In memoriam Isabelle Fortier: "Hure", Buch von Nel
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In memoriam Isabelle Fortier: "Hure", Buch von Nel
In 2001 erschien im renommiertesten Literaturverlag der frankophonen Welt, den Èditions du Seuil in Paris, ein Erstling, der sofort Aufmerksamkeit erregte und auf die shortlist mehrerer angesehener Literaturpreise kletterte. Allein die Tatsache, dass dieses Buch bei Seuil erschien, konnte als Sensation gelten.
Dieses Buch hiess "Putain", zu deutsch "Hure", und bald wurde klar, dass es sich um den weithin autobiografischen Bericht einer jungen kanadischen Intellektuellen handelte, eine intime Erzählung einer Sexarbeiterin über ihre Zeit als "escorte". Aber die hautnahe Schilderung der Arbeit einer Prostituierten ist nicht das eigentliche Thema dieses quälenden Buches. Die dichten und schmerzhaften Gedanken der Autorin betreffen ein tiefes, humanes Feld, die Beziehung zwischen Mann und Frau, die Rolle der Frauen und das Thema, das sich für die Autorin als tödlich erweisen sollte: Altern und Vergehen der körperlichen Schönheit.
Sprache und Aufbau des Buches sind brillant und hinreissend, aber es ist nicht leicht zu lesen, weil man das Leiden der Dichterin am eigenen Leib spürt. Auf keinen Fall hat man eine pornografische Lektüre vor sich, Leser, die sich an schlüpfrigen Schilderungen erfreuen wollen, kommen nicht auf ihre Kosten. Das Buch hat keine Handlung. Atemlos stösst die Verfasserin in langen Sätzen hervor, was sie bewegt. Lässt man sich auf sie ein, wird man mitgerissen in den Wirbel von Gedanken.
Ein genial knappes Einleitungskapitel stellt die Ich-Erzählerin vor und erzählt ihren Weg in die Prostitution, von der Kindheit in der hinterwäldlerischen kanadischen Provinz in einem bigott katholischen Elternhaus, über die von Nonnen geführte Klosterschule zur Universität in der Grossstadt Montréal und in die Prostitution in einer Wohnung und als Escort. Hier im Forum ist schon über die Parallelen zwischen religiösen Orden und dem Quasi-Orden der Huren geschrieben worden: dieser Aspekt wird hier aufgegriffen etwa in dem Verweis auf die "Arbeitsnamen", die Hure und Nonne sich gleichermassen geben. Auf wenigen Seiten wird knapp und konzentriert ein Lebensbild entworfen. Da gibt es schöne Zitate, wie das folgende:
"...travailleuses du sexe, quelle trouvaille que cette appellation, on y sent la reconnaissance des autres pour le plus vieux des métiers du monde, pour la plus vieille des fonctions sociales, j'aime l'idée qu'on puisse travailler le sexe comme on travaille un pâte, que le plaisir soit un labeur, qu'il puisse s'arracher, exiger des efforts et mériter un salaire, ...." - ".. Sexarbeiterinnen, welch Perlenfund von einer Bezeichnung, man spürt darin die Anerkennung der anderen für das älteste Gewerbe der Welt, für die älteste gesellschaftliche Rolle, ich liebe den Gedanken, dass man Sex bearbeiten kann wie man einen Teig bearbeitet, dass die Lust eine Arbeit sein kann, dass man sie herausreissen kann, dass sie Anstrengung erfordert und ein Gehalt verdient ....."
Dann geht es in den Korpus dieses "récits", 169 Seiten über die Reflexionen der jungen Frau, die zumeist allein in der Wohnung in einem riesigen Wohnblock ihre Kunden empfängt ("clients", das dem "Freier" entsprechende "micheton" kommt nicht vor). Sie denkt nach über den Zauber, den die Schönheit der Frauen ausübt, und den Zwang, verführerisch zu sein. Dieser Zwang zum Verführerischsein, diese Sucht, unwiderstehlicher Mittelpunkt zu sein haben sie nicht nur in die Prostitution geworfen, sondern sind ihre existenzielle Triebfeder. Aber schon wirken die Kräfte der Verderbnis, schon beginnt die Schönheit zu vergehen, und mit Entsetzen beobachtet sie, wie ihre Hüften anfangen, runder zu werden ... Zwischen zwei Gästen blättert sie in Magazinen, in denen 15jährige Mädchen posieren, und die Zwanzigjährige spürt den Verfall.
Die Beziehungen zwischen Mann und Frau sind in ihren augen nur kurzlebig, alsbald verkommt die bezaubernde junge Frau zur aufgedunsenen, hässlichen Larve, als die die Ich-Erzählerin ihre Mutter schildert. Die Männer überlassen diese käsige Teigmasse ihrem Schicksal und wenden sich den jungen Huren zu.
Ihre Prostitution empfindet die Ich-Erzählerin einstweilen lustvoll, sie ist gerne Hure. Einige Klienten werden plastisch geschildert und so genau, dass es im Hurenforum "Montreal Escort Review Board" (MERB) zu Blätterrauschen kam. Das Buch wurde ein Bestseller, übersetzt ins Deutsche (erschienen im vornehmen Beck-Verlag), Englische (sehr kompetent von Bruce Benderson), Spanische, Russische, und, glaube ich, Niederländische, wahrscheinlich noch viele andere Sprachen. Die Autorin wurde zur literarischen Celebrity und Autorität.
Nun zur schönen, tragischen und schrecklichen Geschichte der Isabelle Fortier. Geboren wurde sie am 05.03.1973 in Estrie am Lac Mégantic in der Provinz Québec. Nach dem Besuch der Klosterschule begann sie 1992 ein Literaturstudium an der UQAM (Université du Québec à Montréal) in Montréal. 1993 liess sie Nacktaufnahmen für eine Pornoagentur machen, und 1995 prostituierte sie sich in der Agentur eines "Monsieur Jacques" als Escort und in einer Wohnung. Später arbeitete sie mit einer befreundeten Kollegin in einer eigenen Agentur mit dem witzigen, doppeldeutigen Namen "Private Lies". Sie beendete ihr Bachelor- und Masterstudium mit einer Magisterarbeit über den Präsidenten Schreber, einen hohen Richter im Wien des 19. Jahrhunderts, der seinen eigenen Schizophreniefall in einem berühmten Tagebuch beschrieben hat. Zunächst als Therapiemittel begann sie auf Anregung ihres Psychiaters mit ihren Aufzeichnungen. Der Psychiater erkannte den literarischen Wert und veranlasste den Kontakt nach Paris. Alles weitere: siehe oben.
Isabelle war überhaupt nicht darauf vorbereitet, in das Rampenlicht der Öffentlichkeit geschossen zu werden. In letzter Minute erst hatte sie das Pseudonym "Nelly Arcan" gewählt (dessen Bedeutung noch nicht erschlossen ist) in dem Versuch, ihre Eltern und Familie zu schützen. Ihre ersten Auftritte in Talkshows und Interviews waren linkisch und ungeschickt. Zunächst versuchte sie, ihre Geschichte als Fiktion darzustellen, aber die User des MERB waren schnell zur Stelle. Sie erkannten sie als "Marylin". Die Fachkritik feierte "Putain" enthusiastisch. Natürlich zischten auch böse Stimmen, zum einen Teil wurde Isabelle als Ex-Prostituierte und Aussenseiterin kritisiert, zum anderen Teil warf man ihr vor, die anrüchige Vergangenheit erfunden zu haben, um den Absatz zu steigern. Widersprüche und Übelwollen also.
Aber nun war Isabelle Fortier als Grösse der Literatur etabliert, und das gesellschaftliche Stigma spielte keine Rolle mehr. Neben ihren Tätigkeiten als gefragte Kommentatorin, Kolumnistin, Literaturstern und Jury-Beisitzerin schrieb sie die Romane "Folle" (2004; deutsch "Hörig"), arbeitete als Beraterin in Anne Fontaines Film "Nathalie" (mit Émanuelle Béart und Gerard Depardieu), schrieb "À ciel ouvert" (2007; "Bei offenem Himmel"), "L'enfant dans le mirroir" (2009; "Das Kind im Spiegel") und zuletzt "Paradis, clef à main" (2009; "Paradies, schlüsselfertig"). Der Erfolg normalisierte sich nunmehr, nach "Hörig" wurde keines der Bücher mehr ins Deutsche übersetzt.
Spätestens nach "Hörig" war die Suizidgefährdung der Autorin unübersehbar. Obwohl sich ihre Lebenssituation erfreulich ausnahm: ihre Familienverhältnisse waren wieder freundschaftlich und stabil, sie hatte einen liebenden Freund und einen Freundeskreis, war eine anerkannte Kulturpersönlichkeit und materiell abgesichert - trotz allem war Isabelle Fortier nicht zu helfen. Isabelle Fortier erhängte sich am 24.09.2009 in ihrem Appartement in Montréal. Die Nachricht löste in ganz Kanada grosse Trauer aus.
Isabelle Fortier war eine grosse Frau, eine grosse Autorin und eine riesige Begabung. Sie war beeindruckend als Sexarbeiterin - eine Bezeichnung, die ihr so gut gefallen hat. Sie war anrührend in ihrem Leiden. R. I. P.
Friederike
Dieses Buch hiess "Putain", zu deutsch "Hure", und bald wurde klar, dass es sich um den weithin autobiografischen Bericht einer jungen kanadischen Intellektuellen handelte, eine intime Erzählung einer Sexarbeiterin über ihre Zeit als "escorte". Aber die hautnahe Schilderung der Arbeit einer Prostituierten ist nicht das eigentliche Thema dieses quälenden Buches. Die dichten und schmerzhaften Gedanken der Autorin betreffen ein tiefes, humanes Feld, die Beziehung zwischen Mann und Frau, die Rolle der Frauen und das Thema, das sich für die Autorin als tödlich erweisen sollte: Altern und Vergehen der körperlichen Schönheit.
Sprache und Aufbau des Buches sind brillant und hinreissend, aber es ist nicht leicht zu lesen, weil man das Leiden der Dichterin am eigenen Leib spürt. Auf keinen Fall hat man eine pornografische Lektüre vor sich, Leser, die sich an schlüpfrigen Schilderungen erfreuen wollen, kommen nicht auf ihre Kosten. Das Buch hat keine Handlung. Atemlos stösst die Verfasserin in langen Sätzen hervor, was sie bewegt. Lässt man sich auf sie ein, wird man mitgerissen in den Wirbel von Gedanken.
Ein genial knappes Einleitungskapitel stellt die Ich-Erzählerin vor und erzählt ihren Weg in die Prostitution, von der Kindheit in der hinterwäldlerischen kanadischen Provinz in einem bigott katholischen Elternhaus, über die von Nonnen geführte Klosterschule zur Universität in der Grossstadt Montréal und in die Prostitution in einer Wohnung und als Escort. Hier im Forum ist schon über die Parallelen zwischen religiösen Orden und dem Quasi-Orden der Huren geschrieben worden: dieser Aspekt wird hier aufgegriffen etwa in dem Verweis auf die "Arbeitsnamen", die Hure und Nonne sich gleichermassen geben. Auf wenigen Seiten wird knapp und konzentriert ein Lebensbild entworfen. Da gibt es schöne Zitate, wie das folgende:
"...travailleuses du sexe, quelle trouvaille que cette appellation, on y sent la reconnaissance des autres pour le plus vieux des métiers du monde, pour la plus vieille des fonctions sociales, j'aime l'idée qu'on puisse travailler le sexe comme on travaille un pâte, que le plaisir soit un labeur, qu'il puisse s'arracher, exiger des efforts et mériter un salaire, ...." - ".. Sexarbeiterinnen, welch Perlenfund von einer Bezeichnung, man spürt darin die Anerkennung der anderen für das älteste Gewerbe der Welt, für die älteste gesellschaftliche Rolle, ich liebe den Gedanken, dass man Sex bearbeiten kann wie man einen Teig bearbeitet, dass die Lust eine Arbeit sein kann, dass man sie herausreissen kann, dass sie Anstrengung erfordert und ein Gehalt verdient ....."
Dann geht es in den Korpus dieses "récits", 169 Seiten über die Reflexionen der jungen Frau, die zumeist allein in der Wohnung in einem riesigen Wohnblock ihre Kunden empfängt ("clients", das dem "Freier" entsprechende "micheton" kommt nicht vor). Sie denkt nach über den Zauber, den die Schönheit der Frauen ausübt, und den Zwang, verführerisch zu sein. Dieser Zwang zum Verführerischsein, diese Sucht, unwiderstehlicher Mittelpunkt zu sein haben sie nicht nur in die Prostitution geworfen, sondern sind ihre existenzielle Triebfeder. Aber schon wirken die Kräfte der Verderbnis, schon beginnt die Schönheit zu vergehen, und mit Entsetzen beobachtet sie, wie ihre Hüften anfangen, runder zu werden ... Zwischen zwei Gästen blättert sie in Magazinen, in denen 15jährige Mädchen posieren, und die Zwanzigjährige spürt den Verfall.
Die Beziehungen zwischen Mann und Frau sind in ihren augen nur kurzlebig, alsbald verkommt die bezaubernde junge Frau zur aufgedunsenen, hässlichen Larve, als die die Ich-Erzählerin ihre Mutter schildert. Die Männer überlassen diese käsige Teigmasse ihrem Schicksal und wenden sich den jungen Huren zu.
Ihre Prostitution empfindet die Ich-Erzählerin einstweilen lustvoll, sie ist gerne Hure. Einige Klienten werden plastisch geschildert und so genau, dass es im Hurenforum "Montreal Escort Review Board" (MERB) zu Blätterrauschen kam. Das Buch wurde ein Bestseller, übersetzt ins Deutsche (erschienen im vornehmen Beck-Verlag), Englische (sehr kompetent von Bruce Benderson), Spanische, Russische, und, glaube ich, Niederländische, wahrscheinlich noch viele andere Sprachen. Die Autorin wurde zur literarischen Celebrity und Autorität.
Nun zur schönen, tragischen und schrecklichen Geschichte der Isabelle Fortier. Geboren wurde sie am 05.03.1973 in Estrie am Lac Mégantic in der Provinz Québec. Nach dem Besuch der Klosterschule begann sie 1992 ein Literaturstudium an der UQAM (Université du Québec à Montréal) in Montréal. 1993 liess sie Nacktaufnahmen für eine Pornoagentur machen, und 1995 prostituierte sie sich in der Agentur eines "Monsieur Jacques" als Escort und in einer Wohnung. Später arbeitete sie mit einer befreundeten Kollegin in einer eigenen Agentur mit dem witzigen, doppeldeutigen Namen "Private Lies". Sie beendete ihr Bachelor- und Masterstudium mit einer Magisterarbeit über den Präsidenten Schreber, einen hohen Richter im Wien des 19. Jahrhunderts, der seinen eigenen Schizophreniefall in einem berühmten Tagebuch beschrieben hat. Zunächst als Therapiemittel begann sie auf Anregung ihres Psychiaters mit ihren Aufzeichnungen. Der Psychiater erkannte den literarischen Wert und veranlasste den Kontakt nach Paris. Alles weitere: siehe oben.
Isabelle war überhaupt nicht darauf vorbereitet, in das Rampenlicht der Öffentlichkeit geschossen zu werden. In letzter Minute erst hatte sie das Pseudonym "Nelly Arcan" gewählt (dessen Bedeutung noch nicht erschlossen ist) in dem Versuch, ihre Eltern und Familie zu schützen. Ihre ersten Auftritte in Talkshows und Interviews waren linkisch und ungeschickt. Zunächst versuchte sie, ihre Geschichte als Fiktion darzustellen, aber die User des MERB waren schnell zur Stelle. Sie erkannten sie als "Marylin". Die Fachkritik feierte "Putain" enthusiastisch. Natürlich zischten auch böse Stimmen, zum einen Teil wurde Isabelle als Ex-Prostituierte und Aussenseiterin kritisiert, zum anderen Teil warf man ihr vor, die anrüchige Vergangenheit erfunden zu haben, um den Absatz zu steigern. Widersprüche und Übelwollen also.
Aber nun war Isabelle Fortier als Grösse der Literatur etabliert, und das gesellschaftliche Stigma spielte keine Rolle mehr. Neben ihren Tätigkeiten als gefragte Kommentatorin, Kolumnistin, Literaturstern und Jury-Beisitzerin schrieb sie die Romane "Folle" (2004; deutsch "Hörig"), arbeitete als Beraterin in Anne Fontaines Film "Nathalie" (mit Émanuelle Béart und Gerard Depardieu), schrieb "À ciel ouvert" (2007; "Bei offenem Himmel"), "L'enfant dans le mirroir" (2009; "Das Kind im Spiegel") und zuletzt "Paradis, clef à main" (2009; "Paradies, schlüsselfertig"). Der Erfolg normalisierte sich nunmehr, nach "Hörig" wurde keines der Bücher mehr ins Deutsche übersetzt.
Spätestens nach "Hörig" war die Suizidgefährdung der Autorin unübersehbar. Obwohl sich ihre Lebenssituation erfreulich ausnahm: ihre Familienverhältnisse waren wieder freundschaftlich und stabil, sie hatte einen liebenden Freund und einen Freundeskreis, war eine anerkannte Kulturpersönlichkeit und materiell abgesichert - trotz allem war Isabelle Fortier nicht zu helfen. Isabelle Fortier erhängte sich am 24.09.2009 in ihrem Appartement in Montréal. Die Nachricht löste in ganz Kanada grosse Trauer aus.
Isabelle Fortier war eine grosse Frau, eine grosse Autorin und eine riesige Begabung. Sie war beeindruckend als Sexarbeiterin - eine Bezeichnung, die ihr so gut gefallen hat. Sie war anrührend in ihrem Leiden. R. I. P.
Friederike
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R.I.P.
Ihr Buch habe ich seinerzeit auf meinem Arbeits-Lotterbett gelesen, so wie sie Illustrierte durchblätterte und fand ihre Postition zur Sexarbeit und den Männern letztlich negativ. Evt. liegt das auch an der ursprünglichen Funktion der Textproduktion: "Zunächst als Therapiemittel begann sie auf Anregung ihres Psychiaters mit ihren Aufzeichnungen."
Ich habe den literarischen Wert nicht erkannt, wohl aber ihre sehr differenzierte Wahrnehmung, sensiblen gebildeten Formulierungen und richtigen Situations- und Charakterbeschreibungen der Prostitution und Prostituanden.
Ich vermute den Erfolg des Buches daher darin, daß ihre Darstellungen von Sexwork, Sexworkererlebnissen und -gefühlen dem Bild der veröffentlichten Mehrheitsmeinung kompatibel sind. Also nicht literarische Leistung und Qualität sondern vielmehr mediale Interessensgleichheit bis hin zu gesellschaftskompatibler Prostitutionsfeindlichkeit.
Danke für die vielen Infos wie z.B. Magisterarbeit über den Präsidenten Schreber, einen hohen Richter im Wien des 19. Jahrhunderts.
Als Theater
www.sexworker.at/phpBB2/viewtopic.php?p=46706#46706
Depressiver Huren Comix
www.sexworker.at/phpBB2/viewtopic.php?p=31152#31152
Sammelthema Studentensexworker
www.sexworker.at/phpBB2/viewtopic.php?t=2371
Nelly Arcan aka Isabelle Fortier (1973-2009)
http://de.wikipedia.org/wiki/Nelly_Arcan
Ich habe den literarischen Wert nicht erkannt, wohl aber ihre sehr differenzierte Wahrnehmung, sensiblen gebildeten Formulierungen und richtigen Situations- und Charakterbeschreibungen der Prostitution und Prostituanden.
Ich vermute den Erfolg des Buches daher darin, daß ihre Darstellungen von Sexwork, Sexworkererlebnissen und -gefühlen dem Bild der veröffentlichten Mehrheitsmeinung kompatibel sind. Also nicht literarische Leistung und Qualität sondern vielmehr mediale Interessensgleichheit bis hin zu gesellschaftskompatibler Prostitutionsfeindlichkeit.
- Nelly Arcan aka Isabelle Fortier (1973-2009):
Putain (2001), Hure (2004)
www.amazon.de/dp/3423131934
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Zuletzt geändert von Marc of Frankfurt am 27.04.2011, 07:27, insgesamt 3-mal geändert.
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R.I.P.
[youtube]http://www.youtube.com/watch?v=eFHZ_zwQp1k[/youtube]
www.facebook.com/group.php?gid=141519589786
Sexworker Suizide
www.sexworker.at/phpBB2/viewtopic.php?p=14824#14824
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RE: In memoriam Isabelle Fortier: "Hure", Buch von
Lieber Marc,
natürlich waren die Stimmen gleich zu hören, dass wieder einmal eine Frau das Opfer der Prostitution geworden ist und Isabelle Fortier zur Begründung für Unterdrückung herhalten soll. Aber gerade so ist es nicht.
Das genaue Lesen von "Putain" und erst recht der Kontext ihrer späteren Bücher zeigen ganz genau, dass ihre Prostitution nicht die Ursache ihrer Selbstqualen war, sondern eine therapeutische Erfahrung. In "Folle" revoziert sie ausdrücklich die kritischen Wertungen ihres ersten Buches. Im Kern geht es vermutlich um ein Narzismus-Problem (aber ich bin keine Psychologin), ein Selbstwert- und Selbstachtungsproblem, das eine Zeitlang durch den Selbstaufwertungseffekt aus dem Erfolg als Prostituierte kompensiert werden konnte.
Die Kausalitätsfrage ist jedenfalls aus meiner Sicht sehr eindeutig. Isabelle ist aus freiem Entschluss Prostituierte geworden und hat diesen Beruf zumindest anfangs gerne ausgeübt (das sagt sie sowohl in "Putain" als auch in "Folle"). Das Buch hat sie nach fünf Jahren geschrieben, um sich neu zu orientieren - die Betäubung hatte aufgehört zu wirken, die Wunde tat wieder weh. So ähnlich stelle ich mir die Erklärung vor. Auf jeden Fall ist es eine traurige Geschichte, ich hätte gerne etwas tun können, um dieses Ende zu verhindern (als ich die Bücher gelesen habe, hat sie noch gelebt).
Präsident Schreber: klar, gerne.
LG,
Friederike
natürlich waren die Stimmen gleich zu hören, dass wieder einmal eine Frau das Opfer der Prostitution geworden ist und Isabelle Fortier zur Begründung für Unterdrückung herhalten soll. Aber gerade so ist es nicht.
Das genaue Lesen von "Putain" und erst recht der Kontext ihrer späteren Bücher zeigen ganz genau, dass ihre Prostitution nicht die Ursache ihrer Selbstqualen war, sondern eine therapeutische Erfahrung. In "Folle" revoziert sie ausdrücklich die kritischen Wertungen ihres ersten Buches. Im Kern geht es vermutlich um ein Narzismus-Problem (aber ich bin keine Psychologin), ein Selbstwert- und Selbstachtungsproblem, das eine Zeitlang durch den Selbstaufwertungseffekt aus dem Erfolg als Prostituierte kompensiert werden konnte.
Die Kausalitätsfrage ist jedenfalls aus meiner Sicht sehr eindeutig. Isabelle ist aus freiem Entschluss Prostituierte geworden und hat diesen Beruf zumindest anfangs gerne ausgeübt (das sagt sie sowohl in "Putain" als auch in "Folle"). Das Buch hat sie nach fünf Jahren geschrieben, um sich neu zu orientieren - die Betäubung hatte aufgehört zu wirken, die Wunde tat wieder weh. So ähnlich stelle ich mir die Erklärung vor. Auf jeden Fall ist es eine traurige Geschichte, ich hätte gerne etwas tun können, um dieses Ende zu verhindern (als ich die Bücher gelesen habe, hat sie noch gelebt).
Präsident Schreber: klar, gerne.
LG,
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Dr. Daniel Schreber
Du meinst bestimmt Dr. Daniel Paul Schreber, der seine eigene Geisteskrankheit beschrieben hat?
Hier gibts eine Diplomarbeit: Psychoanalytische Theorien der Psychosen. Von Freud bis Lacan.
Verfasserin: Astrid Arminger (angestrebter Grad: Magistra der Philosophie)
In dieser wird der Fall Schreber ebenfalls dargestellt.
Isabelle Fortier:
Le poids des mots, ou, La matérialité du langage dans Les mémoires d'un névropathe de Daniel Paul Schreber
figura - centre de recherche
Anzeige des Bestatters
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Hier gibts eine Diplomarbeit: Psychoanalytische Theorien der Psychosen. Von Freud bis Lacan.
Verfasserin: Astrid Arminger (angestrebter Grad: Magistra der Philosophie)
In dieser wird der Fall Schreber ebenfalls dargestellt.
Isabelle Fortier:
Le poids des mots, ou, La matérialité du langage dans Les mémoires d'un névropathe de Daniel Paul Schreber
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Ich denke auch, dass es sich eher um diesen Schreber handelt...
Daniel Paul Schreber: Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken, Frankfurt a.M. u.a. 1973 (Erstausgabe 1903), wobei seine Phantasien und Wachträume durchaus als "sachbezogen" angesehen werden könnten: "„daß es doch eigentlich recht
schön sein müsse, ein Weib zu sein, das dem Beischlaf unterliege.“
In unseren Breiten bzw. spez. in Wien ist sein Name ein Begriff durch die "Schreber-Gärten"
Und hierbei dürfte es sich um ihre Arbeit handeln:
FORTIER, Isabelle, Le poids des mots, ou, La matérialité du langage dans Les mémoires d’un névropathe
de Daniel Paul Schreber, Mémoire de maîtrise en études littéraires, Université du Québec à Montréal,
2003, 114 pages.
Daniel Paul Schreber: Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken, Frankfurt a.M. u.a. 1973 (Erstausgabe 1903), wobei seine Phantasien und Wachträume durchaus als "sachbezogen" angesehen werden könnten: "„daß es doch eigentlich recht
schön sein müsse, ein Weib zu sein, das dem Beischlaf unterliege.“
In unseren Breiten bzw. spez. in Wien ist sein Name ein Begriff durch die "Schreber-Gärten"
Und hierbei dürfte es sich um ihre Arbeit handeln:
FORTIER, Isabelle, Le poids des mots, ou, La matérialité du langage dans Les mémoires d’un névropathe
de Daniel Paul Schreber, Mémoire de maîtrise en études littéraires, Université du Québec à Montréal,
2003, 114 pages.
Viele Leute hinterlassen Spuren, nur wenige Eindrücke!
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- PlatinStern
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Es gibt zwei Schrebers, Vater und Sohn. Nach dem Vater sind auch die Schreber-Gärten benannt. Daniel Gottlieb Moritz Schreber (1808-1861) wurde auch als Hauptvertreter der "Schwarzen Pädagogik" bekannt, indem er seine Kinder an den Tisch fesselte und seine Methoden als erstes an ihnen probierte. Vier seiner Kinder endeten in der Psychiatrie, darunter der Präsident, also der Senatspräsident Daniel Paul Schreber (1842-1911), der kurz vor seiner Kandidatur für den Reichstag durch einen Nervenzusammenbruch aus seiner Karriere herausgerissen wurde. Mehrere Suizidversuche folgten. Seine Autobiographie wurde auf Druck der Familie zurückgezogen und vernichtet. Kein Wunder.
Es ist offenbar kein Zufall, dass Isabelle Fortier sich die Biographie des unglücklichen Schreber als Forschungsgegenstand gesucht hatte. Mir ist gut bekannt, wie oft die Wahl des Forschungsgegenstands aufgrund eigener biographischer Erlebnisse gefärbt ist. Man tut gut daran, vorher darüber zu reflektieren, bevor man sich über Jahre an die Mammutarbeit einer Doktorarbeit oder einer grösseren Ausarbeitung wagt. Manch ein Doktorand endete in der Psychiatrie. Bzw. auch manche wissenschaftliche Karrieren und das hat nichts mit dem überlieferten Bon Mot "Genie und Wahnsinn" zu tun. Es gibt auch kluge Menschen, die nicht leiden und behandlungsbedürftig sind.
Ich habe das Buch "Hure" kurz nach seinem Erscheinen in deutscher Sprache gelesen, aber es hat mich in ihren Beschreibungen, in der Abwehr in bezug auf ihre Arbeit damals schon erschreckt und empfand es nicht sonderlich empfehlenswert. Ich frug mich beim Lesen auch, was da eigentlich abgearbeitet wird.
Traurig ist es, von dem Tod dieser jungen Frau zu lesen. War mir bislang unbekannt. R.I.P. Isabelle
Es ist offenbar kein Zufall, dass Isabelle Fortier sich die Biographie des unglücklichen Schreber als Forschungsgegenstand gesucht hatte. Mir ist gut bekannt, wie oft die Wahl des Forschungsgegenstands aufgrund eigener biographischer Erlebnisse gefärbt ist. Man tut gut daran, vorher darüber zu reflektieren, bevor man sich über Jahre an die Mammutarbeit einer Doktorarbeit oder einer grösseren Ausarbeitung wagt. Manch ein Doktorand endete in der Psychiatrie. Bzw. auch manche wissenschaftliche Karrieren und das hat nichts mit dem überlieferten Bon Mot "Genie und Wahnsinn" zu tun. Es gibt auch kluge Menschen, die nicht leiden und behandlungsbedürftig sind.
Ich habe das Buch "Hure" kurz nach seinem Erscheinen in deutscher Sprache gelesen, aber es hat mich in ihren Beschreibungen, in der Abwehr in bezug auf ihre Arbeit damals schon erschreckt und empfand es nicht sonderlich empfehlenswert. Ich frug mich beim Lesen auch, was da eigentlich abgearbeitet wird.
Traurig ist es, von dem Tod dieser jungen Frau zu lesen. War mir bislang unbekannt. R.I.P. Isabelle
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@@alle:
Genau richtig.
Dieses Buch ist kein leichtes Lesen und auch kein angenehmes, unterhaltsames. ".... was da eigentlich abgearbeitet wird": wie ich versucht habe zu sagen, ist es NICHT die Prostitutionserfahrung, gegen die revoltiert wird, sondern die narzistische Angst vor Beziehungslosigkeit (wenn man will: Einsamkeit) und Alter und Verfall - wenn man es ganz verkürzt sagen will.
Es wäre wünschenswert, wenn sich ein Biograph für dieses Leben finden würde.
Friederike
Genau richtig.
Dieses Buch ist kein leichtes Lesen und auch kein angenehmes, unterhaltsames. ".... was da eigentlich abgearbeitet wird": wie ich versucht habe zu sagen, ist es NICHT die Prostitutionserfahrung, gegen die revoltiert wird, sondern die narzistische Angst vor Beziehungslosigkeit (wenn man will: Einsamkeit) und Alter und Verfall - wenn man es ganz verkürzt sagen will.
Es wäre wünschenswert, wenn sich ein Biograph für dieses Leben finden würde.
Friederike
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Re: In memoriam Isabelle Fortier: "Hure", Buch von

Ja, stimmt, 2004. Nicht gelesen, aber ich werd's mir merken. Interessante Schilderung, Friederike!friederike hat geschrieben: übersetzt ins Deutsche (erschienen im vornehmen Beck-Verlag), Englische (sehr kompetent von Bruce Benderson), Spanische, Russische, und, glaube ich, Niederländische,
Guten Abend, schöne Unbekannte!
Joachim Ringelnatz
Joachim Ringelnatz
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RE: In memoriam Isabelle Fortier: "Hure", Buch von
Zufällig bin ich auf einen Pressebericht über die Beerdigungsfeierlichkeiten für Isabelle Fortier gestoßen:
http://www.lapresse.ca/la-tribune/estri ... -arcan.php
Der Bericht berührt mich, weil ihre Familie auftritt und ganz offensichtlich tief um sie trauert.
http://www.lapresse.ca/la-tribune/estri ... -arcan.php
Der Bericht berührt mich, weil ihre Familie auftritt und ganz offensichtlich tief um sie trauert.