Antragstellerin zu 1) die von ihr dadurch erzielten Einkünfte insbesondere dem Finanzamt gegenüber zutreffend angegeben hat, berührt nicht die Rechtmäßigkeit der Ausübung dieser Tätigkeit. Dass sie gegenüber dem Gewerbeamt nicht diese, sondern eine andere Tätigkeit angezeigt hat, dürfte schon deshalb unerheblich sein, weil die von ihr nach ihrem Vortrag tatsächlich ausgeübte Tätigkeit offenbar von den Gewerbeämtern nicht als „Gewerbe“ (i.S.d. Gewerbeordnung) angesehen und eine Anzeigepflicht dementsprechend nicht angenommen wird (Bericht der Bundesregierung zu den Auswirkungen des Gesetzes zur Regelung der Rechtsverhältnisse der Prostituierten (Prostitutionsgesetz - ProstG), B.IX.1, S. 66). Aber selbst falls diese Tätigkeit als „Gewerbe“ i.S.d. Gewerbeordnung anzuzeigen sein sollte – was die Antragstellerin in der Tat nicht getan hat – wäre ihre (nicht angezeigte) Ausübung nicht „illegal“, da es jedenfalls einer amtlichen Erlaubnis dazu nicht bedarf (nicht nachvollziehbar deshalb auch LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 20. August 2011 – L 12 AS 531/12 B ER –).

11
Nicht folgen kann der Senat auch der Auffassung, die Antragstellerin zu 1) habe deshalb keine „selbständige Erwerbstätigkeit“ ausgeübt, weil sie dazu keine „feste Einrichtung“ unterhalten habe, sondern ihr „auf der Straße nachgegangen“ sei. In seinem vom Sozialgericht dafür zur Begründung angezogenen Urteil vom 19. Oktober 2010 (B 14 AS 23/10 R), in dem es als Voraussetzung für die Niederlassungsfreiheit – auch – das Bestehen einer „festen Einrichtung“ genannt hat – freilich ohne dass dies für seine Entscheidung erheblich gewesen wäre –, schließt das Bundessozialgericht an das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften vom 25. Juli 1991 (Rs. C-221/89, The Queen gg. Secretary of State for Transport, ex parte: Factortame Ltd u. a., Slg. 3956 [3965]) an, wo der Gerichtshof in der Tat „bemerkt“ hat,„daß der Niederlassungsbegriff im Sinne der Artikel 52 ff. EWG-Vertrag die tatsächliche Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit mittels einer festen Einrichtung in einem anderen Mitgliedstaat auf unbestimmte Zeit umfasst“. Gegenstand jenes Verfahrens war – u.a. – die dem Gerichtshof vorgelegte Frage, ob es einem Mitgliedstaat nach dem Gemeinschaftsrecht untersagt ist, als Voraussetzung für die Eintragung eines Fischereifahrzeugs in sein nationales Register zu verlangen, dass das fragliche Schiff von diesem Mitgliedstaat aus operiert und sein Einsatz von dort aus geleitet und überwacht wird; diese Frage hat der Gerichtshof verneint und in diesem Zusammenhang ausgeführt, dass die die Niederlassungsfreiheit verbürgenden Bestimmungen des EWG-Vertrages nicht dem Erfordernis entgegenstehen, für die Registrierung eines für die Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit verwendeten Schiffes in einem Mitgliedstaat zu verlangen, dass der Einsatz dieses Schiff von (augenscheinlich einer „festen Einrichtung“ in) diesem Mitgliedstaat geleitet und überwacht wird. Daraus lässt sich jedoch nicht der Schluss ziehen, auf die Niederlassungsfreiheit könne sich nur berufen, wer für die Ausübung seiner wirtschaftlichen Tätigkeit eine „feste Einrichtung“ unterhält. Denn es sind eine Reihe von wirtschaftlichen („gewerblichen“) Tätigkeiten denkbar, deren Ausübung gerade keine „feste Einrichtung“ voraussetzt („Reisegewerbe“; vgl. §§ 55 ff. der Gewerbeordnung [GewO]). Zudem hat der Gerichtshof in seinem bereits genannten Urteil vom 20. November 2001 zu der von der Antragstellerin zu 1) ausgeübten Tätigkeit – in Kenntnis dessen, dass ihr auch „auf der Straße nachgegangen“ werden kann (Erwägungsgrund 62) – entschieden, dass sie als eine durch die Niederlassungsfreiheit gewährleistete selbständige Erwerbstätigkeit anzusehen ist, sofern sie nicht im Rahmen eines Unterordnungsverhältnisses in Bezug auf die Wahl dieser Tätigkeit, die Arbeitsbedingungen und das Entgelt, in eigener Verantwortung und gegen ein Entgelt, das der diese Tätigkeit ausübenden Person vollständig und unmittelbar gezahlt wird, ausgeübt wird; eine „feste Einrichtung“ ist danach jedenfalls für diese Tätigkeit nicht erforderlich, um sich auf die Niederlassungsfreiheit berufen zu können.

12
Das Aufenthaltsrecht der Antragstellerin zu 1) – und damit auch das davon abgeleitete der übrigen Antragsteller – entfällt nicht dadurch, dass sie ihre Tätigkeit aufgrund ihrer erneuten Schwangerschaft im Oktober 2012 eingestellt hat. Nach § 2 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 FreizügG/EU bleibt nach mehr als einem Jahr Tätigkeit das Recht auf Aufenthalt als Erwerbstätiger erhalten, wenn die Einstellung der selbständigen Tätigkeit auf Umständen beruht, auf die der Selbständige keinen Einfluss hatte. Dies ist hier anzunehmen: Wie der Senat bereits erwogen hat (Beschluss vom 25. Oktober 2010 – L 14 AS 1806/10 B ER –, nicht veröffentlicht), erscheint es „zweifelhaft, dass die Beendigung einer selbständigen Tätigkeit als freiwillig im Sinne des Gesetzes anzusehen ist, wenn sie Folge einer Schwangerschaft ist. Der 15. Senat des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg hat im Zusammenhang mit § 2 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 FreizügG/EU zutreffend und überzeugend ausgeführt, das Grundgesetz (GG) stelle die Familie im allgemeinen und zusätzlich ausdrücklich die Mutter unter besonderen Schutz (Art. 6 Abs. 1 und 4 GG). Diesem Schutzauftrag liefe es zuwider, wenn der Entschluss, ein Kind zu bekommen, mit einem derart schwerwiegenden Nachteil wie dem Verlust des Rechts auf Freizügigkeit und damit auf den Aufenthalt im Inland verbunden wäre. Zum anderen stelle es auch einen Verstoß gegen das Verbot geschlechtsspezifischer Benachteiligung (Art. 3 Abs. 3 GG) dar, nur bei der schwangeren Frau rechtliche Nachteile aus einer Tatsache eintreten zu lassen, die sie zwangsläufig nicht allein herbeiführen kann (L 15 B 54/08 SO ER). Diese Gesichtspunkte sind auf die hier entscheidende Vorschrift des § 2 Abs. 3 S. 2 FreizügG/EU übertragbar.“ Daran hält der Senat fest.

13
Demgemäß bestehen auch keine Zweifel, dass die Antragsteller ihren „gewöhnlichen Aufenthalt“ in Deutschland (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II) haben.

14
Nach allem sind die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Arbeitslosengeld II für die Antragstellerin zu 1) und den Antragsteller zu 2) – für ihn ab dem 26. Dezember 2012 – bzw. auf Sozialgeld (§§ 7 Abs. 2 Satz 1 und 19 Abs. 1 Satz 2 SGB II) für die mit der Antragstellerin zu 1) in einer Bedarfsgemeinschaft (§ 7 Abs. 3 Nr. 4 SGB II) lebenden Antragsteller zu 3) und 4) und für den Antragsteller zu 2) bis zum 25. Dezember 2012 glaubhaft gemacht.

15
Die Notwendigkeit einer vorläufigen Regelung zur Abwendung wesentlichen Nachteile (sog. Anordnungsgrund; § 86b Abs 2 Satz 2 SGG) ergibt sich daraus, dass glaubhaft gemacht ist, dass die Antragsteller auf die begehrten Leistungen zur Sicherung ihrer Existenz angewiesen sind.

16
Leistungen zur Deckung der Bedarfe für Unterkunft und Heizung sind – vorläufig – ab dem Tag der Antragstellung bei dem Sozialgericht (23. Oktober 2012) zu erbringen, da insoweit noch ein Nachholbedarf (nicht gezahlter Mietzins) anzunehmen ist; im Übrigen (zur Deckung der Regelbedarfe) sind – ebenfalls vorläufig – Leistungen erst ab dem Tag der Zustellung dieses Beschlusses an den Antragsgegner zu erbringen, da insofern ein Nachholbedarf nicht glaubhaft gemacht ist; dementsprechend ist die Beschwerde insoweit zurückzuweisen. Das der Antragstellerin zu 1) für die Antragsteller zu 2) bis 4) gezahlte Kindergeld ist als Einkommen der Kinder (§ 11 Abs. 1 Satz 4 SGB II) zu berücksichtigen.

17
Den Antragstellern ist für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe zu bewilligen und der zu ihrer Vertretung bereite Rechtsanwalt beizuordnen (§ 114 Satz 1 der Zivilprozessordnung [ZPO] i.V.m. § 73a Abs. 1 Satz1 SGG). Unbeachtlich ist, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung möglicherweise von vornherein nicht in vollem Umfang eine hinreichende Aussicht auf Erfolg hatte, da im sozialgerichtlichen Verfahren die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für nur einen Teil des erhobenen Anspruchs nicht in Betracht kommt.

18
Gegen die Ablehnung der Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung des sie vertretenden Rechtsanwalts für das Verfahren vor dem Sozialgericht haben die Antragsteller Beschwerde nicht eingelegt; ein entsprechender Wille ist der Beschwerdeschrift vom 4. Dezember 2012 nicht hinlänglich deutlich zu entnehmen.

19
Die Entscheidung über die Erstattung von Kosten beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 Abs. 1 SGG und berücksichtigt den nur teilweisen Erfolg der Antragsteller.

20
Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 177 SGG).

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Diese und die an anderer Stelle eingestellte Entscheidung des OLG Celle sollte man allen entgegenhalten, die von den vermeintlichen Gefahren der Prostitution schwadronieren...


Kasharius wünscht gute Nacht

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Marc of Frankfurt
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Sexarbeiterin bekommt Wohngeld

Beitrag von Marc of Frankfurt »

Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen/Bremen: Jobcenter muss für Osteuropäerin Unterkunftskosten tragen

Ex-Prostituierte triumphiert



09.10.13
Hann. Münden, Landkreis Göttingen

Hat eine ehemalige Prostituierte aus Osteuropa, die aus dem Gewerbe ausgestiegen ist, Anspruch auf staatliche Hilfe?

Das Jobcenter des Landkreises Göttingen sagte nein, aber das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen/Bremen gab der Klägerin aus Göttingen vorläufig Recht.

Die Richter legten dem Landkreis Göttingen auf, der Frau bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens, längstens aber bis 31. Dezember dieses Jahres, monatlich 185 Euro als Kosten der Unterkunft zu zahlen.

Das Hauptsacheverfahren findet beim Sozialgericht in Hildesheim statt.

Der zuständige Senat des Landessozialgerichts (LSG) gab damit einer Beschwerde der Klägerin statt. Die Anwältin der Frau hatte Beschwerde eingelegt, nachdem das Sozialgericht in Hildesheim die Klage abgewiesen hatte.

Ein Sprecher des Landessozialgerichts in Celle erklärte, die Entscheidung des LSG sei das Ergebnis einer Folgenabwägung gewesen. Es sei nämlich nicht klar, ob die Ablehnung einer Sozialleistung für EU-Ausländer mit dem Europarecht übereinstimme.

Grund dafür, dass die Frau den Rechtsweg beschritt, war die Tatsache, dass das Jobcenter ihren Antrag auf Sozialleistung abgelehnt hatte. Und zwar mit der Begründung, dass die Frau nicht habe nachweisen können, wie lange sie selbstständig als Prostituierte gearbeitet hat und dass sie ihre selbstständige Tätigkeit unfreiwillig verloren hat.

Gerd Nier, Kommunalpolitiker der Linken in Göttingen, hat den Fall an die Öffentlichkeit gebracht. Ihn empört, dass das Jobcenter der Frau die Zahlung der Unterkunftskosten verwehrt hat, weil sie ihre finanzielle Notlage selbst verschuldet habe. Nier: „Unglaublich, wie unsere Bürokratie in manchen Situationen auf die bedrückenden Lebenslagen von Menschen reagiert.“

[ demnach könnten Prostitutionsgegner argumentieren: weil jemand die Arbeit in der Prostitution selbst gewählt hat, vor der doch dauernd gewarnt wird, d.h. wer dennoch das Tabu oder Regeln bricht und Sexworker wird, muß dann auch mögliche negative Folgen selbst tragen ]

Der Pressesprecher des Landkreises Göttingen, Marcel Riethig, räumte auf Nachfrage der HNA ein, der zuständige Sachbearbeiter im Jobcenter habe in dem Widerspruchsbescheid eine unglückliche Formulierung gewählt. Dass die Frau freiwillig aus der Prostitution ausstieg, sei bei der Anerkennung von Leistungen nach Hartz IV nicht maßgebend.

Entscheidend seien für den Landkreis vielmehr folgende Punkte: Die Frau müsse entweder nachweisen, dass sie selbstständig oder dass sie als Angestellte in einem Etablissement beschäftigt war.

„Unglaublich, wie unsere Bürokratie in manchen Situationen auf die bedrückenden Lebenslagen von Menschen reagiert.“

Um das zu belegen, müsse sie entweder eine Ausnahmegenehmigung der Arbeitsagentur oder einen Arbeitsvertrag vorlegen.

[ beides ungemein unwahrscheinlich bei Sexwork. Dennoch, einen Musterarbeitsvertrag Prostitution gibt es hier: www.sexworker.at/prostg >> Download. ]

Solange die Frau dies nicht nachgewiesen hat, müsse der Landkreis eine Scheinselbstständigkeit vermuten. Scheinselbstständigkeit bedeute, so Riethig, dass die Frau nach außen hin zwar als Selbstständige auftrat, tatsächlich aber abhängig beschäftigt war.

Wegen dieses Verdachts der Scheinselbstständigkeit habe der Landkreis das Hauptzollamt gebeten, zu ermitteln, ob ein Fall von Leistungsbetrug vorliegt.

Bei Scheinselbstständigkeit bestehe nämlich der Verdacht, dass keine Sozialabgaben an den Staat gezahlt werden.

www.hna.de/lokales/hann-muenden/ex-pros ... 55629.html





Was in der normalen Arbeitswelt abhängiger Beschäftigungsverhältnisse sinnvoll erscheint, nämlich dass eine Behörde bei fehlendem Arbeitsvertrag auf Scheinselbständigkeit prüft, wird hier zur Falle für Sexworker, weil das Amt anscheinend keine Erfahrung und dann auch keine Sonderregelung für unser besonderes Gewerbe hat.

So entsteht Diskriminierung von Sexwork allein aufgrund von Andersheit oder Seltenheit im Bezug auf Behördenhandeln. Früher wurde ja alles nur von Polizei und Strafgesetz geregelt *LOL* *heul*

Der Nachweis von Selbständigkeit erfolgt i.A. über die bisherigen Steuerbescheide oder Bescheinigung vom Finanzamt.

"Geheimprostitutierte", Schwarzarbeiter oder "Illegale" stecken diesbezüglich in einer Falle: die sog. Prostitutionsfalle.

Möglichkeiten wie z.B. Freiberufler haben Sexworker nicht: Gewerbeschein, Handelsregisterauszug, Mitgliedsausweis bei der berufsständischen Kammer. Ob die Mitgliedschaft beim Bundesverband für erotische und sexuelle Dienstleistungen irgendwann mal diesbezüglich anerkannt wird?





Kalkulation nichtgezahlter Sozialleistungen bei verurteilten Bordellbetreibern z.B. Pussy Club ...
www.sexworker.at/phpBB2/viewtopic.php?p=131504#131504

Verurteilte Sexworker und Madams wg. Sozialabgabenbetrug
www.sexworker.at/phpBB2/viewtopic.php?p=93383#93383
www.sexworker.at/phpBB2/viewtopic.php?p=95350#95350

Wie man die Höhe seiner Sozialabgaben ermittelt
www.sexworker.at/phpBB2/viewtopic.php?p=94746#94746
Beispielrechnung Mindestlohn
www.sexworker.at/phpBB2/viewtopic.php?p=133848#133848

Wie man die Höhe der (nachzuzahlenden) Steuern ermittelt
www.sexworker.at/phpBB2/viewtopic.php?p=98575#98575

Wie man selber vorsorgt: "Safer Geldanlage"
www.sexworker.at/phpBB2/download.php?id=1297 PDF