Verbrechen katholischer Priester

Abgesehen vom Fehlen der nötigen Hilfsinstitutionen für Sexworker findet hier auch alles Platz, was ihr an bestehenden Einrichtungen auszusetzen habt oder loben wollt
Benutzeravatar
Aoife
Senior Admin
Senior Admin
Beiträge: 7067
Registriert: 20.09.2008, 21:37
Wohnort: Ludwigshafen am Rhein
Ich bin: Keine Angabe

Re: RE: Verbrechen katholischer Priester

Beitrag von Aoife »

          Bild
Green_Apple hat geschrieben:Was mich an sich an diesem ganzen Thema stört ist, dass man von einzelnen Priester auf alle und auf die ganze Kirche schließt.
Danke für den Hinweis, Green_Apple, und offen gesagt: Wir haben auch schon in diese Richtung gedacht. Wobei eigentlich nur der thread title so einseitig ist, in den einzelnen Beiträgen wird ja durchaus ausgewogen argumentiert.

Ein Problem habe ich allerdings mit der ebenfalls verallgemeinernden Zusammenfassung "...auf alle und auf die ganze Kirche ..." - auf alle zu schließen ist sicherlich falsch, damit aber gleich auch den Schluß auf die Kirche als falsch hinzustellen ist jedoch zumindest voreilig. Denn "die Kirche" als Führungsebene und Herrschaftsstruktur ist da sicher nicht als unschuldig zu betrachten, je mehr bekannt wird, umso offensichtlicher wird, dass gerade von hier aus pro-Pädophilie und pro-Mißbrauch gearbeitet wird.

Liebe Grüße, Aoife
It's not those who inflict the most, but those who endure the most, who will conquer. MP.Vol.Bobby Sands
'I know kung fu, karate, and 37 other dangerous words'
Misspellings are *very special effects* of me keyboard

ehemaliger_User
verifizierte UserIn
verifizierte UserIn
Beiträge: 2968
Registriert: 27.04.2008, 15:25
Ich bin: Keine Angabe

Beitrag von ehemaliger_User »

In diesem Buchgeht es nicht um Priester, aber ebenfalls um organisiertes Kinderschänder in einer nac h aussen geschlossenen Gesellschaft.

Jürgen Dehmers
Wie laut soll ich denn noch schreien?
Die Odenwaldschule und der sexuelle Missbrauch


Rowohlt
Hardcover, 320 S.
01.09.2011
19,95 € (D)
978-3-498-01332-5

Klappentext

Der Missbrauchsskandal an der Odenwaldschule hat die deutsche Öffentlichkeit in Atem gehalten. Dass ausgerechnet in einer pädagogischen Modellschule sexuelle Übergriffe stattgefunden haben, schockierte die Menschen − und viele wollten die schreckliche Wahrheit zuerst nicht glauben, weil die Ereignisse ihre Vorstellungskraft überstiegen. Dazu sagt Jürgen Dehmers: «Hört auf, euch etwas vorzustellen, hört uns endlich zu!»

Mittlerweile ist bekannt, dass über hundert Schüler Opfer des Missbrauchs wurden und mehr als ein Dutzend Lehrer und Erzieher zu den Tätern gehören.

Mit Jürgen Dehmers berichtet der Initiator der Aufklärung persönlich von den Vorfällen. Dehmers gelang es bereits als jungem Mann, trotz massiver Traumatisierungen und ideologischer Gehirnwäsche ein Leben nach der Odenwaldschule zu finden und Distanz zwischen sich und den schrecklichen Erlebnissen zu schaffen.

Das Buch demaskiert die Täter und ihre Helfer, die schutzbefohlenen Kindern unheilbare Verletzungen zugefügt haben. Darüber hinaus gelingt es dem Autor, das «System Odenwaldschule» zu beleuchten und dem Leser die Hintergrundinformationen zu liefern, wie es dazu kommen konnte, dass der sexuelle Missbrauch von Kindern zum Alltag einer hochgelobten Reformschule gehörte, in der die Schule alles war und das einzelne Kind nichts.

Ein Aufklärungskrimi, der spannend bleibt bis zum Schluss, obwohl die Täter ab der ersten Seite bekannt sind.

ÜBER DEN AUTOR

Jürgen Dehmers ist das Alter Ego eines Autors, der als Schüler in den 80er Jahren die Odenwaldschule besuchte, dort eines der Opfer des Schulleiters Gerold Becker wurde und seit über einem Jahrzehnt Täter, Mitwisser, Schweiger und Vertuscher mit ihren Verbrechen konfrontiert. Jürgen Dehmers nutzt die Medien zur Anklage der Verantwortlichen, da durch das deutsche Rechtssystem wegen unzureichender Verjährungsfristen keine juristische Gerechtigkeit mehr geschaffen werden kann. Im Jahr 2010 gelang ihm die weitreichende Vernetzung der Betroffenen, und er wurde endlich von einer breiten Öffentlichkeit gehört.

Für die "taz" schreibt am 7.9.2011 AXEL LAWACZECK über das Buch:

"Der Herr Direktor entlädt sich." Was für ein Satz. Ekelerregend. Und doch nur einer von vielen. Knorzelige Männerfüße. Turnschuhe gegen Geschlechtsverkehr. Spermatücher. Erzwungene Wichsrituale. Chronisch besoffene Vierzehnjährige. In den Tod getriebene Jugendliche. Gewaltsam aufgepresste Kinderkiefer, zwischen die sich gierige Männerzungen bohren. Eine Vaselinedose mit Kotspuren im Schlafzimmer Gerold Beckers.

So steht es im Buch von Jürgen Dehmers, "Wie laut soll ich denn noch schreien?" Die klare Sprache ist eine der große Stärken des Buches.

Dabei ist Dehmers Sprache im besten Sinne des Wortes normal. Sie bezeichnet Dinge als das, was sie sind. Der Verzicht auf rhetorische Weichzeichner macht die Taten der Schänder sichtbar. Wie soll schließlich Empathie mit den Opfern entstehen, wenn nur von "Missbrauch" die Rede ist, also einer eventuell verunglückten Form des "Gebrauchs"? Wie sollen Zusammenhänge erkennbar sein, wenn sie von abstrakten Termini begleitet werden, die nichts anderes sind als verbale Nebelgranaten?

Pädophilie selbst ist solch ein unerträgliches Wort. Als könne man ernsthaft sagen, dass ein Pädophiler Kindern zugetan sei, so wie ein Frankophiler eben Frankreich liebt. Es gehört zu den großen Perversionen des allgemeinen Sprachkonsenses, dass mit diesem Begriff die Freundschaft zu Kindern ausgerechnet denen zugesprochen wird, die sie zerstören.

Vertuscher ficken die Sprache

Wer Kinder als Sexualobjekte betrachtet, liebt sie nicht. Manchmal sind Sachverhalte tatsächlich so einfach. Und so, wie Gerold Becker, Wolfgang Held und andere, teils noch unbenannte Täter Kinder systematisch vergewaltigten und quälten, so wird die Sprache von den Vertuschern und Relativierern, nein, nicht missbraucht, sondern gefickt. Klartext hilft. Dehmers spricht ihn. In rationaler Leidenschaft, innerlich erregt und doch äußerlich gelassen.

Mittlerweile dürfte Jürgen Dehmers einer der bekanntesten Unbekannten Deutschlands sein. Sein Name ist ein Pseudonym - und gleichzeitig Synonym für die Aufklärungsbemühungen rund um die OSO, die renommierte Odenwaldschule Ober-Hambach, das liberale Vorzeigeinternat des besseren Deutschlands. Gemeinsam mit Thorsten Wiest begann Dehmers bereits im November 1999 öffentlich Licht in die systematischen Verbrechen zu bringen, die jahrzehntelang ein fester Bestandteil des Leuchtturms der Reformpädagogik waren.

Doch das Licht, entzündet mit Hilfe der Frankfurter Rundschau, wurde wie von einem schwarzen Loch geschluckt: Jürgen Dehmers zeigt in seinem Buch detailliert und unter Nennung von Namen, wie die Täter feixten, die Verantwortlichen taktierten und die Medien wegschauten. Und wer bis zu diesem Zeitpunkt denkt, der Zorn über die Taten Gerold Beckers und seiner pädosexuellen Kamarilla könne nicht noch größer werden, wird beim Lesen eines Besseren belehrt.

Angst essen Seele auf - was ist eine Schule wert, die aus reinem Selbsterhaltungsflehen die Täter vor ihren Opfern schützt? Dehmers zitiert aus dem Artikel der Frankfurter Rundschau, in dem der Nachfolger Beckers im Amt des Schuldirektors, Wolfgang Harder, erklärt, dass der Missbrauch von Schülern ein Stück Vergangenheit sei. Dass er, Harder, keine Veranlassung gesehen habe, an die Öffentlichkeit zu gehen. Und dass schließlich alle Menschen auch von Herrn Beckers Wirken profitiert hätten. Es ist eines Schuldirektors schlicht unwürdig, so zu argumentieren. Denn es gibt nichts Gutes im Schlechten: Darin gleichen die Verdienste Beckers den Autobahnen Hitlers.

Reformpädagoge auf dem Ledersessel

Ganz nebenbei bereitet Jürgen Dehmers allen Mutmaßungen über die mögliche Mitwisserschaft Hartmut von Hentigs, des Lebenspartners Gerold Beckers, ein abruptes Ende. Er benötigt nicht mehr als einen kurzen Absatz, um das Werk des Gottes der deutschen Reformpädagogik in den Staub zu treten: "Ich hatte Hentig als Kind kennen gelernt.

Er saß bei einem Besuch Beckers in dessen Wohnzimmer in einem der flachen Ledersessel, von denen gut ein Dutzend in Beckers Wohnzimmer herumstanden, und Becker stand seitlich neben ihm. Ich war kurz durch Beckers Wohnung gegangen, vielleicht um mir ein Brot zu schmieren oder um etwas zu trinken zu holen, als Hentig mich mit einem durchdringenden, fast gierigen Blick ansah. Er sah zu mir, er sah zu Becker, wieder zu mir und sagte: Das ist also einer von diesen Knaben!"

Wie kann es im erweiterten Kontext solcher Sätze möglich sein, dass die Reformpädagogik bis zum heutigen Tag keine klare Position in der Causa Becker und von Hentig bezogen hat? Es ist dieses Zögern, mit dem sich die Heilslehre ihre Sargnägel selbst schmiedet. Sie entlarvt sich durch die lautstark postulierte, aber wohl doch nur vorgebliche Nähe zum Kind, in dem eitle Köpfe wie von Hentig offenbar nie etwas anderes gesehen haben als unbedeutende Erfüllungsgehilfen ihres gesellschaftlichen Aufstiegs. Werde, der du bist - aber pass bloß auf, dass nicht zu viele Reformpädagogen in der Nähe sind.

Über die politischen und gesellschaftlichen Sekundanten des organisierten Kinderschändens ließe sich noch einiges mehr sagen, als Jürgen Dehmers es in seinem Buch tut. Ist nicht zum Beispiel Hellmut Becker, der erste Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin, jener gefeierte "Bildungs-Becker", einer der Hauptverantwortlichen für die schrecklichen Vergehen? Warum machte er, im Wissen um den versuchten Missbrauch des eigenen Patensohns durch Gerold Becker, eben jenen im Jahr 1972 dennoch zum Direktor der Odenwaldschule? In welcher Beziehung stand er zu Hartmut von Hentig und Gerold Becker?

Welchen Einfluss auf das Schulwesen haben diese Anhänger Stefan Georges ausgeübt, die sich ihre erbärmliche Brücke des pädagogischen Eros zimmerten und Platon am Nasenring durch die Manege zogen, um verbotenes Land zu betreten? Man wünscht sich eine Interpretation dieser Zusammenhänge von Jürgen Dehmers und ist doch gleichzeitig dankbar, dass der Autor der Lust am Spekulieren nicht nachgibt und konsequent das selbst Erlebte und die Fakten sein literarisches Geländer sein lässt.

Pädosexualität ist unpolitisch

Wie Jürgen Dehmers schreibt, war die Welle, die die Odenwaldschule im letzten Jahr erfasste, gewaltig. Und er stellt bewusst die Verbindung zu den zahlreichen Missbrauchsskandalen an katholischen Schulen wie dem Berliner Canisius-Kolleg her, die für die öffentliche Wahrnehmung und die gesellschaftliche Diskussion wie ein Katalysator wirkten.

Dieser Punkt ist besonders wichtig: Denn, ob roter taz-Mitbegründer oder schwarzer Priester - Pädosexualität ist unpolitisch. Kinderficker haben kein Parteibuch. Jedes System ist ihnen recht, um darin die Ziele ihres Triebes aufzustöbern. Wer das verkennt oder zerredet, erschwert den Kampf gegen die sexuelle Ausbeutung von Kindern.

Links diskreditiert rechts aufgrund repressiver Strukturen, Rechts diskreditiert links aufgrund grenzenloser Libertinage. Die Folge ist ein engstirniges Patt. Und die Opfer sind erneut die Opfer. Dabei wird verleugnet, was schon jedes Kind weiß: Ein Hundehaufen riecht nicht besser, wenn ein zweiter Hund danebenkackt. Divide et impera - seit jeher nützt die Politisierung der Pädosexualität nur den Tätern.

Ein starkes und beständig wiederkehrendes Motiv im Buch von Jürgen Dehmers ist der Triathlon, dem er sich verschrieben hat. Dieser Extremsport ist eine gute Metapher für das gesamte Buch. So braucht die Schilderung seines Lebens bis zum Besuch der Odenwaldschule nicht mehr als eine Handvoll Seiten und kommt wie ein kurzes Warm-up daher. Dehmers läuft los, erst ungestüm, dann mit Bedacht, er muss seine Kräfte einteilen. Er kämpft gegen die Ignoranz an, gegen seine Traumata, gegen seinen Alkoholismus, der ihm die Flucht aus der Unerträglichkeit war.

Nach 25 Jahren am Ziel

Gelegentlich stoßen sperrige Sätze wie "Nach Scheiße kommt scheißer!" und einige Wiederholungen auf. Sie wirken seltsam ungelenk und passen doch ins Bild, wirken wie ein Stolpern während des Laufs. Man ahnt den Lektor hinterhereilen und japsen, doch es bleibt keine Zeit, stehen zu bleiben, dieses Rennen muss endlich beendet werden.

Denn Dehmers läuft einen der härtesten Triathlons, den je ein Mensch absolviert hat, und er erreicht nach 25 Jahren endlich sein Ziel. Er hat, gemeinsam mit seinem Team, einen brutalen und kräfteverzehrenden Lauf gewonnen. Diese Höchstleistung und den Durchhaltewillen Dehmers' können wir gar nicht ermessen. Er ist um sein Leben gerannt.

Auch die anderen Opfer gewinnen durch dieses Buch. Ebenso die Wahrheit. Gerold Becker und Wolfgang Held haben das Rennen nicht überlebt. Verloren haben all jene, die glauben, man könne ungestraft Kinder vergewaltigen oder aber die Vorfälle totschweigen. Hartmut von Hentig hat sich praktischerweise selbst disqualifiziert. Die Odenwaldschule muss beißen, wenn sie nicht auf der Strecke bleiben will. Und die Reformpädagogik irrt orientierungslos durchs Unterholz.

Der Titel des Buches lautet: Wie laut soll ich denn noch schreien? Wer diesen Ruf von Jürgen Dehmers nicht hören will, muss sich fragen lassen, warum er freien Willens zu Verbrechern unter eine stinkende Decke kriecht, unter die er seine eigenen Kinder niemals krabbeln lassen würde.

Wütender Aufklärer

Jürgen Dehmers ist der wichtigste Aufklärer im Odenwald. Ohne sein jahrelanges beharrliches und auch wütendes Drängen wäre der brutale Missbrauch an der Superschule nie ans Licht gekommen. Als Dehmers, der im richtigen Leben anders heißt, bei einem Klassentreffen 1997 seinem Ausbeuter und Vergewaltiger Gerold Becker wiederbegegnet, läuft das Fass über. Er beginnt Briefe zu schreiben, die Öffentlichkeit zu informieren, Verbündete zu suchen.
***
Der Kampf dauerte lange, beschrieben ist er nun - genau wie Dehmers' furchtbare Erlebnisse - in seinem Buch "Wie laut soll ich denn noch schreien?" (Hamburg, Rowohlt 19,95 Euro), das vergangenes Jahr von 20 Verlagen abgelehnt wurde. Unser Rezensent fragt: "Wie kann man so ein Buch ablehnen?" Dehmers hat in sein Leben gefunden; heute arbeitet er im pädagogischen Bereich und kämpft um Entschädigung für die Opfer. Der Verein "Glasbrechen - für die Betroffenen sexualisierter Gewalt auf der Odenwaldschule" geht von 400 bis 500 Opfern aus.

taz
Auf Wunsch des Users umgenannter Account

Benutzeravatar
Ariane
PlatinStern
PlatinStern
Beiträge: 1330
Registriert: 14.03.2008, 12:01
Wohnort: Berlin
Ich bin: ehemalige SexarbeiterIn

Beitrag von Ariane »

Eine fast übermenschliche Leistung, die Jürgen Dehmers gelungen ist. Sein Kampf mit den Erfahrungen, Erinnerungen, mit den Tätern war und ist ein zäher, mit Rückschlägen beladener Prozess. Dehmers wäre sicher auch ein guter Marathonläufer. Ich ziehe vor diesem Mann meinen Hut und hoffe, er möge genügend MitstreiterInnen und Unterstützung auf seinem Weg finden, im Ringen und Schreiben um sein Leben und nach 25 Jahren ein klein wenig zur Ruhe kommen, denn der Kampf um die Aufklärung zehrt an den Kräften.

Eine Schande sind die Lektoren der vielen Verlage, die sich für die Ablehnung des Buches zuständig zeigten. Mich würden mal die Namen der Verlage interessieren, ihre "Firmenphilosophie" und die Gründe, die zur Ablehnung dieses Buches führten.

Ich stand mit der Reformpädagogik immer auf Kriegsfuß. Dies liegt in den ideengeschichtlichen Wurzeln dieser Bewegung, einigen Grundannahmen, an den Biografien einige ihrer Protagonisten. Schreber missionierte und fesselte seinen eigenen Kinder an den Küchentisch, er experimentierte an ihnen, probierte neuen "Methoden" aus. Die Mehrzahl (alle? Bin gerade nicht sicher) seiner Kinder nahm sich später das Leben und/oder landete in geschlossenen Psychiatrie. Es gibt von mir dazu hier im Forum einen Beitrag an anderer Stelle, den ich hier verlinkt habe.
viewtopic.php?p=97884#97884

Menschen, die sich der psychosexuellen Vergewaltigung und/oder Folter an Kindern und Jugendlichen schuldig gemacht haben und zeitlebens machen, da die Opfer zeitlebens davon gezeichnet sind, müssen mit allen Mitteln des geltenden Strafrechts zur Verantwortung gezogen werden. Diese Taten verjähren im Gedächtnis der Opfer nie.

Leider gibt es bis zum heutigen Tag ungesühnte Taten und Täter und Komplizen an den Hebeln der Macht, die diese Strafverfolgung behindern. Betroffen ist die Justiz, das Ausbildungs- Lehrer- und Erziehungswesen, Kirche, Familie. Es gäbe noch mehr dazu zu sagen, aber belasse es hierbei.
love people, use things - not the other way round

Benutzeravatar
Aoife
Senior Admin
Senior Admin
Beiträge: 7067
Registriert: 20.09.2008, 21:37
Wohnort: Ludwigshafen am Rhein
Ich bin: Keine Angabe

RE: Verbrechen katholischer Priester

Beitrag von Aoife »

In einem anderen Forum haben wir diesen Artikel diskutiert:
http://www.irishcentral.com/news/Leadin ... 56388.html

Bei der Frage "wie kann der Mann seit 40 Jahren Priester sein und erst jetzt bemerken, dass da etwas furchtbar falsch läuft?" ergab sich eine Argumentation, die ich gerne mit euch teilen möchte, da sie sicher einen Großteil der Verbrechen erklärt:

Die Kirche hält Einmischung in die sexuelle Selbstbestimmung der Menschen für moralisch hochwertig, man befürwortet ein Verbot von außerehelicher Sexualität und versucht sogar in der Ehe den "erlaubten" Ablauf sexueller Kontakte zu bestimmen.

Das ist definitiv Mißbrauch, was da getrieben wird, so dass dessen Ausweitung (auf Kinder, und zur eigenen Befriedigung) keine grundsätzlich neue, der Kirchenphilosophie fremde Einstellung erfordert, sondern sich (psycho-)logischerweise aus den von der Kirche vertretenen Werten ergibt.

Liebe Grüße, Aoife
It's not those who inflict the most, but those who endure the most, who will conquer. MP.Vol.Bobby Sands
'I know kung fu, karate, and 37 other dangerous words'
Misspellings are *very special effects* of me keyboard

Benutzeravatar
Ariane
PlatinStern
PlatinStern
Beiträge: 1330
Registriert: 14.03.2008, 12:01
Wohnort: Berlin
Ich bin: ehemalige SexarbeiterIn

Beitrag von Ariane »

Na, die hochmoralischen Werte, die da vertreten werden, sind die gleichen, die Ausbeutung und "kontrollierten" Missbrauch zulassen. Das schliesst sich bei diesen Sophisten und Textauslegern nicht aus. Das gleiche gilt für alle Fundamentalisten jeglicher religiöser Provinienz, die nach Gusto so lange die Fakten verdrehen, bis ihnen das Ergebnis passt.
Sophist=Wortverdreher, die sich als wahrheitsliebend ausgeben, vereinfacht gesprochen.
love people, use things - not the other way round

Benutzeravatar
fraences
Admina
Admina
Beiträge: 7426
Registriert: 07.09.2009, 04:52
Wohnort: Frankfurt a. Main Hessen
Ich bin: Keine Angabe

RE: Verbrechen katholischer Priester

Beitrag von fraences »

Missbrauchsopfer klagen Papst in Den Haag an


Zwei US-Organisationen haben beim Internationalen Strafgerichtshof Klage gegen den Papst und drei weitere Vatikan-Verantwortliche wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingereicht.

US-Organisationen haben am Dienstag eine Klageschrift gegen den Vatikan beim Internationalen Strafgerichtshof (ICC) in Den Haag eingereicht. Sie werfen dem Kirchenstaat Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor und fordern Ermittlungen gegen Verantwortlichen.

In ihrer 10.000 Seiten starken Klageschrift beschuldigen das Center for Constitutional Rights (CCR) und das Survivors Network of those Abused by Priests (SNAP) den Papst und drei weitere hochrangige Vatikan-Verantwortliche (Kardinalstaatssekretär Tarcisio Bertone, seinen Vorgänger Angelo Sodano und den Präfekten der Glaubengskongregation, William Levada) der "Tolerierung und Ermöglichung der systematischen und weit Vertuschung von Vergewaltigung und Sexualverbrechen an Kindern in der ganzen Welt".

"Verbrechen gegen Zehntausende von Opfern, die meisten von ihnen Kinder, sind wird von Verantwortlichen auf der höchsten Ebene des Vatikans gedeckt worden", sagte die führende CCR-Anwältin Pamela Spees. Die vier Vatikan-Vertreter seien sowohl durch die "Vorgesetztenverantwortlichkeit als auch durch die direkte Vertuschung von Verbrechen" zu belangen.


SNAP-Europatournee kommt auch nach Wien

SNAP hat am Dienstag in Amsterdam eine mehrtägige Europatournee begonnen, die Vertreter der Organisation am 16. September auch nach Wien führt. Man wolle eine Sensibilisierung in der Bevölkerung bewirken. "Jede einzelne Person, die von Priestern missbraucht wurde, soll wissen, dass sie nicht allein ist und dass sie sich mit anderen Menschen beraten kann, die ein ähnliches Trauma erlebt haben", sagte die Präsidentin des SNAP-Verbands, Barbara Blaine.

Die Tour endet am 20. September mit einer Pressekonferenz in Rom.


CCR und SNAP

Das Center for Constitutional Rights (CCR) wurde 1966 von Anwälten in den USA gegründet und setzt sich für die Förderung und den Schutz der von der Verfassung der Vereinigten Staaten und der Allgemeine Erklärung der Menschenrechte garantierten Rechte ein.

Das Survivors Network of those Abused by Priests (SNAP) sieht sich als Vertretung von Missbrauchsopfern Geistlicher


http://diepresse.com/home/panorama/reli ... en-Haag-an


Vatikan kritisiert Anklage gegen Papst in Den Haag

http://diepresse.com/home/panorama/reli ... -Den-Haag-
Wer glaubt ein Christ zu sein, weil er die Kirche besucht, irrt sich.Man wird ja auch kein Auto, wenn man in eine Garage geht. (Albert Schweitzer)

*****
Fakten und Infos über Prostitution

Benutzeravatar
Aoife
Senior Admin
Senior Admin
Beiträge: 7067
Registriert: 20.09.2008, 21:37
Wohnort: Ludwigshafen am Rhein
Ich bin: Keine Angabe

RE: Verbrechen katholischer Priester

Beitrag von Aoife »

Leider English:

http://www.irishcentral.com/news/Horrif ... 53793.html

Katholische Institutionen habe hunderte von Babies als Versuchskaninchen für die Pharmaforschung verkauft.

Liebe Grüße, Aoife
It's not those who inflict the most, but those who endure the most, who will conquer. MP.Vol.Bobby Sands
'I know kung fu, karate, and 37 other dangerous words'
Misspellings are *very special effects* of me keyboard

Benutzeravatar
Lycisca
ModeratorIn
ModeratorIn
Beiträge: 1242
Registriert: 17.03.2007, 15:18
Wohnort: Umgebung Wien
Ich bin: Keine Angabe

Beitrag von Lycisca »

Ergänzung zu den Beiträgen ab #163 zu den Magdalen Wäschereinen: Mädchen wurden in den von Nonnen betriebenen Magdalen-Wäschereien u.a. wegen ihres Sexlebens faktisch weggesperrt, misshandelt, zu Zwangsarbeit herangezogen ... und sie erhielten bis heute keine Entschädigung, während die Kirche den Gewinn einsteckte. Mehr Info ist auch im NGO Bericht Link.

Unten ist die genaue Stellungnahme des UN Ausschusses gg Folter:
CAT/C/IRL/CO/1 vom 17.06.2011 hat geschrieben: 21. The Committee is gravely concerned at the failure by the State party to protect girls and women who were involuntarily confined between 1922 and 1996 in the Magdalene Laundries, by failing to regulate and inspect their operations, where it is alleged that physical, emotional abuses and other ill-treatment were committed, amounting to breaches of the Convention. The Committee also expresses grave concern at the failure by the State party to institute prompt, independent and thorough investigations into the allegations of ill-treatment perpetrated on girls and women in the Magdalene Laundries (arts. 2, 12, 13, 14 and 16).
The Committee recommends that the State party institute prompt, independent and thorough investigations into all complaints of torture and other cruel, inhuman or degrading treatment or punishment that were allegedly committed in the Magdalene Laundries and, in appropriate cases, prosecute and punish the perpetrators with penalties commensurate with the gravity of the offences committed, and ensure that all victims obtain redress and have an enforceable right to compensation, including the means for as full rehabilitation as possible.

Benutzeravatar
Aoife
Senior Admin
Senior Admin
Beiträge: 7067
Registriert: 20.09.2008, 21:37
Wohnort: Ludwigshafen am Rhein
Ich bin: Keine Angabe

RE: Verbrechen katholischer Priester

Beitrag von Aoife »

Wobei sicherlich als feiner Unterschied zum thread title hier zu beachten ist, dass die UNO nicht die Kirche beschuldigt, sondern den Staat, der die Kirche nicht in die Schranken verwiesen hat ...

Und offensichtlich ist der Staat nicht nur als Irish Free State, sogenannte "Republik"* hierzu nicht in der Lage, es scheint auch in Österreich, Deutschland und der Schweiz irgendein Druckmittel der Kirche zu geben, das ihr erlaubt auf staatlicher Ebene Immunität zu erringen. Wie sonst wäre zu erklären dass es Strafgesetze gibt, die uns überlegen lassen dieses thread in nur für registrierte user zugängliche und somit als "privat" deklarierbaren Bereich zu verschieben?

Liebe Grüße, Aoife

*es soll bitte keiner glauben, dass wir irischen Republikaner *diese* Staatsform für die ganze Insel anstreben ... die Revolution von 1916 wurde von Kirchenhörigen gekidnapped, in wessen Auftrag will ich hier nicht mich äußern, aber die "Verbrechen katholischer Priester" machen die Kirche erpressbar und somit zu einem optimalen Stellvertreter ür die Weltmachtsansprüche anderer.
It's not those who inflict the most, but those who endure the most, who will conquer. MP.Vol.Bobby Sands
'I know kung fu, karate, and 37 other dangerous words'
Misspellings are *very special effects* of me keyboard

Benutzeravatar
Aoife
Senior Admin
Senior Admin
Beiträge: 7067
Registriert: 20.09.2008, 21:37
Wohnort: Ludwigshafen am Rhein
Ich bin: Keine Angabe

Re: RE: Verbrechen katholischer Priester

Beitrag von Aoife »

          Bild
Aoife hat geschrieben:Der Mißbrauchsskandal hat eine neue Dimension erreicht:

Die römisch-katholische Kirche argumentiert gegenüber Schadensersatzklagen, dass Priester keine Angestellten der Kirche seien.

http://m.guardian.co.uk/world/2011/jul/ ... pe=article
Das High Court in London hat jetzt in einem Präzedenzfall entschieden, dass oben zitierte Argumentation in GB nicht anwendbar ist. Auch wenn Priester formal keine Angestellten sind, so ist die Kirche als diejenige Instanz, die ihnen ihren Wirkungsbereich organisiert auch für Entschädigungen bei Mißbrauch verantwortlich.

http://www.irishcentral.com/news/Courts ... 22878.html

Liebe Grüße, Aoife
It's not those who inflict the most, but those who endure the most, who will conquer. MP.Vol.Bobby Sands
'I know kung fu, karate, and 37 other dangerous words'
Misspellings are *very special effects* of me keyboard

ehemaliger_User
verifizierte UserIn
verifizierte UserIn
Beiträge: 2968
Registriert: 27.04.2008, 15:25
Ich bin: Keine Angabe

Lotostochter: Ich bin ein gestohlenes Kind

Beitrag von ehemaliger_User »

Vielleicht hatten die Bischöfe Angst vor diesem Buch:

Anisha Mörtl
Lotostochter

Ich bin ein gestohlenes Kind

Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 240 Seiten, 13,5 x 21,5 cm, mit 16 Farbtafeln
ISBN: 978-3-517-08719-1
€ 17,99 [D] | € 18,50 [A] | CHF 25,90* (* empf. VK-Preis)

Verlag: Südwest
07.11.2011

Klappentext:
Ein adoptiertes indisches Mädchen auf der Suche nach seiner leiblichen Mutter

Anisha – elf Monate ist das indische Mädchen alt, als es von einem deutschen Ehepaar adoptiert wird. 13 Jahre später, zerrissen zwischen ihrer indischen Herkunft und ihrem Leben in Deutschland, begibt sich Anisha auf die Suche nach ihrer leiblichen Mutter. In Indien trifft sie auf ein korruptes System: ein katholisches Waisenhaus, geleitet von einer Nonne, die Anishas Mutter das Baby entriss und es ohne deren Einverständnis den westlichen Adoptiveltern übergab. Trotz großer Widerstände findet Anisha ihre Mutter wieder: Fatima, eine arme Frau, Analphabetin, die sich gegen die Ordensfrau nicht wehren konnte. Anisha ist heute eine starke junge Frau. Offen spricht sie über ihr bewegendes Schicksal und regt an, das Thema Adoption kritisch zu hinterfragen. Die unglaubliche Geschichte von Anisha und Fatima, von Kinderhandel und Korruption, von Mutterliebe, Sehnsucht nach Heimat und unendlicher Einsamkeit.

Kurzvita

Anisha Mörtl wurde 1990 in Hyderabad, Indien, geboren. Im Alter von elf Monaten wird sie von einem deutschen Ehepaar adoptiert, das sie mit nach München nimmt, wo sie aufwächst und heute noch lebt. Mit 13 Jahren kehrt sie nach Indien zurück und macht sich auf die Suche nach ihrer leiblichen Mutter. Anisha hat gerade ihr Abitur bestanden und möchte nun Psychologie studieren.

http://www.randomhouse.de/press/infodet ... 2000&men=1

Leseprobe:
http://www.randomhouse.de/content/editi ... 293886.pdf

[youtube]http://www.youtube.com/watch?v=QnLSbzgq9fs[/youtube]

Heute kam eine Buchbesprechung in der "Stuttgarter Zeitung"

Darin heisst es "Gertraut Knuth von der "Initiative Adoptionsopfer" weiss von 1.700 indischen Kindern, die allein in den neunziger Jahren...in die Obhut von Ordensschwestern der berühmten "Mutter Theresa" gab... gefälschten Einverständniserklärung ihrer Mutter nach Deutschland verfrachtet... Für die Fehler der Ordensschwestern sei hierzulande niemand haftbar" weil Anishas die Adoptiveltern die Vermittlungsagentur verklagten.
...
Kinderschützer vermuten, dass in Deutschland jede dritte internationale Adoption ohne staatliche Begleitung erfolgt..."

Artikel in der "Welt" vom 06.11.2011
http://www.welt.de/vermischtes/weltgesc ... indes.html

Vielleicht ist der ganze Artikel morgen im Netz.
Auf Wunsch des Users umgenannter Account

Benutzeravatar
Marc of Frankfurt
SW Analyst
SW Analyst
Beiträge: 14095
Registriert: 01.08.2006, 14:30
Ich bin: Keine Angabe

Re: Korruption, Adoption und Menschenhandel

Beitrag von Marc of Frankfurt »

Psychogramm der berühmten "Mutter Theresa":
www.sexworker.at/phpBB2/viewtopic.php?p=107169#107169

Benutzeravatar
Jason
verifizierte UserIn
verifizierte UserIn
Beiträge: 631
Registriert: 13.07.2007, 22:59
Wohnort: zu Hause
Ich bin: Keine Angabe

Report über Kindesmissbrauch schockiert die Niederlande

Beitrag von Jason »

Rund 800 Mitarbeiter der katholischen Kirche haben sich an Jugendlichen vergangen. Juristische Konsequenzen wird es wegen Verjährung wohl nicht geben.


Mit vorweihnachtlicher Besinnlichkeit ist es in der katholischen Kirche der Niederlande vorbei. Bischöfe und hohe Funktionäre reagierten am Freitag geschockt auf die Veröffentlichung eines Reports über sexuellen Missbrauch in kirchlichen Einrichtungen. Wim Eijk, Erzbischof des Bistums Utrecht, sprach in einer Erklärung von "Scham und Verdruss". Schuld treffe nicht nur die Täter selbst, sondern auch kirchliche Würdenträger, die "nicht sorgfältig gehandelt" und der Opferhilfe keine Priorität eingeräumt hätten. Auch die Dachorganisation der Abteien, Orden und Klöster bot ihre "aufrechte Entschuldigung" an.

Der Report, veröffentlicht von einer unabhängigen Kommission unter Leitung des ehemaligen Bildungsministers Wim Deetman, kommt zu dem Ergebnis, dass

von 1945 bis 1985 zwischen 10.000 und 20.000 Minderjährige Opfer sexuellen Missbrauchs wurden [= 250 bis 500 Opfer pro Jahr].

Diese Fälle ereigneten sich in katholischen Internaten und Schulen, Kinder- und Waisenhäusern.

Bei einigen tausend dieser Kinder soll es sich um schweren Missbrauch gehandelt haben.

Die Kirchenleitung hätte diese Problematik wissentlich verschwiegen. Interne Maßnahmen seien nicht ergriffen worden, um mögliche Skandale zu verhindern. Zudem habe es für die Betroffenen keine angemessene Hilfe gegeben. Trotz entsprechender Hinweise hatten Kirchenvertreter in den Niederlanden wiederholt beteuert, sie seien über diese Vorfälle nicht unterrichtet gewesen.

Kardinal Ad Simonis, ehemaliger Erzbischof von Utrecht, erklärte letztes Jahr in einer TV- Sendung, er habe "von nichts gewusst". Später stellte sich heraus, dass er in seiner Amtszeit einen als pädophil bekannten Priester einstellen ließ.

Gerade wegen dieser Vorgeschichte war der Deetman-Bericht in den Niederlanden mit Spannung erwartet worden. Begonnen hatte die Diskussion um sexuellen Missbrauch in katholischen Einrichtungen im März 2010: Nach Berichten über Salesianer-Pater, die sich in den 1960er und 1970er Jahren in einem Internat systematisch an Jugendlichen vergriffen haben sollen, meldeten sich in wenigen Tagen 200 Betroffene bei einer kirchlichen Anlaufstelle.

Die niederländische Bischofskonferenz beauftragte daraufhin Wim Deetman, selbst ehemaliger Direktor einer weiterführenden Schule, mit umfangreichen Untersuchungen.

Die von ihm geleitete Expertenkommission nahm insgesamt fast 1.800 Meldungen über Missbrauchsfälle auf. Dabei konnte sie rund 800 Täter ermitteln [Opferfälle:Täter Verhältnis = 2,25 und damit evt. größer als bei Menschenhandel was als OK, organisierte Kriminalität gilt. Anm. MoF], die in Bistümern oder kirchlichen Orden tätig waren.

105 davon leben nach den Erkenntnissen der Kommission noch. Wie viele noch eine kirchliche Funktion erfüllen, ist nicht bekannt. Besonders belastet wird der frühere Rotterdamer Bischof Philippe Bär. In seiner Amtszeit von 1983 bis 1993 habe er gegen den Willen interner Auswahlgremien ungeeignete Kandidaten als Priester zugelassen. Mehrere von ihnen hätten sich später des Missbrauchs schuldig gemacht.

Zufrieden mit der akribischen Arbeit der Kommission zeigte sich die Stiftung KLOKK, ein landesweites Beratungsorgan über Kindesmissbrauch in der Kirche. In einer Stellungnahme heißt es, die Ergebnisse des Reports seien "noch schockierender" als erwartet. Der niederländische Justizminister Ivo Opstelten sprach nach der Veröffentlichung von einem "sehr intensiven, schockierenden Bild". Die Empfehlungen der Kommission wolle er "besonders ernst nehmen". Im Report wird ein von zentraler staatlicher Stelle gelenkter Kampf gegen sexuellen Missbrauch und Gewalt angeregt.

Der sexuelle Missbrauch Minderjähriger sei keinesfalls auf die katholische Kirche beschränkt, erklärt die Untersuchungskommission ihre Forderung. Sie bezieht sich auf eine Erklärung des niederländischen Gesundheitsrats, eines wissenschaftlichen Beratungsgremiums der Regierung. Demnach werden allein in den Niederlanden jedes Jahr über 100.000 Kinder körperlich, geistig oder sexuell misshandelt.

Ambivalent indes ist der Deetman- Report über die Rolle des Zölibats. Einerseits räumt er ein, Priester und Paters würden durch das Zölibat "empfänglich für diverse Formen grenzüberschreitendes Verhalten". Als hinreichende Erklärung sexuellen Missbrauchs reiche dies jedoch nicht aus.

Nicht zu erwarten ist, dass die Debatte noch eine juristische Dimension bekommt.

Im Zuge der Deetman-Veröffentlichung wurde bekannt, dass die Kommission 11 anonyme Fälle an die Staatsanwaltschaft weiter geleitet hat. Diese erklärte am Freitag, die meisten davon böten zu wenig Informationen für eine Untersuchung und seien zudem verjährt. Letzteres soll auch für die übergroße Mehrheit aller für den Bericht relevanten Fälle gelten.

Vom Zeitpunkt der Volljährigkeit eines Kindes verjähren Strafen nach 20 Jahren.

Im Nachbarland Belgien wurde diese Frist nach einem vergleichbaren Missbrauchsskandal in katholischen Einrichtungen von zehn auf 15 Jahren angehoben.


Quelle: www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/ ... ort-kirche
> ich lernte Frauen zu lieben und zu hassen, aber nie sie zu verstehen <

Benutzeravatar
Marc of Frankfurt
SW Analyst
SW Analyst
Beiträge: 14095
Registriert: 01.08.2006, 14:30
Ich bin: Keine Angabe

Re: Deetman-Bericht

Beitrag von Marc of Frankfurt »

Das entspricht 250 bis 500 Opferfällen pro Jahr
und 20 Tätern pro Jahr (wenn nur in einem 1 Jahr Täter)
in 40 Jahren
in den Niederlanden.

Opferfälle:Täter-Verhältnis = 2,25 und damit evt. größer als bei Menschenhandel wo das Verhältnis ca. 1:1 ist, aber Zuhälterei klassischerweise als OK, als organisierte Kriminalität gilt, was zu besonderer Strafverfolgung und verschärftem Strafmaß führt.





Hier ein "Widergutmachungs- oder Ablenkungsprojekt" der Salesianer vom Generalvikar Dr. Jochen Reidegeld in Senden im zu NL benachbarten Münsterland:

www.sexworker.at/phpBB2/viewtopic.php?p=107305#107305
___





Kunstwerk

Bild
Cardinal Sin

Kardinal Sünde
von Banksy





Häusersprayer - street art Künstler Banksy
lebte lange Zeit im Untergrund
www.banksy.co.uk
http://de.wikipedia.org/wiki/Banksy

Zu den christlichen "Kardinal-Sünden" (7 Todsünden) siehe auch dieses Kunstwerk von Lukas Maximilian Hüller 2007 und Hironimus Bosch (1450-1516):
www.sexworker.at/phpBB2/viewtopic.php?p=28633#28633

Benutzeravatar
Aoife
Senior Admin
Senior Admin
Beiträge: 7067
Registriert: 20.09.2008, 21:37
Wohnort: Ludwigshafen am Rhein
Ich bin: Keine Angabe

RE: Verbrechen katholischer Priester

Beitrag von Aoife »

Für alle die Englisch lesen können hier ein höchst interessanter Artikel:

http://newhumanist.org.uk/2735/inside-the-heresy-files

Für diejenigen, die es nicht können hier die kurze, aber nicht weniger erschreckende deutsche Zusammenfassung:

Die Inquisition ist keineswegs eine historische Vergangenheit, sondern sie ist der Prototyp des modernen Staates.

Nicht ganz teilen möchte ich den Pessimismus des Autors:
Zwar ist es sicherlich richtig, dass die Inquisition, und in ihrer Nachahmung der Staat, erst entstehen konnten nachdem die bürokratischen Voraussetzungen dafür zur Verfügung standen. Jedoch glaube ich nicht, dass sie in diesem Moment auch entstehen musste - der Mensch ist keineswegs gezwungen, jedes zur Verfügung stehende Mittel auch tatsächlich zu nutzen um Unheil anzurichten.

Liebe Grüße, Aoife
It's not those who inflict the most, but those who endure the most, who will conquer. MP.Vol.Bobby Sands
'I know kung fu, karate, and 37 other dangerous words'
Misspellings are *very special effects* of me keyboard

Benutzeravatar
Marc of Frankfurt
SW Analyst
SW Analyst
Beiträge: 14095
Registriert: 01.08.2006, 14:30
Ich bin: Keine Angabe

-

Beitrag von Marc of Frankfurt »

Zuletzt geändert von Marc of Frankfurt am 09.04.2012, 14:59, insgesamt 2-mal geändert.

Benutzeravatar
annainga
PlatinStern
PlatinStern
Beiträge: 3836
Registriert: 01.02.2007, 22:33
Wohnort: nrw
Ich bin: ehemalige SexarbeiterIn

Priester amEnde ihrer Kräfte

Beitrag von annainga »

Priester am Ende ihrer Kräfte

Sie verlieren den Glauben, wollen zu viel, wissen nicht weiter. Das ist bei Geistlichen eigentlich nicht vorgesehen und wird verschwiegen. Wie sie damit umgehen - ein Besuch in Kirchen und Klöstern

Die Verzweifelten sitzen hinten. In den letzten Reihen der kleinen Kirche, im Halbdunkel; die kleinen Fenster lassen nur wenig Licht herein. Es ist ein karger Raum, es gibt keinen Weihrauch hier, keine Wandmalereien, keine Reliquien, kein Pomp, nur ein Holzkreuz, das den Altarraum überragt. Die Verzweifelten tragen Strickpullover und Westen. Sie tragen keine Talare mehr, keine Gewänder. Bis vor Kurzem waren sie Priester, Nonnen und Mönche. Was sie jetzt sind, wissen viele von ihnen nicht genau, zumindest im Moment nicht.

Die Mittagsandacht ist fast vorüber, als die Orgel verstummt und ein Mönch des Benediktinerordens aus dem Altarraum ans Pult tritt. Der bärtige Mann liest Vers 17, Psalm 25: "Die Enge meines Herzens mache weit, und führe mich heraus aus meinen Bedrängnissen." Dieser Vers ist häufiger zu hören in den Andachten hier. Er passt zu den Gästen in den letzten Reihen. Sie rufen im Chor "Amen".

Sie sind hierher, in das Kloster Münsterschwarzach bei Würzburg gekommen, weil sie in einer Krise stecken. Sie haben als Geistliche ihr ganzes Berufsleben damit verbracht, anderen zu helfen, und nun wissen sie selbst nicht mehr weiter. Sie können keinen Trost mehr spenden, weil sie selbst welchen brauchen.

So wie Hans-Joachim Wahl, der Priester, der sich selbst verloren hat, weil er ständig für andere da war.

So wie Matthias Woll, der Mönch, der sich nicht entscheiden konnte zwischen den beiden Lieben seines Lebens.

So wie Michael Stanke, der Dorfpfarrer, der verzweifelte, als er Gott nicht mehr spürte.

Es ist noch nicht so lange her, da saßen auch sie hier in der Abteikirche. Drei Monate lebten sie im Recollectio-Haus, einem gelben Flachdachbau gleich nebenan; im Schatten der Sandsteintürme, die das grüne Tal überragen, das der Main hier in die unterfränkische Erde gegraben hat. Oder Gott, je nach Glauben. Der kleine Ort Schwarzach mit seinen 3600 Einwohnern besteht aus nicht viel mehr als dem 1223 Jahre alten Benediktiner-Kloster. Hier betreibt die katholische Kirche ihr eigenes Therapiezentrum für verzweifelte Würdenträger. Es ist zum Schutzraum geworden für Seelsorger, deren Seelen krank wurden. Diesen Schutzraum hat Wunibald Müller geschaffen. Der 60-Jährige sitzt in seinem Büro im Erdgeschoss, an einem dunklen Holzschreibtisch. Hinter ihm hängt ein grüner Vorhang, wie man ihn aus Krankenhäusern kennt, auf dem Boden steht eine Tonvase. Er trägt einen brauen Wollpullover und eine randlose Brille. Er hat die Augen halb geschlossen, sein Blick geht ins Leere. Wunibald Müller denkt nach. Ob er stolz sei, war die Frage. Stolz darauf, dass sein Recollectio-Haus auf Monate ausgebucht sei. Er öffnet die Augen. "Natürlich freue ich mich", sagt er, "andererseits empfinde ich keine Freude, dass immer mehr Priester psychologische Hilfe brauchen. Der Erfolg des Hauses hat für mich einen bitteren Beigeschmack." Wunibald Müller hat mehrere Rollen in diesem Haus. Er ist Psychotherapeut, Theologe, Kirchenkritiker und deren Diplomat in Personalunion. Alles wegen der Kirche, alles für die Kirche - und das alles trotz der Kirche, so wie sie sich derzeit präsentiert.

Das Verhältnis der Gesellschaft zu dieser Kirche, zu den Priestern, ist ein paradoxes. Ihr Beruf wird wie kaum ein anderer idealisiert. Als Mittler zwischen Gottheit und Menschen haben viele Gläubige eine heilige Vorstellung von ihnen. "Nach der landläufigen Annahme müssen Priester mit Problemen leichter umgehen. Weil sie in eine Gemeinde eingebunden sind und ihre Spiritualität ihnen als unerschöpfliche Kraftquelle zur Verfügung steht", sagt Müller. Das stimmt aber so offenbar nicht. Es kommen immer mehr Priester zu Müller. Viele von ihnen sind überarbeitet, weil Gemeinden zusammengelegt wurden. Andere leiden unter spirituellen Zweifeln. Und nicht wenige sehen sich seit den Missbrauchsskandalen dem Generalverdacht ausgesetzt, auch einer derjenigen zu sein, die sich an Minderjährigen vergehen. Manche würden auf der Straße beschimpft oder bespuckt, einfach weil sie als Priester zu erkennen seien, erzählt Müller. Sie fühlten sich als Außenseiter. Dabei haben viele selbst Schwierigkeiten, das zu vertreten, was ihre Kirche lehrt. Mehr und mehr Pfarrer ziehen sich innerlich zurück. Ihnen fällt es schwer, Freundschaften einzugehen, weil sie glauben, dass jede emotionale Beziehung zu einem anderen Menschen dem Zölibat widersprechen könnte. Einige vereinsamen, lenken sich mit Computerspielen, Pornografie oder Alkohol ab. Und dann gibt es jene Priester, die sich nicht entscheiden können zwischen ihrem Amt und einer Frau.

Undenkbar, über all diese Probleme mit dem Pfarrgemeinderat offen zu reden. Unmöglich, sich damit einem Bischof anzuvertrauen. Deshalb stapeln sich auf Müllers Schreibtisch die Briefe mit Aufnahmewünschen von Priestern, Nonnen und Mönchen.

Auch Hans-Joachim Wahl hatte einen solchen Brief geschrieben. Es ist nicht schwierig, den Dekan kennenzulernen. Man muss nur an der Holztür des Pfarramtes von Bad Nauheim klopfen. Er öffnet sofort. Das, könnte man sagen, ist auch schon Teil seines Problems. Denn in der Vergangenheit hat Wahl zu häufig seine Tür geöffnet. Er gehört zu jener Sorte Priester, denen es schwerfällt, Nein zu sagen. Die sich jeder Kleinigkeit annehmen. Er will ja niemanden enttäuschen. Das spricht sich schnell herum. Hans-Joachim Wahl sieht nicht aus wie ein Mensch, der schnell verzweifelt. Der 52-Jährige ist ein kräftiger Mann mit Glatze und freundlichem Gesicht. Es wird schnell rot, wenn Wahl lacht. Und er lacht viel. Auch traurige Anekdoten versieht er mit einer Pointe. Und den Rest verniedlicht sein hessischer Dialekt. "Früher dachte ich immer, Priester sind glücklich mit dem, was sie machen", sagt er. Mehr nicht. Als wäre ohnehin klar, wie sein Satz weitergehen müsse.

Wahl stammt aus einem kirchennahen Elternhaus. In seinem Abiturjahrgang haben von 130 Schülern fünf Theologie studiert. Damals, Anfang der 80er-Jahre, ließen sich in Deutschland 200 bis 300 junge Männer pro Jahr zum Priester weihen. Im Jahr 2010 verzeichnete die Statistik der Deutschen Bischofskonferenz 80 - so wenig wie nie zuvor.

Hans-Joachim Wahl hat sich diesen Nachmittag freigenommen. Er führt vom Gemeindehaus ein paar Meter weiter herüber in die Sakristei seiner Kirche St. Bonifatius. Dort schlüpft Wahl in sein "tertiäres Geschlechtsmerkmal". Ein seltsamer Name für ein grünes Messgewand. "Es ist, als wäre es mit mir verwachsen, so häufig trage ich es", sagt Wahl, "es gibt Tage, an denen ich es kaum ausziehe."

Wahl faltet die Hände, wippt leicht vor und zurück. Es ist ruhig, nur die einsame Glühlampe über ihm im Gewölbe surrt leicht. So viel Ruhe macht ihn nervös. Sie kommt selten vor in einer Mittelpunktgemeinde wie der seinen. 25 Pfarrgemeinden gehören zu dem Dekanat, dem Wahl vorsteht; für zwei ist er als Pfarrer zuständig. "Nach meinem 20-minütigen Morgengebet um acht Uhr brauche ich mir im Pfarramt nichts Großes vorzunehmen - weil ich ja sowieso nicht dazu komme", sagt er. Laufend klingelt das Telefon, Besucher kommen spontan, um über ein Grußwort für den Sportverein zu sprechen. Mittags trauen, taufen und beerdigen, Messdiener treffen, den Kirchenchor, die Kolpingsfamilie oder Strafgefangene im Gefängnis des Nachbarorts. Abends mit Brautleuten, Angehörigen von Verstorbenen oder Eltern von Taufkindern sprechen; mit dem Pfarrgemeinderat tagen oder Gottesdienste in Altenheimen feiern. Zwischendurch und vorm Zubettgehen schnell Post und E-Mails beantworten. Freie Wochenenden gibt es nie. Sonntag ist der wichtigste Arbeitstag.

"Ich fühle mich wie ein Soldat, stets in Uniform, stets im Einsatz, immer zur Stelle", sagt Wahl. Mit Soldaten kennt er sich aus. Elf Jahre lang reiste Wahl als Militärpfarrer von Kaserne zu Kaserne. Im Oktober 2001 wurde er von Bischof Karl Lehmann gefragt, ob er die Pfarrgemeinde in Bad Nauheim übernehmen wolle. Mit vielen alten Menschen. Mit viel Arbeit. Er sagte Ja. Ein Jahr später fragte Lehmann ihn, ob er auch noch Aufsichtsratschef beim Bezirksverband der Caritas werden könne. Er sagte Ja. 2004 sprach Lehmann ihn abermals an. Ob er zusätzlich zu seinen anderen Aufgaben Dekan werden wolle. Das Amt entspricht dem eines Regierungspräsidenten. Ein Dekan vermittelt zwischen Bistum und Pfarrgemeinden. Ein Diplomatenjob, der allein schon tagesfüllend ist. Noch mehr Briefe, noch mehr E-Mails, noch mehr Konferenzen, nur, dass zu diesen bis zu 130 Teilnehmer anreisen. Wahl sagte Ja.

Aber es gefiel ihm schnell nicht mehr. "Ich merkte, wie ich innerlich verdurstete", sagt Wahl. In Schwarzach am Main hatte Wunibald Müller eine ganz ähnliche Vokabel benutzt. Er sprach von "Gottesverdurstung", unter der immer mehr Priester leiden würden. "Auf sie trifft der Satz des Schriftstellers Ödön von Horváth zu: 'Eigentlich bin ich ganz anders, aber ich komme selten dazu.'"

Dass die Priester trotz weniger Kirchenmitglieder immer mehr zu tun haben, liegt vor allem daran, dass immer weniger Menschen Priester werden wollen. Dazu kommen Sparzwänge. Manche Pfarrer betreuen inzwischen fünf Pfarreien. Im Essener Bistum sind 259 ehemals selbstständige Gemeinden zu 43 Großgemeinden zusammengefasst worden. Die betroffenen Pfarrer fahren wie ein Wanderzirkus von Kirche zu Kirche. Für einige ist das zu viel. Zu viel Wanderschaft und zu viel Zirkus. "Die Geistlichen sind immer mehr Verwalter und immer weniger Seelsorger", sagt Müller, "daran zerbrechen viele." Burn-out nennt man das Syndrom bei Managern. Müller hat eine andere Umschreibung gefunden: "Die Inneneinrichtung im Körper brennt aus."

Hans-Joachim Wahl, der Rastlose, lebt direkt neben der Kirche im Stockwerk über dem Pfarramt. "Ich wünschte, ich würde hier einfach nur wohnen. In Wahrheit befinde ich mich rund um die Uhr auf dem Präsentierteller", sagt Wahl, "das Gefühl, dass ständig jemand auf mich guckt, hat mich kaputt gemacht."

Und es bleibt nicht nur beim Gucken. Einmal sei er mittags mit einer Freundin zum Kaffee verabredet gewesen, erzählt Wahl. Als sie am Pfarramt losfuhren, seien sie von einem Mitarbeiter aufgehalten worden. "Ich habe den Nistkasten für die Eulen aufgestellt", sagte der, "können wir nicht schnell ein Foto für die Lokalzeitung machen? Dauert nur fünf Minuten." Wahl nickte, wie er es immer tat. "Wenn ich Nein sagen würde, tragen mir das doch alle ewig nach."

Wahl fand dann einen anderen Weg, um die Arbeit zu kompensieren: essen. Er nahm 25 Kilogramm zu, pflegte kaum noch private Kontakte. Im Herbst 2008 konnte er nicht mehr. Das Predigen, das er so liebte, fiel ihm schwer, genau wie das Spielen auf der Kirchenorgel mit ihren 3500 Pfeifen. "Da musste ich einfach mal den Fuß rausstellen." Wahl rief bei Wunibald Müller in Schwarzach an. Rund zwei Autostunden sind es von Bad Nauheim ins unterfränkische Schwarzach. Für Hans-Joachim Wahl war es wie eine Reise in eine andere Welt. Das gelbe Gebäude bei der auf einer Anhöhe thronenden Abteikirche sei für ihn so etwas wie eine Reparaturwerkstatt gewesen, erzählt er. Drei Monate lebte er mit 17 anderen Geistlichen. Wer hier aufeinandertrifft, ist einander in der Regel noch nie zuvor begegnet. Doch die Zufallsbekannten bilden sofort eine Schicksalsgemeinschaft.

Die Flure des Hauses sind karg, hier ein gerahmtes Blumenbild, dort ein Schwarzes Brett. Wüsste man es nicht besser, könnte man Recollectio für eine Jugendherberge halten. Im Foyer sitzen Pfarrer um ein verstimmtes Klavier herum und unterhalten sich mit übereinandergeschlagenen Beinen. Wären sie in einer psychiatrischen Klinik, hießen sie Patienten. Im Recollectio werden sie Gäste genannt. Ärztekittel sind nicht zu sehen, da die psychotherapeutische und spirituelle Betreuung im Mittelpunkt steht. Wer ankommt, spricht mit Wunibald Müller. Mit Müller, dem Psychologen, weniger dem Theologen. Auch Müllers Frau arbeitet im Recollectio-Haus, als Psychiaterin.

Wie alle Gäste erhielt Hans-Joachim Wahl nach seinem Empfangsgespräch einen Stundenplan. Jeder Tag ist getaktet. Um sieben Uhr Morgengebet, anschließend Körperarbeit, Frühstück, Gruppentherapie oder kreatives Gestalten. Nach dem Mittagessen Einzelgespräche, sowohl therapeutische mit Psychologen als auch spirituelle mit Mönchen. Nachmittags jäten die Bewohner Unkraut im Klostergarten, reiten die Pferde des benachbarten Gestüts, sortieren Waren im Eine-Welt-Laden vorn an der Klosterpforte. Abends kochen sie gemeinsam und tanzen zu Beethoven oder Enya.

Das Haus sagt einiges über den Zustand der Kirche in Deutschland aus, vor allem über deren Defizite. Ohne Wunibald Müller hätte es dieses Haus wohl nie gegeben. Er wuchs nicht weit entfernt von Schwarzach im Odenwald auf, besuchte katholische Internate, auch jenes Kloster-Gymnasium, das zwischen der Abteikirche und dem Flachdachbau steht, in dem Müller nun sitzt. Nach dem Abitur studierte er katholische Theologie und Psychologie. Drei Monate verbrachte er bei den Missionsbrüdern des Heiligen Franziskus. Dann ging er. Die "geistige Enge" dort habe er nicht ausgehalten, sagt er.

Statt Messen zu halten, schrieb Müller Ende der 70er-Jahre seine Doktorarbeit. Sie trug den Namen: "Homosexualität: eine Herausforderung für Theologie und Seelsorge". Müller studierte dafür von 1979 bis 1982 in Berkeley bei San Francisco in Kalifornien, "weil dort 20 Prozent der Bevölkerung homosexuell waren". Damals hörte Müller erstmals von Einrichtungen, die sich seit den 70er-Jahren in den Vereinigten Staaten verbreiteten. Dort konnten Priester sich wegen psychologischer Probleme behandeln lassen.

Als er nach Deutschland zurückkehrte, erlebte er als Pastoralpsychologe, dass auch deutsche Pfarrer leiden. So sehr, dass Müller ihnen mit kurzen Gesprächen kaum helfen konnte. Da wurde dem jungen Diözesen-Angestellten klar, dass es auch hier Bedarf für ein kirchliches Therapiezentrum gab. Zwei weitere Gründe trieben ihn an. Der eine hatte mit seiner eigenen Laufbahn zu tun. Wo sonst hätte Müller sowohl als Theologe als auch als Psychologe arbeiten können? Der andere Grund war der auch damals nicht sehr zeitgemäßen Kirchenpolitik geschuldet. Müller wollte daran mitarbeiten, die Kirche von innen heraus zu modernisieren. "Das Recollectio-Haus war mein Beitrag für die Erneuerung der Kirche", sagt Müller heute.

Das erste an die Deutsche Bischofskonferenz adressierte Gesuch, ein deutsches Therapiezentrum für Geistliche zu eröffnen, wurde allerdings mit einem knappen Antwortschreiben abgelehnt. Selbst der liberale Kardinal Karl Lehmann war dagegen. Bei Müllers zweitem Anlauf zeigten sich immerhin die Bischöfe der Diözesen Freiburg, Würzburg und Rottenburg-Stuttgart bereit, das Projekt zu finanzieren. Sie wollten aber nicht als Betreiber auftreten. "Macht es auf euer eigenes Risiko", hieß es. Und so tat es Wunibald Müller gemeinsam mit der Benediktiner-Abtei. Innerhalb eines Jahres ließen sie den Flachdachbau umbauen. Den Namen "Recollectio" wählte ein damaliger Abt aus. Er bedeutet so viel wie "sich sammeln".

Vor 20 Jahren eröffnete Müller schließlich sein Therapiezentrum. 1200 Priester, Mönche, Nonnen und Pastoralreferenten ließen sich seitdem hier behandeln. In der Anfangszeit wurde es von Kirchenoberen "katholischer Mülleimer" genannt oder "Recyclinghof für Pfaffen". "Ist es schon so weit?", antwortete ein Pfarrer, als ein Kollege ihm den Besuch bei Recollectio empfohlen hatte. Müller erzählt diese Anekdote mit einem Grinsen. Es ist das Grinsen eines Mannes, der erkannt hat, dass er recht hat. Mittlerweile schätzen die bischöflichen Exzellenzen sein Haus. Spätestens seit den Missbrauchsskandalen hören sie aufmerksamer auf das, was Müller sagt. "Manches hätte verhindert werden können, wenn man früher auf uns gehört hätte", sagt er. Müller galt lange als Nestbeschmutzer, weil er katholische Tabuthemen öffentlich machte. Er sprach aus, was alle wussten: dass Pfarrer sexuelle Lüste haben, dass viele diese ausleben, dass manche von ihnen homosexuell sind. Müller redete öffentlich auch über jene Priester, die ihre Ministranten oder Schüler zu sehr gernhaben. Die sich an ihnen vergingen, ihre Seelen verletzten, manche zerstörten. Einige dieser Priester suchten bei Müller Rat. Manche sahen ihre Sünde ein, andere blieben stur. Vor allem die besonders Religiösen wollten Müller bisweilen weismachen, dass sie den Jugendlichen, die sie missbrauchten, eine Gunst erweisen würden. Müller redete mit ihnen, manchmal auch auf sie ein. Ihnen helfen konnte er nicht. "Sie sind in einer auf Pädophile ausgerichteten Klinik besser aufgehoben", sagt der Therapeut.

Müllers Recollectio-Haus ist vielleicht das Fortschrittlichste, was die katholische Kirche in Deutschland zu bieten hat. Auf dem Stundenplan finden sich jedoch Begriffe, die draußen, in der weltlichen Welt kaum einer verwenden würde. "Atem und Töne" heißt ein Kurs, ein anderer "Leibarbeit". Wer denkt sich solche Namen aus? Sie klingen abstrakt, verkopft. Ist nicht diese Gedankenwelt Teil des Problems? Wunibald Müller sagt: "Der Begriff Leibarbeit kommt aus der Tradition des Zen-Lehrers Karlfried Graf Dürckheim, der damit sagen wollte, dass der Körper nur im Zusammenhang mit dem ganzen Menschen gesehen werden kann."

Im Leibarbeitsraum im zweiten Geschoss kann man Schwester Christiane dabei zuschauen, wie sie mit Tennisbällen vor einer brennenden Kerze meditiert. Als nebenberufliche Therapeutin der Priester sagt sie Sätze wie: "Ich stehe locker da, aufrecht wie ein Baum, mein Kopf ist die Krone, meine Füße sind die Wurzeln, ich bin ganz da." 45 Minuten dauert ein Kurs, auch Yoga ist dabei, Nonne Christiane will ja mit der Zeit gehen. Und noch etwas will sie zeigen. Die Frau in Grau führt in den Keller, öffnet die Tür zu einem schmalen, gekachelten Raum, von dessen Decke ein Boxsack hängt. Schwester Christiane schlüpft in Boxhandschuhe, fixiert den Sack und schlägt zu. Eine Rechte, eine Linke, noch eine Rechte. Ihr Kreuz an der Halskette springt vor ihrer Brust auf und ab. Sie ruft: "Hier kann ich schreien 'Ja!' und 'Nein!' und 'Doch!'." Der Sack bewegt sich kaum. Der Boxraum sei immer geöffnet, rund um die Uhr, sagt die Nonne. Man weiß ja nie, wann den Geistlichen nach Schlagen zumute ist.

Was für die meisten Menschen normale oder zumindest bekannte Beschäftigungen sind, muss von vielen Priestern im Recollectio-Haus erst erlernt werden. Schwimmen, Joggen, Gitarrespielen kann für sie zu einer aufregenden Erfahrung werden.

Matthias Woll musste in Münsterschwarzach ebenfalls wieder lernen, was es heißt, ein normales Leben zu führen. Der Ordenspriester besuchte das Recollectio-Haus, weil er sich nicht zwischen zwei Lieben entscheiden konnte. Die eine Liebe hatte mit einem Kelch zu tun, die andere mit einem Katzenkostüm.

Er erzählt das an einem kalten Winternachmittag im Kloster Jünkerath. Es ist Ferienzeit, deshalb ruhig. Sonst werden die 60er-Jahre-Bauten nicht nur von Mönchen, sondern auch von Schulklassen bevölkert. Die Jugendbildungsstätte Don Bosco ist bei Lehrern beliebt. In der Abgeschiedenheit der Eifel können die Schüler nicht so viele Dummheiten machen. Woll spielt mit ihnen Tischfußball, Billard und Uno. Es riecht nach Hagebuttentee. Die nächste Kneipe ist viele Kilometer entfernt, der Rückweg hinauf auf den Klosterberg beschwerlich.

Matthias Woll trägt einen schwarzen Pulli und Nadelstreifenhose. Er blickt seinen Gast freundlich an, auch wenn der ihn nach seinem Liebesleben fragt. Der 46-Jährige ist bereit zu antworten. Er will nicht mehr schweigen über die Liebe und den Zölibat. Für den Pater war der lange sein größtes Problem. Der Zölibat verbietet seit bald tausend Jahren allen Priestern und Mönchen den Bund der Ehe und damit sexuelle Kontakte. Aber der Wunsch nach Zärtlichkeit lässt sich nicht einfach abstellen. Auch nicht durch ein päpstliches Dogma. "Seit dem Priesterseminar war das Thema Liebe für mich mit Angst besetzt", sagt Woll. Seine Worte kommen nur zögerlich.

Bevor Woll nach Jünkerath kam, arbeitete er in einer Stadt im Ruhrgebiet als Jugendseelsorger. Auf einer Karnevalssitzung lernte er Petra (Name geändert) kennen, eine verheiratete Pflegerin Ende 30. Woll gefiel ihr Lächeln. "Ist bei Ihnen noch Platz?", fragte Woll in seiner Glitzerhose damals und setzte sich zur Frau im Katzenkostüm an den Tisch. Woll war Büttenredner. Er und Petra flirteten, tanzten die ganze Nacht, verabredeten sich. Beide besuchten einander einige Male, bis Woll an einem Vormittag seinen Mut zusammennahm und Petra in ihrem Wohnzimmer küsste. "Ich hatte Herzklopfen", sagt er. Woll erzählt davon, wie er die Zärtlichkeit genoss, wie die Gefühle für Petra stärker wurden. Und wie es ihm gefiel, dass sie ihn als liebenswürdig betrachtete. "Das erlebt man als Priester ja nicht so häufig", sagt er.

Er und Petra trafen einander dreimal wöchentlich, schrieben SMS. Jedes Mal, wenn er sie besuchte, nahm er einen anderen Weg. Mit jedem Treffen, mit jeder Berührung wuchs die Liebe - und das Schuldgefühl. "Irgendwann denkt man nach", sagt Woll. Er und Petra fragten sich, wie ein gemeinsames Leben aussehen könnte. Sie müsste sich scheiden lassen, er seinen Beruf aufgeben. "Das war zu viel", sagt Woll, "uns wurde klar, dass wir keine gemeinsame Zukunft haben. Keine haben dürfen." Innerhalb weniger Wochen durchlebte Woll einen Schnellkurs in Sachen Liebe. "Ich merkte, dass sie etwas Tolles ist", sagt er, "aber auch so schrecklich wehtun kann." Woll fühlte sich wie ein Betrüger. "Ich musste unehrlich sein, das hielt ich nicht mehr aus", erzählt er. Ein halbes Jahr nach der Karnevalssitzung, bei der alles begann, offenbarte sich Wahl seinen Eltern. Sie reagierten enttäuscht. Dann sprach er mit dem Provinzial seines Ordens. Der verzog sein Gesicht und schickte ihn nach Münsterschwarzach.

Für Menschen, die der Kirche und ihrem Regelwerk fernstehen, mag es erschreckend klingen, in eine Therapie zu müssen, sobald sie Schmetterlinge im Bauch spüren. Für Wunibald Müller ist es der Alltag. Zehn bis zwanzig Prozent seiner Gäste kommen ins Recollectio-Haus, weil sie den Zölibat nicht einhalten können. Um nachvollziehen zu können, wie schwer Wolls Schuldgefühle wogen, muss man sich anschauen, wie der Mann aus der Eifel aufgewachsen ist. Matthias Woll stammt aus einem frommen Elternhaus. Sein Weg zum Priesterberuf war kurz: Messdiener, Oberministrant, mit 17 Jahren Orientierungstage im Jünkerather Kloster. Bei der Abschlussmesse habe er im Altarraum geweint, so nah habe er sich Gott gefühlt, erzählt er. Er wollte Priester werden. Seine Eltern waren begeistert. Im Sommer 1998 legte sich Woll in der Basilika von Benediktbeuern bei Augsburg vor den Bischof auf den mit einem Teppich bedeckten Steinboden, schwor Gehorsam und Ehelosigkeit. Die Eltern schenkten ihm einen silberfarbenen Kelch. Der passe gut in seine Hände, sagt Woll. "Wenn ich ihn halte, gibt er mir Kraft. Ich fühle mich getragen. Als ob Jesus Christus dann bei mir wäre." An jenem Junitag 1998 dachte der angehende Pfarrer, das sei es. Er hatte seine Berufung gefunden. Die Probleme mit dem Zölibat kamen erst später.

Petra war nicht die erste Frau in seinem Leben, aber seine erste große Liebe. "Ich bin ein feinfühliger Mensch", sagt Woll, schweigt kurz, als würde er eine Antwort erwarten. Es ist zu spüren, wie wohl sich Woll dabei fühlt, offen reden zu können. In katholischen Kirchen und Klöstern herrscht eine Kultur des Runterschluckens. Unter Ordensbrüdern offen über sexuelle Sehnsüchte zu sprechen, bedeutet normalerweise das Ende der klerikalen Karriere. Dazu die Existenzängste. Viele Pfarrer mit Lebensgefährtinnen oder Lebensgefährten fragen sich, ob sie ihrer Liebe wegen beruflich wirklich wieder ganz von vorn anfangen wollen. Ob es sich lohnt, auf das weltliche Leben umzuschulen und am Ende womöglich in der Arbeitslosigkeit zu enden. All diese Gedanken, hinter Klostermauern tabuisiert, werden im Recollectio-Haus offen ausgesprochen.

Müller ist nicht nur Psychologe, er ist auch ein Mann der Kirche. Recollectio wird von acht Diözesen finanziert, von den Bistümern Augsburg, Freiburg, Limburg, Mainz, München-Freising, Rottenburg-Stuttgart, Würzburg und Paderborn. Wie verhält sich Müller den Zölibatbrechern gegenüber? Rät er ihnen zur Liebe oder zum Amt? "Wenn jemand zu einer Frau stehen möchte, werde ich ihn nicht abhalten. Es gibt auch keinen Druck von oben. Die Bischöfe und Personalvorstände wissen, dass es keinen Sinn hat, einen Menschen gegen seinen Willen im Priesteramt zu halten. Wichtig ist, dass der Priester sich klar für das eine oder andere entscheidet."

Auf dem Ökumenischen Kirchentag in München forderte Müller, dass auch verheiratete Männer und Frauen Priester werden dürfen. Für einen Mann, der von der katholischen Kirche bezahlt wird, sind das starke Worte. Münsterschwarzach ist von Rom weit weg. Als Woll, der verliebte Priester, hierher kam, versicherte Müller ihm, dass seine Gefühle natürlich seien. "Liebe ist ein Geschenk Gottes", lautete der Satz, der Woll bis heute in Erinnerung geblieben ist. In den Malkursen malte Woll seine Bilder in roter Farbe, nicht in Schwarz, wie die meisten der anderen Besucher des Hauses. "Erst im Recollectio-Haus habe ich gemerkt, dass das Thema Liebe nicht mit Angst besetzt sein muss", sagt Woll. Ihm gefiel die Freiheit, alles tun und denken zu dürfen. Nicht mal die Gottesdienste sind für die Gäste des Recollectio-Hauses Pflicht. Woll brachte innerhalb von sechs Wochen sein Leben zu Papier, auf 40 Seiten, wie er sagt. Und er lernte jemanden kennen, der es abermals verändern sollte.

Michael Stanke, 53, ist Protestant. Aber seine Probleme haben den Dorfpfarrer aus Wiesens in Ostfriesland zu den Katholiken geführt. Keine 30 Kilometer vom Recollectio-Haus entfernt betreibt die evangelische Kirche seit 18 Jahren eine ähnliche Einrichtung unter dem Namen "Respiratio". Dort dauern die Kurse nur sechs Wochen. "Das hätte mir nicht gereicht", sagt Michael Stanke. Stanke ist seit 17 Jahren Pfarrer in der Gemeinde Wiesens bei Aurich. Was für die Katholiken Oberbayern ist, ist Ostfriesland für die Protestanten. Im Ort ist er nach dem Bürgermeister unangefochten die Nummer zwei, noch vor dem größten Bauern und dem Vorsitzenden des Fußballvereins. Das gedrungene Pfarrhaus, in dem er mit Frau und drei Kindern lebt, ist wie ein Marktplatz für die 1400 Dorfbewohner. Er sitzt in seinem Büro in einem Korbsessel und knabbert an einer selbst gebackenen Waffel. Während des Gesprächs klingelt es achtmal an der Tür.

Stanke ist ein hagerer Mann mit grauem Bart und scheuem Blick. Ihn trieb vor allem eine spirituelle Krise ins Recollectio-Haus. Um zu verstehen, wie er Gott verloren hat, muss Stanke erzählen, wie er ihn einst fand.

Nach einem Unfall 1981 war Stanke eine Stunde lang klinisch tot. Er war 23 und als er erwachte, konnte er sich weder an seine Freundin erinnern noch an die Hebräisch-Vokabeln, die er im Theologiestudium gelernt hatte. "Meine Festplatte war gelöscht", sagt Stanke und klopft sich an die Stirn. Er wusste nichts mehr. Bis auf das Vaterunser. Stanke wertete dies als Zeichen. Als Zeichen von oben. Wegen des Unfalls vergisst Stanke noch heute Namen und Gesichter. Als Dorfpfarrer ist das ungünstig. "Ich erkenne manchmal Leute nicht, denen ich am Vortag noch zum Geburtstag gratuliert habe", sagt er. Die Leute im Ort redeten über ihn, bis sich der Kirchenvorstand beschwerte. Das verunsicherte ihn. Man muss sehen, wie seine Augen leuchten, wenn er davon berichtet, wie erfüllend eine gelungene Predigt sein kann, um zu verstehen, wie stark sich Stanke über seinen Beruf definiert. Er will ein guter Pfarrer sein. Aber wie misst man den Erfolg eines Pastors? Nach einer Predigt applaudiert keiner. In anderen Berufen läuft die Anerkennung über das Gehalt. In der evangelischen Kirche macht man es für "Gottes Lohn", wie Stanke es ausdrückt, plus eine Alimentation, zwischen 3110 und 4226 Euro im Monat.

Stanke dachte viel nach darüber, wie er ankam in der Gemeinde. Wahrscheinlich zu viel. Ein paar Mal schrieb er in die Geburtstagsrubrik des Gemeindebriefs den Namen einer verstorbenen Person. Die Dorfbewohner reagierten empört. "Solche Fehler machten mir zu schaffen", sagt Stanke und greift nach dem Regalbrett neben ihm, das während des Gesprächs so etwas wie seine Stütze ist, wenn er über Dinge spricht, die ihm nahegehen. Die Situation eskalierte im Herbst 2008, als er auf der Kanzel der kleinen Dorfkirche stand und sich fragte, was er da eigentlich noch solle. "Mir war Gott auf einmal fremd vorgekommen, als ob jemand die Verbindung zwischen ihm und mir gekappt hätte", sagt Stanke. Ihm habe es nie gereicht, nur seinen Job zu tun, meint er. "Ich hatte eine tiefe, enge Beziehung zu Gott. Und plötzlich sah ich, wie dieses Verhältnis zerbrochen ist. Das war eine Katastrophe für mich." Stankes Augen blitzen kurz auf. Ein Blick, der nichts für säkulare Gemüter ist.

Stanke rief bei Wunibald Müller an. Vier Monate später setzte er sich in seinen roten Opel Astra und fuhr neun Stunden nach Münsterschwarzach. Er sprach mit Pater Anselm Grün, der einige Bücher geschrieben und auch regelmäßig in Talkshows über Glück und Gelassenheit referiert. Als Cellerar leitet Grün die Finanzen des Münsterschwarzacher Benediktinerordens. Wenn er Zeit hat, spricht er mit den Priestern unter vier Augen. Im Gespräch mit Stanke zitierte Grün Bibelsprüche. Er habe ihm lange zugehört, erzählt der Pfarrer aus Ostfriesland, ehe er Stanke am Ende zwei Ratschläge gab.

Die Beziehung zwischen ihm und Gott sei nicht von Gott gekappt worden, hatte Grün gesagt. Nein, Gott wolle stets Kontakt zu ihm halten. Er, Stanke, sei es gewesen, der die Verbindung gelöst habe. Das war der erste Tipp. Der zweite lautete: "Ihr Ehrgeiz ist gut, aber es ist falsch, sich über die Arbeit zu definieren." Er sei nicht mehr oder weniger wert, wenn er besser oder schlechter arbeite. Gott denke nicht in solchen Kategorien.

Dieses Gespräch war Stankes erstes Damaskuserlebnis in Münsterschwarzach. Das zweite fand auf dem Sportplatz statt. Stanke war nie ein sportlicher Typ, erzählt er. "Nach fünf Minuten war ich außer Puste." In Schwarzach schaffte er es zum ersten Mal, 40 Minuten zu joggen. "Es kam mir wie ein Wunder vor. Über meinen Körper fand ich wieder Zugang zu meiner Seele." Der Dorfpfarrer fuhr nach Ostfriesland zurück. Er fühlte sich gesund. Seitdem joggt er einmal die Woche. Zwischen ihm und Gott sei wieder alles in Ordnung, sagt er. "Die Verbindung ist wieder hergestellt. Ich kann beten, finde Ruhe und Freude in Gott. Manchmal spüre ich sogar seine Nähe."

Vor einigen Monaten hat Stanke die Gemeinde in Ostfriesland verlassen und eine andere in Amelungsborn bei Holzminden übernommen. Die Hannoversche Landeskirche plant, im dortigen Kloster ein drittes deutsches Therapiezentrum für Geistliche aufbauen. Das katholische Recollectio- und das evangelische Respiratio-Haus werden dem Bedarf nicht mehr gerecht. Michael Stanke möchte in dem neuen Haus weitergeben, was ihm selbst geholfen hat. Deshalb ist er noch mal nach Münsterschwarzach gefahren. Zum 20. Geburtstag des Recollectio-Hauses hatte Wunibald Müller ein Symposium veranstaltet. Viele ehemalige Gäste kamen. Auf der Bühne diskutierten Kirchenvertreter über den Sinn der kirchlichen Grundordnung und des Zölibats. Stanke machte sich Notizen, nickte heftig und schüttelte manchmal mit dem Kopf. Es scheint, als hätte er eine neue Mission gefunden.

Dekan Hans-Joachim Wahl, der Priester aus Bad Nauheim, trug in den ersten Wochen nach seinem Aufenthalt im Recollectio-Haus in seinem Terminkalender feste Ruhezeiten ein. Stürmte ein Mitarbeiter auf ihn zu, um Fotos für die Lokalzeitung zu machen, sagte er: "Das hat später auch noch Zeit." Aber dann fiel Wahl in alte Muster zurück. "Mein Körper musste mich bremsen", sagt er. Erst fiel der Pfarrer vom Rad und prellte sich das Knie; dann brach er sich das Nasenbein; schließlich riss sein Kreuzband, als er über das Kopfsteinpflaster der Kirche stolperte. Die Verletzungen verstand Wahl als Warnung. Er suchte sich eine neue Pfarrei. Im September übernahm er eine Gemeinde in Gießen. Den Posten des Dekans gab er auf. "Schon seitdem die Sache sicher war, hat sich meine Pulsfrequenz beim Belastungs-EKG verbessert, meinte mein Arzt", sagt Wahl. Vor seinem Antritt in der neuen Pfarrei fuhr Wahl noch mal ins Recollectio-Haus, 30 Tage, "um den Fuß vor die Tür zu stellen". Weihnachten und Ostern sollten seine Belastungstests sein. Es sind oft die gefährlichsten Zeiten für überlastete Pfarrer. Fast täglich ist eine Messe zu lesen. Tagelang funktionieren und predigen und dabei auch noch feierlich dreinschauen. "Die Gemeinde unterstützt mich fantastisch und akzeptiert, wenn ich sagte, es geht nicht mehr. Ich hatte seit Jahren kein so stressfreies Weihnachten mehr", erzählt Wahl, der an den fünf Osterfeiertagen "nur sieben Messen" zu lesen hat. Seit er in Gießen ist, hat er zehn Kilogramm abgenommen.

Auch Priester Matthias Woll, der sich zwischen seinen Lieben nicht entscheiden konnte, hatte sich in Münsterschwarzach etwas vorgenommen. Er machte Schluss, brach den Kontakt zu seiner großen Liebe aus dem Ruhrgebiet ab und zog ins Kloster nach Jünkerath. Er habe sich erst mal aufs Neue für den Priesterberuf entschieden, hatte er Wunibald Müller im Recollectio-Haus gesagt. Aber das war nicht die ganze Wahrheit. Während seiner Zeit in Schwarzach hatte sich Woll in einen von Müllers Gästen verliebt. In Miriam (Name geändert), eine Nonne, die die Enge ihrer Schwesterngemeinschaft in einem bayrischen Kloster nicht mehr ausgehalten hatte. Während ihres gemeinsamen Aufenthalts am Main teilten beide das Gefühl, sich aus ihrer "Starre befreien" zu müssen. Das verband sie. "Wir lachten zusammen, schwiegen zusammen, weinten zusammen", sagt Woll, "und irgendwann waren wir auch zärtlich miteinander." Einige Monate nach Recollectio trafen Matthias und Miriam eine Entscheidung: Sie wollten Pause machen von ihren Berufen, die sie so liebten. So wie sie es in Münsterschwarzach gelernt hatten. "Höre auf dein Herz", hatte es dort geheißen, "handele ihm nicht zuwider."

Matthias und Miriam beantragten eine einjährige Beurlaubung, so wie sie jeder Geistliche beantragen kann. Woll zog vom Jünkerather Kloster nach München. Seine heutige Arbeit ist weltlich: Weil er einst Sozialpädagogik studiert hatte, muss er nicht wie andere ausgeschiedene Mönche von Sozialhilfe leben. Woll arbeitet in einem Kinderheim der Caritas, hilft Jugendlichen bei ihren Hausaufgaben, spielt mit ihnen Tischtennis. Miriam sieht er am Wochenende. Manchmal besucht er in einem Jesuitenorden sein altes Leben, redet mit Mönchen, betet. Dort sieht er, was er aufgegeben hat, wahrscheinlich für immer: den Platz hinterm Altar, das Spielen der Orgel, die trinkseligen Abende mit den Klosterbrüdern - sein Leben, wie er es 22 Jahre lang kannte. "Ich muss Trauerarbeit leisten", sagt er. Andererseits, seinem Blutdruck gehe es besser, abgenommen habe er auch. Ob er nach dem Sabbatjahr wieder zurückkehren möchte ins Priesteramt? Woll kippt den Kopf zur Seite, er könne es sich nicht vorstellen, sagt er. Er erzählt, wie schön der letzte Urlaub mit Miriam war. Fünf Tage Salzburg, spazieren, essen, lieben. Auch in der Kirche waren sie. Händchen haltend haben sie diese betreten, erzählt Woll. Früher hätte er das in keinem Gotteshaus der Welt gewagt. An jenem Tag in Salzburg aber habe er gespürt, wie schön es ist, seine Liebe zu zeigen. "Da hatte ich endlich Frieden im Kopf", sagt er.

http://www.welt.de/print/wams/debatte/a ... aefte.html

Benutzeravatar
Marc of Frankfurt
SW Analyst
SW Analyst
Beiträge: 14095
Registriert: 01.08.2006, 14:30
Ich bin: Keine Angabe

Communitas - Gemeinschaft

Beitrag von Marc of Frankfurt »

(Ich habe nur die von dir hervorgehobenen Stellen gelesen.)
In anderen Berufen läuft die Anerkennung über das Gehalt. In der evangelischen Kirche macht man es für "Gottes Lohn", wie Stanke es ausdrückt, plus eine Alimentation, zwischen 3.110 und 4.226 Euro im Monat.
In der Sexarbeit läuft es NUR über das Geld. Ein "GottesLohn" von 3-4 Tausend im Monat ist aber nicht schlecht ;-)





Was mir klar wird ist was es für einen großen Unterschied macht, wenn man für seine Arbeit eine starke Organisation und einen Mehrheitskonsens im Rücken hat. Da gibt es dann an jeder Ecke eine Rückzugsmöglichkeit oder Einrichtung zu der man gehört ...


Stellt euch vor es gäbe noch das Institut der Tempelprostitution, wo wie bei der Einrichtung des Sozialen Jahrs oder damals beim Wehr-/Zivildienst junge Menschen eine Zeit für die Allgemeinheit arbeiten z.B. in der ritualisierten Sexarbeit im heiligen Bordell im Tempelbezirk.

Dann bekäme die Sexarbeiterin, wenn Probleme auftauchen die ganze geballte Macht der Institution zu spüren in einem positiven Sinne. Sie könnte sich anvertrauen ohne Angst um Gesichtverlußt, sie würde betreut ohne sich vorher zwischen der Rolle Täter_in oder Opfer entscheiden zu müssen ...

Benutzeravatar
Ariane
PlatinStern
PlatinStern
Beiträge: 1330
Registriert: 14.03.2008, 12:01
Wohnort: Berlin
Ich bin: ehemalige SexarbeiterIn

Re: Communitas - Gemeinschaft

Beitrag von Ariane »

Es wird üblicherweise auch weiter alimentiert, wenn man gegen das Zölibat verstösst und das Amt niederlegt. Vergleichbar mit der Vollversorgung von Bundespräsidenten aka Wulff. :005 Bis zum Lebensende.

Ich könnte mir vorstellen, dass in diesem Pool an Zweiflern - also aus Annaingas Beitrag - eine nachholende Sexualaufklärung bitter notwendig ist und erfahrene und sensible Sexworker hier sicherlich hilfreich zur Seite stehen könnten. Sex ist gut gegen Depressionen, Annahme und Beistand von einer bzw. einem zärtlichen und einfühlsamen Sexworker. Auch bei uns gilt das Beichtgeheimnis im Rahmen des Diskretions-Gebots. Dies meine ich jetzt ganz ohne Ironie.
love people, use things - not the other way round

Benutzeravatar
Lycisca
ModeratorIn
ModeratorIn
Beiträge: 1242
Registriert: 17.03.2007, 15:18
Wohnort: Umgebung Wien
Ich bin: Keine Angabe

Re: Communitas - Gemeinschaft

Beitrag von Lycisca »

Marc of Frankfurt hat geschrieben:Stellt euch vor es gäbe noch das Institut der Tempelprostitution[...] Dann bekäme die Sexarbeiterin, wenn Probleme auftauchen die ganze geballte Macht der Institution zu spüren in einem positiven Sinne.
Wenn ich mir überlege, welche Individualisten die SW von diesem Forum sind, glaube ich nicht, dass wir uns, gäbe es Tempelprostitution, mit der Institution "Tempel" anfreunden könnten. An der Spitze wäre nämlich irgendeine vom Staat/Bürgermeister ernannte "Prinzessin" (historisch war etwa eine Tochter Hammurabis Tempelvorsteherin), die ihren eigenen Klüngel um sich schart, der alle Vorteile des Tempels genießt und den anderen im Tempel sagt, wo es langgeht ... nur wenige von uns wären wohl bereit, sich dort unterzuordnen. Wir wären dann wohl Dissidenten, die (als religöse Abweichler) genau die gleichen Schwierigkeiten mit den Behörden und der Polizei hätten (Religionspolizei statt Sittenpolizei), wie viele von uns heute.