
Weil ich die Frage damals nicht wirklich beantworten konnte, hier mehr Info:annainga hat geschrieben:wie beurteilst du das "dortmunder modell"? @marc
Zum Dortmunder Modell
"Gewerberechtliche Anmeldung und Konzessionierung"
Oft wird von Konsens aller Verfahrensbeteiligten gesprochen. Dazu muß aber unterschieden werden:
1. die Behörden und staatlich finanzierten und eingebundenen Hilfsorganisationen
2. die Sexbiz Community bestehend aus Sexworkern, Angehörige, Betreiber, Kunden
Bei "Beteiligten" sind in den veröffentlichten Verlautbarungen vermutlich nur die ersten gemeint [Also Fachausdruck: Governance (Regierungshandeln) statt Deliberation (Bürgerbeteiligung), Anm.].
Maßnahmenkatalog
- Dortmund seit 2002
- SW auf Straßenstrich können Reisegewerbekarte beantragen,
diese wird aber nicht kontrolliert. - " in Wohnungsprostitutiton (bis 2 SW) können Gewerbe anmelden.
Gewerbeschein wird aber nicht kontrolliert. - Bordell(artige) Betriebe (ab 3 SW, bisher Zimmervermietung) müssen Gewerbe anmelden.
- " müssen Nutzungsänderung beim Bauordnungsamt stellen.
Bordellbetrieb wird nicht genehmigt in reinen Wohngebieten. - Bordelle (mehr als 8 Plätze) brauchen Gaststättenkonzession.
Das erforert polizeiliches Führungszeugnis und steuerliche Unbedenklichkeitserklärung.
Manche Betreiber stellten deshalb lieber Automaten auf.
Das erleben SW als Verschlechterung der Verhältnisse.
Bewertung
- Diesem Maßnahmenkatalog fehlt die rechtliche Grundlage, weil es weder Gesetze noch Rechtsprechung zur Gewerbeanerkennung von Prostitution gibt. Im ProstG steht nichts eindeutiges. Untergerichtliche Rechtsprechung steht bisher im Widerspruch zu höchstrichterlichen von BVerwG und BGH.
- Wegen der Sittenwidrigkeit galt und gilt in der Rechtsprechung Prostitution nach wie vor nicht als Gewerbe.
- Gewerbeanzeige entgegen zu nehmen aber nicht zu kontrollieren ist eine neu konstruierte neue juristische Grauzone. Es ist eine Karikatur der beabsichtigten Rechtssicherheit und Legalisierung von Prostitution.
- Gewerbeanzeigen selbstständiger Prostituierter sind immer auch ein zu Schikanen einladendes Kontroll- und Überwachungsinstrument, weil darüber auch eine räumliche Einschränkung der Prostitutionsausübung der Frauen veranlaßt werden kann. Z.B. wenn sie eine zweite Arbeitswohnung in einem Wohngebiet betreibt kann das gewerberechtlich sofort geschlossen werden, wenn sie als Gewerbetreibende gilt.
- Die gewerberechtlichen Regelungen sind völlig unzureichend für ein "Modellprojekt".
- Gegenüber den SW haben Stadt und Polizei eine Politik durchgesetzt die entgegengesetzt ist zu den Forderungen der Hurenbewegung und zu dem was Beratungsstellen verkünden.
- Gegenüber den SW haben Stadt und Polizei eine Politik durchgesetzt die entgegengesetzt ist zum Bund-Länder-Ausschuß und [späteren Erlaß vom] NRW-Wirtschaftsministerium. Diese eigenwillige Rechtsabweichung wurde aber vertuscht, während Behörden gleichzeitig stets vom Rotlicht Transparenz fordern.
- Das Resultat ist nicht mehr Freiheiten, sondern mehr Rechtsunsicherheit.
Zeittafel
__.11.1995 Runder Tisch Prostitution Dortmund wird konstituiert auf Initiative Mitternachtsmission.
08.12.1995 Konzept "Bekämpfung der Kriminalität rund um das Rotlicht, insbesondere die Delikte Menschenhandel und illegaler Aufenthalt durch Ausübung der Prostitutionstätigkeit" wird vorgelegt
[Ulrich Kühne, BKA-Herbsttagung'06; Heiner Minzel, Diakonie-EKD-Tagung'01].
22.11.2001 Empfehlungen vom Bund-Länder-Aussschuß Gewerberecht, 90. Tagung: "Es wird keine Notwendigkeit gesehen, von unabhängig arbeitenden Prostituierten eine Gewerbeanmeldung, ggf. auch eine Reisegewerbekarte zu verlangen".
22.02.2002 Erlaß vom NRW Wirtschaftsministerium: "Gewerbeanmeldungen sind zulässig und sollen daher bis auf weiteres entgegengenommen werden. Von den selbstständigen deutschen Prostituierten sollen aber bis zu einer eindeutigen rechtlichen Klärung durch den Gesetzgeber oder die Rechtsprechung keine Gewerbeanzeigen eingefordert werden. (Ausnahme Frauen aus den EU-Beitrittsländern)".
[Dieser Erlass wird unterschiedlich zitiert in 2 unterschiedlichen Fassungen desselben Aufsatzes von Heiner Minzel 2006 und 2008 mit kursivem Text. Es wird (rassistisch?) zwischen deutschen und ausländischen Frauen aus den EU-Beitrittsländern unterschieden.]
01.07.2002 Erlaß vom NRW Wirtschaftsministerium: Prostitution sei nicht als Gewerbe anzusehen.
01.01.2002 ProstG tritt in Kraft www.sexworker.at/prostg
19.03.2002 Verwaltungsvorstand der Stadt Dortmund gibt sein OK für die Annahme von Gewerbeanzeigen von SW und den Maßnahmenkatalog (s.o.).
18.06.2002 Empfehlung vom Bund-Länder-Ausschuß Gewerberecht: "Entsprechende Gewerbeanzeigen und Anträge sind abzuweisen".
18.07.2002 Pressekonferenz Inkrafttreten Dortmunder Modell
__.07.2002 Maßnahmenkatalog forderte Gewerbeanmeldungen bis 09.2002. Inzwischen sind 11 Etablissements geschlossen.
__.__.2006 BKA Herbsttagung wo das Modellprojekt vorgetragen wird
01.03.2007 Tagung der Diakonie "rolle Rückwärts" spricht sich für die Einführung einer Konzessionierung von Bordellbetrieben aus.
Nachtrag!
06.05.2011 Regierungspräsident in Arnsberg beschließt strengen Maßnahmenkatalog gegen Prostitution, Migration und Straßenstrich (weil die Stadt die Migration der Roma aus Stolipinowo anders nicht in den Griff und integriert bekommt werden Sexworker quasi "geopfert"). Modellprojekt der Safe-Sex drive-in Love-Boxen mit Beratungskontainer von KOBER seit 2002 wird 2011 vollständig abgewickelt/abgerissen, obwohl kurz vorher 6 Euro/Nacht Sex/Vergnügungssteuer erhoben wurden und so 7.500 Euro/Monat von der Stadt eingesammelt wurden.
www.sexworker.at/phpBB2/viewtopic.php?p=98231#98231

Akteure
Runder Tisch Prostitution Dortmund, er wird von der Polizei zunächst Runder Tisch Menschenhandel Dortmund benannt
Jutta Geißler-Hehlke, Abteilungsleiterin und
Giesela Zohren, pädag. Mitarbeiterin, Dortmunder Mitternachtsmission, evangelische Diakonie
Arbeitsgemeinschaft im Diakonischen Werk der EKD zu Prostitution und Menschenhandel
Elisabeth Wilfahrt, Kober SW Beratungsstelle, Sozialdienst katholischer Frauen
Heiner Minzel KHK, Sitte KK12 und
Ulrich Kühne, Leiter Zentrale Kriminalitätsbekämpfung, Polizeipräsidium Dortmund
Ralf Leidung und
Ortwin Schäfer, Ordnungsamt Dortmund
Mechthild Greive Rechtsdezernentin Dortmund
Staatsanwaltschaft Dortmund
Ulrich Schönleiter, Ministerialrat Bundeswirtschaftsministerium Bonn/Berlin, Vors. Bund-Länder-Ausschuß Gewerberecht.
...
Zahlen
690.000 Einwohner in Dortmund und Lühnen, dem Zuständigkeitsbereich vom Polizeipräsidium
1.870 Beschäftigte, davon ca. 1.812 Polizeibeamte hat das Polizeipräsidium [Versorgungsquote: 3 Promille je Einwohner]
800 Sexworker [Versorgungsquote: 1 Promille je Einwohner]:
250 in der Bordellstraße mit 16 Häusern für 300 Frauen
180 in Clubs
200 in Appartments
30-50 auf dem Straßenstrich
50 Escort [Minze 2006]
498 Frauen aus Osteuropa festgenommen 1998 wg. Verdacht illegaler Aufenthalt/schwerer Menschenhandel.
200 Betriebe (das sind XXXX SW Arbeitsplätze) wurden in den Jahren bis 2006 geschlossen [Kühne]
45 Betriebe (mit mehr als 3 SW) gibt es 2004
13 Betriebe mit 180 Prostituierten gibt es 2006
11 Betriebe in 2009
20 Betriebe wurden geschlossen (teilweise mehrfach) in den Jahren 2006-2007 [Minzel]
4 Verfahren vor dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen von Betreibern, die Widerspruch eingelegt haben gegen die Verwaltungsverfügung der Stadt Dortmund. Bestandsschutz wurde signalisiert. Einseitiges Anordnungsverfahren konnte durchgesetzt werden. Hauptsacheverfahren ruht im gegenseitigen Einvernehmen.
3 Betriebe der 45 Betriebe hätten bis 2004 eine Gewerbeanmeldung erhalten [Zohren 2004].
8 Betriebe der 9 Betriebe hätten bis 2009 eine Gewerbeanmeldung erhalten und
3 Betreiber hätten auf Gaststättenkonzession verzichtet [Minzel 2006].
Viele SW Gewerbeanmeldungen gäbe es schreibt Polizist Minzel 2006.
Fast Null Gewerbeanmeldungen gäbe es schreibt Ordnungsamtsleiter Schäfer 2007.
Ziele
Sexwork Arbeitsbedingungen zu verbessern wurde angekündigt (verlautbart, vorgeschoben?) und ist die Forderung der Hurenbewegung, aber
Kriminalitäts- und Menschenhandelsbekämpfung lautet der politische Auftrag und die Strategie von Behörden und Polizei:
Verschärfte Überwachung von Prostitution
Verschärfte Überwachung von Migration
Ein Spagat der genau und unabhängig evaluiert werden sollte, was bisher noch aussteht.
Fazit
Die Bilanz von Anmeldung/Konzessionierung ist sehr mager.
Daher wird vermutet, daß das Dortmunder Modell ganz andere Zwecke hat:
- Eindämmung von Prostitution
- verschärfte Kontrolle
- Überwachung
- Die gewerberechtliche Reglementierung von Prostitution und
- die Konzessionierung von Prostitutionsstätten Deutschlandweit salonfähig zu machen ("Modellprojekt").
Doch Konzessionierung scheint bei Licht betrachtet Teil einer repressiven Praxis gegenüber dem Prostitutonsgewerbe zu sein.
Ein Modell für die "Anerkennung" von Prostitution ist es nicht, das sähe anders aus.
Quelle und zitiert nach:
Dortmunder Landrecht - Kritische Anmerkungen zum 'Dortmunder Modell' einer gewerberechtlichen Reglementierung von Prostitution
von Juanita Henning
in La Muchacha Nr. 8, 2011
Seiten 4-6

Inhaltsverzeichnis
Siehe auch:
Gewerberechtliche Anmeldung und Konzessionierung von Prostitutionsstätten am Beispiel: „Dortmunder Modell“
Von H. Minzel 2006
www.kriminalpolizei.de/articles,gewerbe ... ,print.htm
Sicherheitskopie: www.sexworker.at/phpBB2/viewtopic.php?p=20216#20216
Suchwort "Dortmunder Modell" im Sexworker Forum:
www.google.de/search?q=dortmunder+model ... wtopic.php
Gewerberecht und Sexwork:
www.sexworker.at/phpBB2/viewtopic.php?t=4403
Eine genaue Analyse der bundesweiten Rechtlage in Deutschland findet sich hier:
Stellungnahme von Doña Carmen e.V. zum Runden Tisch Prostituiton
Marburg 2009:
www.sexworker.at/phpBB2/viewtopic.php?p=70079#70079
Stadtplan und Sperrgebiet und Bordellstraße Linienstrasse:
www.sexworker.at/phpBB2/viewtopic.php?p=98231#98231

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