Ausstiegsprojekt:
Freiburger Modellprojekt Pink
Prostitution – kein Beruf wie jeder andere
Prostitution hat viele Gesichter. Frauen verkaufen ihren Körper für Geld – unter Zwang, aus blanker Not, aus Lust am Geschäft. Das Freiburger Modellprojekt Pink unterstützt Prostituierte, die aus dem Gewerbe aussteigen wolle.
Frau S. will nicht mehr. 22 Jahre hat sie als Prostituierte in Freiburg gearbeitet – jetzt ist sie ausgestiegen.
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Es rechnet sich nicht mehr, sagt sie.
- Die Konkurrenz aus Osteuropa habe die Preise und Sitten verdorben.
- "Es ist noch nie soviel ohne Schutz gearbeitet worden", erzählt Frau S.
- "Jede zweite Anzeige wirbt mit dem Versprechen tabulos. Die Einnahmen stehen in keinem Verhältnis zum Risiko."
- Die Gäste forderten immer mehr für immer weniger Geld.
- Frauen, die ihre Gesundheit nicht ruinieren wollen, hätten kaum noch Verdienstmöglichkeiten.
[Einen wesentlichen Grund nennt sie leider nicht. Er ist oben im Kurvenverlauf und Diagramm Verdienst-Über-Alter dargestellt. Anm.]
"Das Milieu ist ungemein vielschichtig" Simone Heneka
Frau S. ist weder blutjung, gertenschlank noch umwerfend schön. Doch sie wirkt selbstbewusst und unabhängig,
sie ging ihrer Arbeit gern nach und fühlte sich als Chefin in einem Gewerbe, in dem sie über Arbeitszeit, Arbeitsort und Verdienst selbst entscheiden konnte. Sie habe sich nie zu etwas zwingen lassen, sagt die gepflegte Blondine. Sie hat das Fachabitur, eine Berufsausbildung – und sie hat zwischendurch immer wieder in ihrem bürgerlichen Beruf gearbeitet.
Prostitution hat viele Gesichter. Frauen verkaufen ihren Körper für Geld – unter Zwang, aus blanker Not, aus Lust am Geschäft. Für die einen bleibt Prostitution eine kurze Episode, für andere eine längere Option. Die Sexarbeiterin, die auch mal einen Mann ablehnt, hat nichts gemein mit der Drogenabhängigen, die für zehn Euro ins Auto des Freiers steigt.
"Das Milieu ist ungemein vielschichtig", sagt
Simone Heneka, Sozialarbeiterin bei der Beratungsstelle Pink in Freiburg. "Nicht jede Prostituierte ist automatisch ein Opfer. Es gibt Frauen, die sich frei entschieden haben, die selbstständig arbeiten, die keinen Zuhälter haben."
Wie viele arbeiten unter Zwang, wie viele freiwillig? Die Sozialarbeiterin zuckt leicht ratlos mit den Schultern. "Das ist eine Frage der Definition. Wenn Frauen aus Armut anschaffen gehen – ist dies freiwillig oder geschieht es aus Not, weil es keine Wahlmöglichkeit gibt?"
Es gibt Frauen, auch aus Osteuropa, die genau wissen, was sie tun. Die schnell viel Geld verdienen wollen, um die Familie zu unterstützen, die Schulden abzubezahlen oder eine Existenz aufzubauen. Und die sich doch oft etwas vormachen.
Glitter und Glanz sind im ältesten Gewerbe der Welt rar. Die Allerwenigsten werden als Callgirl für eine Nacht von einem Fußballstar oder Ministerpräsidenten eingeflogen und mit 1000 Euro oder mehr entlohnt.
Die meisten sind schon froh, wenn sie 1500 Euro im Monat einnehmen. Und die Ausgaben für Miete, Kontaktanzeigen, Kleider und Kosmetika sind hoch.
Seit einem halben Jahr arbeitet Simone Heneka beim landesweit einmaligen Modellprojekt Pink in Freiburg. Eine zweite Stelle ist in Kehl. Pink – die vier Buchstaben stehen für Prostitution, Integration, Neustart und Know-how – will Frauen beim Ausstieg aus dem Rotlichtmilieu und beim Einstieg in den regulären Arbeitsmarkt helfen.
Ins Leben gerufen wurde Pink von der Bundesregierung,
finanziert wird die Anlaufstelle von Land und Bund,
getragen vom katholischen Diakonischen Werk Freiburg.
Der Standort Freiburg wurde bewusst gewählt: Prostitution gibt es nicht nur in sündigen Großstädten, sondern auch in braven grün-alternativen Universitätsstädten. Eine Anlaufstelle für die Damen vom horizontalen Gewerbe gab es bislang aber nicht.
Bis zum 1. Januar 2002 galt die Prostitution in Deutschland als sittenwidrig. Sie war zwar nicht ausdrücklich verboten, aber in der täglichen Praxis gab es viele Einschränkungen. Gegen den heftigen Widerstand der Union hatten SPD und Grüne dann das "
Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse von Prostituierten" durchgebracht, um einen "gesellschaftspolitischen Meilenstein" zu setzen.
- Seither ist die Prostitution als Erwerbstätigkeit anerkannt.
- Vereinbarungen mit Prostituierten sind rechtsverbindlich,
- das Honorar ist einklagbar.
- Bordelle können Frauen – und Männer – anstellen,
- Sozialabgaben und Krankenversicherung zahlen.
Glitter und Glanz sind in diesem Gewerbe rar
Daraus lassen sich Ansprüche auf eine Umschulung und die Wiedereingliederung in den normalen Arbeitsmarkt ableiten.
In der Begründung für das Prostitutionsgesetz heißt es ausdrücklich, dass Prostituierte jederzeit die Möglichkeit haben sollen, aus dem Milieu auszusteigen, in dem ihnen zum Beispiel Umschulungen angeboten werden.
Das Gesetz war gut gemeint. Es sollte ein Kapitel deutscher Sittengeschichte schließen, das an
Bigotterie kaum zu überbieten war. Doch die
Ziele wurden verfehlt.
- Nur ein Prozent aller Prostituierten hat einen Arbeitsvertrag, heißt es in einer Untersuchung des Bundesfamilienministeriums.
- Zwar sind 87 Prozent der Prostituierten krankenversichert, die überwiegende Mehrheit nicht unter ihrer Berufsbezeichnung, sondern als Familienangehörige
[und damit ist der Versicherungsschutz stark eingeschränkt, falls eine Krankheit entsteht im Zusammenhang mit der Sexarbeit, worüber die Krankenversicherung nicht informiert war und Leistungen ablehnen kann... Anm.].
Verständlich:
- Welche Frau geht schon zur Krankenkasse und erzählt dem Sachbearbeiter, dass sie als Prostituierte arbeitet und sich freiwillig versichern möchte?
- Welche Dirne traut sich, beim Arbeitsamt eine Umschulung zu beantragen und aus ihrem Vorleben zu berichten?
[Das nenne ich die sog.
"Falle Prostitution". Sie ist nach wie vor strukturell und durch des Prostitutions-Stigma bedingt. Hierzu braucht es Vorbilder und Leuchtturmprojekte, die diese bestehenden Ängste durch Wissen um Lösungen abbauen helfen. Anm.]
Kaum eine Frau kann ihre berufliche Tätigkeit in ihr Leben integrieren – die meisten führen ein
Doppelleben. Sie wollen nicht als Prostituierte bekannt, erkannt werden – wegen der Nachbarn, der Familie und vor allem wegen der Kinder.
"Das soziale Stigma ist nach wie vor vorhanden", sagt
Renate Kirchhoff, Professorin für Theologie an der Evangelischen Fachhochschule in Freiburg, die sich seit langem mit dem Thema Prostitution beschäftigt. Bis das Thema Sexarbeit vorurteilsfrei debattiert werden kann, werden noch Jahre verstreichen.
"
Die Vermutung liegt nahe, dass das Gesetz auch ins Leben gerufen wurde, damit der Staat von den Einnahmen im Rotlichtmilieu profitiert", sagt Simone Heneka. Da geänderte Paragrafen allein nicht ausreichen, sind praktische Hilfen zum Ausstieg nötig. Daran fehlte es in Südbaden – bis zur Gründung von Pink.
"Es gibt viele Frauen, die aussteigen wollen. Sobald sie jedoch öffentlich sagen, was sie bisher gemacht haben, stehen sie im Abseits", bestätigt auch Pink-Projektleiterin Angelika Hägele.
Die Probleme sind immer wieder die selben: Einige haben keine eigene Wohnung – die Arbeitsstätte ist gleichzeitig auch Unterkunft, die bei einem Ausstieg verlassen werden muss. Viele haben Schulden,
leben nach einem Brutto-für-Netto-Denken. Weil sie das Geld aus Angst nicht zur Bank tragen, werde es oft gleich wieder ausgegeben
[und auch nicht vermehrt (thesaurisiert) mit Zins und Zinseszinsen !!! Und mit Schwarzgeld kann man keine legale Investition zur Altersvorsorge tätigen !!! Anm.].
Und: Gerade im Ausstiegsprozess leiden viele Frauen unter großen sozialen, gesundheitlichen und seelischen Problemen.
Wer Prostituierte aber nur als Opfer betrachtet, übersieht, dass die Frauen
Kompetenzen haben, die im bürgerlichen Arbeitsleben gefragt sind:
- Kundenfreundlichkeit,
- Flexibilität,
- Konfliktmanagement,
- eigenverantwortliche Arbeits[ein]teilung und
- Menschenkenntnis
sind Schlüsselqualifikationen, die einen Einstieg auf dem ersten Arbeitsmarkt möglich machen sollten.
Die Konkurrenz wird größer, die Sitten werden härter
Fakt ist aber auch:
Wer 20 Jahre im Milieu gearbeitet hat, kommt nur schwer wieder unter. Selbst qualifizierte Frauen sind schwer zu vermitteln. Noch schwieriger gestaltet sich die Suche, wenn mangelnde Deutschkenntnisse, abgebrochene oder nicht anerkannte Schulabschlüsse, Verschuldung oder psychische Probleme hinzukommen. Den Beraterinnen ist klar: "Wem es gut geht, der kommt erst gar nicht zu uns."
Aber immer weniger Prostituierten geht es gut. Die Konkurrenz wird härter. Die Sitten auch. "
Flatrate-Bordelle", die Sex zu Schleuderpreisen anbieten, und "Gang-Bang-Veranstaltungen", bei denen die Kunden Gruppensex an mit Prostituierten haben, sind der jüngste Trend. Die hygienischen Bedingungen in den Flatrate-Clubs seien alles andere als toll, berichtet eine Beraterin vom Gesundheitsministerium Stuttgart über einen solchen Club in Fellbach. Die Zimmer hätten keine Türen,
die Frauen würden sich Betäubungsmittel in die Vagina spritzen, weil sie es sonst nicht aushalten könnten, 60 bis 70 Männer am Tag zu "bedienen". [Was für eine Horrormeldung, die ich hier das erste mal lese. Anm.]
Zudem werde es im Rotlichtmilieu immer schwieriger, ohne einen Zuhälter zu arbeiten. [Stimmt das ???]
Frau S. ist ausgestiegen. Eine neue Stelle hat sie bislang nicht gefunden.
Seriöse Zahlen gibt es nicht
Seriöse Zahlen zur Prostitution in Deutschland gibt es nicht. Eine häufig zitierte Schätzung, die auf die Berliner Prostituiertenberatungsstelle Hydra zurückgeht, geht von
400 000 Prostituierten in Deutschland aus. Das
Bundeskriminalamt schätzt die Zahl der hierzulande arbeitenden Huren auf 200 000. Die Angaben werden auch dadurch erschwert, dass viele Frauen dieser Tätigkeit nur nebenbei, gelegentlich oder für einen kurzen Lebensabschnitt nachgehen. Die Zahl der Kunden wird auf 1,2 Millionen geschätzt – am Tag.
[Warum wird die Zahl der Kunden immer mit einer andern Berechnungseinheit [pro Tag] und damit nicht gleichberechtigt angegenben zu denen der Sexworker [Absolutzahl]. Würde man es wie bei den Sexworkern machen, müßte man die Zahl nämlich hochrechnen !!! Kunden gehen genauso unregelmäßig zu Sexworkern, so wie Sexworker unregelmäßig arbeiten !!! Geht man z.B. mal davon aus, dass der Durchschnittskunde alle 2 Wochen zu einem Sexworker geht, ergeben sich 17 Millionen Kunden. Wir brauchen genauere und faire Zahlen! Anm.]
Der Jahresumsatz der Branche wird auf sechs bis 14 Milliarden Euro betragen.
Mindestens 2 Milliarden Euro sollen als Steuern an den Staat gehen.
Die meisten Prostituierten arbeiten in Clubs, Terminwohnungen oder Kleinbordellen. Allein in der Stadt Freiburg sind 70 Kleinbordelle und Terminwohnungen bekannt.
400 Prostituierte sollen entlang der Rheinschiene arbeiten. 85% sind Migrantinnen aus Rumänien oder Bulgarien, die für eine gewisse Zeit in Deutschland leben und dann wieder in ihre Heimat zurückkehren. Zum Vergleich: Die Zahl der Prostituierten in der Hauptstadt Berlin wird auf 6000 bis 8000 geschätzt.
Weitere Informationen unter:
http://www.pink-baden.de
Telefon: 0761/2169918
Quelle:
Petra Kistler
www.badische-zeitung.de/liebe-familie/p ... 52469.html
Dokumentation Fachtagung
www.pink-baden.de/download/2010_dokumen ... ag_web.pdf
Der Mythos mit den Zahlen
Prof. Dr. Renate Kirchhoff, Evangelische Hochschule Freiburg
www.sexworker.at/phpBB2/viewtopic.php?p=102479#102479